Das große USA-Interview mit Dominik Schwarzenberger I: Bürgerkriegsland USA?

von | 20. Jun. 2022 | Im Gespräch

Dominik Schwarzenberger ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er forscht auf den Gebieten der Ethnologie, Religionswissenschaft und zu allgemeinen Identitätsfragen, was ihn zu einem ausgewiesenen Analysten zu geopolitischen Aspekten macht. Aufgrund seiner diversifizierten Studienausrichtungen berät er zudem internationale Denkfabriken. Seine Analysen wurden in zahlreichen Magazinen und Zeitschriften, so z.B. Neue Ordnung, Hier & Jetzt und AGORA EUROPA, veröffentlicht. Des Weiteren erschienen mehrere Veröffentlichungen im Jungen Forum. Zu seinen Buchveröffentlichen gehören „Paneuropa und totaler Mensch. Das politische Denken Richard Coudenhove-Kalergis“ (Archiv der Zeit 2008) sowie „Terra Incognita – Das andere Amerika. Identitäre Strömungen und Bestrebungen in Lateinamerika“ (Regin 2009) zusammen mit Wolfgang Bendel.

Nachfolgend veröffentlichen wir ein Gespräch zwischen ihm und Peter Steinborn. Das Gespräch ist in zwei Teilen untergliedert. Hier erfolgt die Veröffentlichung des Teil I. Die Redaktion

P.S.: Sehr geehrter Herr Schwarzenberger, ich freue mich, dass Sie wieder für ein Interview Zeit gefunden haben. Nach dem letzten großen China-Interview ist einiges auf dem geopolitischen Schachbrett geschehen. Karten werden neu gemischt. Es zeichnen sich massive Verwerfungen ab und eine neue weltpolitische Ordnung kündigt sich an. Heute wollen wir uns mit den USA, die bis heute als unangefochtene Weltmacht fungieren, befassen.

Wie immer möchte ich zunächst Fragen nach der Identität stellen. Dadurch erhalten wir einen ersten guten Einblick in die Thematik. Damit haben wir die Grundlage für weitere Betrachtungen aus der Vogelperspektive.

Die heutige USA ist von europäischen Siedlern gegründet worden. So mancher europäische Ethnostaatler (siehe z. B. Johannes Scharf oder Guillaume Faye) sieht im US-amerikanischen „Volk“ ein Brudervolk. Kulturell und politisch allerdings sind die USA jedoch so ziemlich von Europa emanzipiert. Geopolitisch sogar tonangebend. Inwieweit unterscheiden sich die USA von ihrem europäischen Pendant? Welche sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Bruchlinien zu Europa?

D.S.: Den fundamentalen Bruch sehe ich im amerikanischen „Exzeptionalismus“: dieser postuliert eine Sonderstellung unter allen Staaten. Die USA sind eine jungfräuliche Geburt: die Gründerväter strebten den absoluten Neustart ohne historische Vorfahren an. Das wurde lange nicht von allen Siedlern so geteilt, die sich trotz alledem in britischer Tradition begriffen. Ich kenne sonst kein anderes Nationsmodell, das auf staatliche Kontinuität verzichtet. Die lateinamerikanische Staatenwelt beschwor entweder das Europäische oder das Indianische als Nationsmythos, die USA dagegen betrachteten sich als von allem historischen Ballast losgelöst und sahen ihr Land als eine Art neuen Planeten – deshalb spielte das Indianische nie eine Rolle, es störte nur.

Das Gründungsmotiv, das den Exzeptionalismus bedingt, ist ebenso einzigartig wegen seines Doppelcharakters: religiös wie liberal-demokratisch. Zur Gründerzeit passte das noch zusammen, weil egalitär, republikanisch und universell. Beide in Europa verfolgten Vertreter teilten die erwähnte Sehnsucht nach absolutem Neuanfang. Die Verfassung wurde dann doppelt als liberal-aufklärerisch sowie von Gott inspiriert interpretiert.

Alle anderen vermeintlichen Besonderheiten wie Auserwähltheitsdenken, missionarischer Eifer und Expansionsdrang sehe ich nicht als typisch US-amerikanisch. Das findet man auch bei anderen Nationen. Besonders die Analogie zu Russland ist verblüffend: Die Weite des Raums und das Ignorieren von autochthonen Völkern zwangen zur ständigen Expansion. Der Nationalmythos burischer Südafrikaner weist eine weitere Parallele auf: Auch sie streben das neue Zion an.

Die US-amerikanische Nationsidee fußt in Zeiten der Säkularisierung nur noch auf dem liberalen Fundament, das immer mehr erodiert. Das religiöse, kulturelle, sprachliche und rassische Fundament (weiß, angelsächsisch, protestantisch) wurde schon längst aufgegeben. So kann keine Nation überleben.

P.S.: Was ist das typisch Amerikanische? Der Pioniergeist?

D.S.: Das Bewusstsein der historischen Unbelastetheit sehe ich als typisch an, nicht vom verdorbenen europäischen Virus infiziert zu sein. Allerdings scheint da ein Minderwertigkeitskomplex zu erwachsen. Die protestantischen Puritaner identifizierten sich immerhin mit dem frühen noch wandernden Volk Israel, benannten ihre Städte nach alttestamentarischen Vorbildern.

Der Pionier- und Unternehmensgeist ist nicht von der Hand zu weisen, aber auch da waren nur Teile der Einwanderer erfasst, obwohl das ja eigentlich in der Natur von Auswanderern liegt. Für Millionen Neuankömmlinge im vermeintlichen „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ kam bald die Ernüchterung und sie verharrten in Apathie in den Großstädten. Für die frühen Pioniere der Ostküste und die Siedler der Westexpansion trifft die gängige Beschreibung zu. Die Eigenheit, dem Staat zu misstrauen und das Leben eigenverantwortlich zu meistern, resultiert wohl aus dem Umstand, dass die Besiedlung in Eigenregie ohne staatliche Unterstützung erfolgte, d. h. die Siedler sorgten für Bodenerschließung, Verwaltung, Sicherheit, Infrastruktur und Versorgung – alles hoheitliche Aufgaben. Es stimmt: In Amerika ist alles erlaubt, was nicht verboten ist – bei uns ist alles verboten, was nicht erlaubt ist.

Den typischen Amerikaner kann es nicht geben, da die USA aus unterschiedlichen Naturräumen und Rassen bestehen, die entsprechende Mentalitäten bedingten. Der amerikanische Typus konnte sich aufgrund der rassisch und religiös wechselnden Zuwanderung nie ausbilden, er bleibt unfertig.

P.S.: Wie gestalten sich die religiösen Verhältnisse?

D.S.: Das Land ist genauso zwischen Religiösen und Säkularen polarisiert wie andere auch. Es wachsen die streng Religiösen genauso wie die Atheisten und Gleichgültigen, die Zwischenschattierungen schwinden. Die Religionen korrelieren weitgehend – bis auf die Katholiken – mit den Rassen und einigen Bundesstaaten.

*Das Lager der strengen Evangelikalen stagniert, ist aber immer noch sehr einflussreich und mehrheitlich rechtskonservativ. Besonders Weiße bekennen sich dazu, sind organisatorisch stark zersplittert und tendieren zur Republikanischen Partei.

*Die traditionellen protestantischen Konfessionen fußen auf Weißen und Schwarzen, wobei die weißen Gemeinden stark schrumpfen. Liberalere Positionen sind vorherrschend, bei Schwarzen auch sozialdemokratische.

*Die Katholiken bestanden ursprünglich aus europäischen Einwandern (v. a. Iren, Polen, Italiener) und tendierten aufgrund ihrer sozialen Marginalisierung zu Ideen der linken Mitte. Sie bekannten sich zur Demokratischen Partei. Mit dem massiven Zuwachs der Latinos wächst die Katholische Kirche rasant an. Dank ebendieser Latinos kam es zu einem Rechtsruck im Katholizismus und die Republikaner werden zunehmend interessant.

*Die Mormonen sind eine US-Besonderheit, sie wachsen aufgrund großer Missionierungsanstrengungen und hoher Geburtenzahlen besonders schnell. Ich bezeichne sie als die heimliche US-Nationalreligion, da sie theologisch auf Nordamerika zugeschnitten sind. Die Mormonen fußen auf den Weißen und zeigen sich besonders konservativ, werden von anderen Christen abgelehnt. Ihr Einfluss ist aufgrund ihrer Geschäftstüchtigkeit erheblich und mit dem Staat Utah besitzen sie ein eigenes Territorium, das sie prägen.

*Die USA beherbergen die zweitgrößte oder sogar die größte jüdische Gemeinde der Erde. Es sind mehrheitlich europäischstämmige Aschkenasim, die sich theologisch und politisch stark unterscheiden. Die Strengreligiösen nehmen aufgrund hoher Geburtenraten erheblich zu, während die Säkularen und liberalen Reformjuden zu interreligiösen Mischehen neigen und sich verringern. Wie in der gesamten Diaspora finden sich Zionisten wie Antizionisten, wobei die Zionisten in den christlichen Zionisten (meist Evangelikale) treue Verbündete finden, um die US-Außenpolitik zu beeinflussen. Genau wie in Lateinamerika findet sich der Antisemitismus unter allen Rassen.

*Die muslimische Minderheit ist dreifach gespalten: Es gibt die alteingesessenen gemäßigten unauffälligen Muslime aus dem Osmanischen Reich, die sehr kleine Gruppe alteingesessener schwarzer Muslime, die in Teilen den Charakter einer rassistischen Ethnoreligion („Black Muslims“) annehmen, und es gibt die neu eingewanderten Muslime, die tendenziell Parallelgesellschaften ausbilden. Der 11. September brachte ein Klima des Misstrauens mit sich. Letztere Muslim-Gruppe weist Radikalisierungstendenzen auf.

*Buddhisten und Hindus haben ihre eigenen Strukturen, verhalten sich unauffällig und konform.

P.S.: Die USA wird aus europäischer Sicht wie ein ethnisch-kultureller „Melting Pott“ betrachtet. Es ist schwierig, eine Aussage darüber zu treffen, was oder wer denn ein wirklicher US-Amerikaner ist. Mit Barack Obama ist diese zumindest ethnische Vermischung plastisch anschaubar geworden. Ist der US-Amerikaner überhaupt noch ein Europäer im ethnischen Sinne?

D.S.: Nein, früher ja, da die wenigen Nichtweißen am Rande der Gesellschaft ohne Gestaltungsmöglichkeiten standen. Mit deren Zunahme änderte sich das ethnographische Bild erheblich. Einen Schmelztiegel haben wir heute weder rassisch noch kulturell: Die interrassischen Beziehungen sind sehr mäßig, gleichwohl Mischehen und multirassische Identitäten deutlich zunehmen, insgesamt aber immer noch auf einem niedrigen Niveau sind. Kulturell begeistert der amerikanische Mythos nur einen Teil der nichtweißen Einwanderer. Vor allem Muslime und manche Asiaten bilden sprachlich-kulturelle Parallelgesellschaften und wollen den Weg „vom Tellerwäscher zum Millionär“ unter ihresgleichen meistern. Andererseits integriert sich das Gros der Asiaten und ozeanischer Einwanderer recht schnell.

Die Rassenfrage gestaltet sich komplex und wird von Linken und Liberalen ignoriert oder instrumentalisiert. Es ist schon schwierig, Rassen einwandfrei zu klassifizieren: Wer gehört zu welcher Rasse? Zu den „Kaukasiern“ werden die Europäischstämmigen genauso gezählt wie die Einwanderer aus Nordafrika und Westasien. Allerdings variieren gerade die mediterranen Völker, Juden als Ethnoreligion und die multirassische Sprachgemeinschaft der Araber wie auch Iraner erheblich. Trotz aller Beteuerungen waren die USA rassistisch und De-facto am Ideal des Weißen orientiert – mit einer sehr engen Auslegung: Was nicht rein weiß ist, ist schwarz (so der Mischling Obama), während etwa für Brasilien das Gegenteil galt: was nicht ganz schwarz ist, ist schon weiß (so wiederum Obama).

Das Bild des US-Amerikaners hatte sich immer verschoben und erweitert, bis in unsere Tage der Beliebigkeiten. Das konnte auch gar nicht anders sein, da die Einwanderungswellen immer neue Volksgruppen brachten. Der anglo-keltische Charakter ging schon Anfang des 19. Jahrhunderts verloren, es gab nativistische Bestrebungen gegen die Masseneinwanderung von Deutschen, dann Italienern, Chinesen usw. Die fremdenfeindliche Abwehr resultierte wechselnd aus rassischen, sozialen, religiösen und eugenischen Gründen. Die USA erfanden sich immer neu. Von einer amerikanischen Nation können wir erst ab 1918 sprechen, als systematisch im Zuge des Ersten Weltkriegs assimiliert wurde, vorher glichen die USA lateinamerikanischen Staaten, wo Nation nur Angelegenheit einer bestimmten Schicht war.

P.S.: Wie sieht denn die rassische Situation heute aus?

D.S.:

*Die Weißen wurden von 1914 bis 1945 erst zu Weißen, davor war das völkische Bewusstsein je nach Ethnie noch lebendig. Die beiden Weltkriege mit ihrer Betonung des Amerikanischen und dem Kampf gegen alles Deutsche und dann auch Italienische löschten vorübergehend die alten Einzelbewusstseins aus und schuf ein weißrassisches Bewusstsein, das damals noch mit dem gesamtamerikanischen korrelierte. Durch den weißen Geburtenschwund fühlen sich die Weißen bedroht und es kommt tendenziell zu Segregationsbewegungen (White Flight). Ein rein weißer Staat als Alternative stellt aber noch die Ausnahme dar. Parallel zum rassisch-identitären Bewusstsein lässt sich eine völkische Renaissance feststellen, die je nach Abstammung unterschiedlich stark verläuft. Selbst bei den angeblich so assimilierten Deutschstämmigen tut sich etwas. Iren, Polen, Griechen, Engländer, Ukrainer waren z. B. weit weniger von Mischehen betroffen. Das völkische Prinzip wird sich aufgrund des Vermischungsgrades unter den Weißen aber nicht mehr vollständig durchsetzen.

*Die Schwarzen sind vom rassischen Bewusstsein besonders erfasst – und zwar weil sie auf ihre Rasse von den Weißen erst reduziert wurden. Dennoch strebt momentan nur eine kleine Minderheit einen schwarzen Staat an. Die Schwarzen siedeln vor allem in den Südstaaten, im ehemaligen Industriegürtel der Großen Seen und im Nordosten mit New York. Ein eigener Staat käme nur im Süden in Betracht, wo sie aber auch nicht kompakt siedeln. Das schwarze Bevölkerungswachstum ist übrigens auch nur mäßig.

*Die Indianer stehen jenseits der Gesellschaft und haben sich in ihrem Bestand überraschend regeneriert.

*Die Latinos oder Hispanics werden von den Weißen völlig überbewertet. Sie sind gar keine Rasse, sondern eine Sprachgemeinschaft und mit dem katholischen Bekenntnis auch eine religiös homogene Gruppe. Alle Rassetypen sind vertreten. Konsequenterweise wurden immer auch die spanischsprachigen und katholischen Philippinos dazu gezählt, die sich nun im Lager der Asiaten wiederfinden. Es gibt in Teilen ein Latino-Bewusstsein, genauso aber ein weißrassisches, ein US-amerikanisches und völkisches. Puerto-Ricaner und Kubaner sondern sich besonders gern ab. Geopolitisch wünscht folglich auch nur ein Teil den Anschluss an Mexiko, das gilt sogar für mexikanische Einwanderer („Chicanos“) als mit Abstand größte Gruppe. Die „Nation of Aztlán“ als neuer Latino-Staat im Südwesten ist eine weitere Forderung, die nur mäßig Anhänger findet.

*Die Asiaten, zu denen Iraner und Araber nicht gezählt werden, sind rassisch, religiös und kulturell am vielgestaltigsten. Meist sehr gut in Wirtschaft und Universitätsbetrieb integriert, aber politisch und administrativ marginalisiert, streben nur Politsekten nach eigenen Staaten.

*Die Juden als Ethnoreligion gehören meistens zu den europäischstämmigen Aschkenasim und sind überproportional im Finanzsektor, Politik, Medienkomplex und Kultur (Hollywood) vertreten. Die jüdische Lobby, die sich etwa zugunsten Israels einsetzt, mag besonders einflussreich sein, aber es gibt auch andere ethnische und religiöse pressure groups, die gern übersehen werden. Politiker aller Couleur nutzen umgekehrt auch die gut organisierten, aber stark gespaltenen Juden.

P.S.: Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen den Rassen?

D.S.: Der Rassefrieden war immer wieder gestört und folglich häufig Thema der Politik, heute allerdings sehe ich das Klima irreversibel vergiftet. Rassenmischung nimmt leicht zu genauso wie mehr oder weniger freiwillige Rassensegregation. Rasse gleich Klasse wie so häufig in Lateinamerika trifft es inzwischen nicht mehr ganz. Überproportional viele Schwarze und Latinos stehen sozial unten, aber umgekehrt nicht die Weißen oben. Man findet die Weißen mittlerweile überall, während wie erwähnt Asiaten überproportional sozial aufsteigen, politisch jedoch marginalisiert bleiben. Schwarze wie hispanische Mittelständler sind auch keine so seltene Erscheinung mehr. Insgesamt können wir eine alle Rassen umfassende Verarmung feststellen.

Die zwischenrassischen Konfliktlinien sind bemerkenswert, widerlegen sie doch linke wie rechte Narrative: Weiß gegen nichtweiß gibt es sehr selten, eher schon schwarz gegen nichtschwarz. Es werden sich noch interessante Konstellationen zugunsten der Weißen ergeben. Besonders die sozial erfolgreichen Asiaten werden zum Hassobjekt der Schwarzen.

Weiße Rassisten in den USA sehen Rassechaos und Vermischung. Tatsächlich unterscheiden sich die Bundesstaaten erheblich voneinander, es gibt homogene und gemischte, wobei die gemischten selten das gesamte Spektrum umfassen. Ausnahmen sind Kalifornien und New York City, aber auch da gibt es homogene Bereiche.

P.S.: Welche Konsequenzen könnte der rassische Wandel Ihrer Ansicht nach haben – innenpolitisch wie außenpolitisch?

D.S.: Das hat gravierende Auswirkungen: Die Nichtweißen – bis auf die gar nicht so kleine Gruppe an kulturell Assimilierten aller Rassen –, haben keinen Bezug zum Gründungsmythos, weder zum liberalen noch zum religiösen! Der Auserwähltheitsgedanke fehlt folglich. Außerdem wird die amerikanische Identität immer beliebiger interpretiert bis sie keine Bindungskraft – der soziale Kitt – mehr ausprägt. Innenpolitisch profitiert die Demokratische Partei, weil diese einen emanzipatorischen Kurs für Nichtweiße fährt und sich eher für sozial Benachteiligte einsetzt. Zudem kann sie immer noch die katholische Bevölkerung kanalisieren. Das steht gegen ihre Wertepolitik in Sachen Abtreibung, Familie und Todesstrafe. Solche sehr konservativen Themen, eigentlich eine Domäne der Republikaner, sind bei den Nichtweißen besonders gefragt. Außenpolitisch korreliert die rassische Veränderung interessanterweise mit dem globalen geopolitischen Trend: dem Bedeutungsverlust Europas. Das Interesse an Europa und auch dem Nahen Osten lässt nach, da man speziell das Engagement für Israel nicht mehr rechtfertigen kann. Die Latinos blicken nach Süden und die Asiaten auf ihre Herkunftsregionen. Von weißen Rassisten werden Juden gern als antiweiße Aufwiegler denunziert, da sie unter Bürgerrechtsaktivisten und Linken besonders stark vertreten waren, aber mit Zunahme der Nichtweißen wächst auch der Antisemitismus und das Desinteresse für Israel.

P.S.: In 2017 lebten mehr als 80 Prozent der US-Amerikaner in Städten oder Vorstädten (in den EU-27 sind es weniger als 75 Prozent in 2020 gewesen). Der Verstädterungstrend geht weiter. Um 1900 lebten ca. 75 Mio. Menschen dort. In 2026 werden es voraussichtlich fast 335 Mio. sein. Auch hier gab es eine Zahlenexplosion, wenn auch mit abnehmendem Trend. Wie wirkt sich das Ihrer Meinung nach auf die amerikanischen Identitäten aus?

D.S.: Die USA liegen im Trend, denn Urbanisierung mit zunehmenden Megastädten (vor allem außerhalb Europas) sind inzwischen die Regel – und auch deren desaströse Folgen: die Auflösung traditioneller Bindungen, Geburtenrückgang und die Erschütterung identitärer Gewissheiten beschleunigen sich. In dieses Vakuum stoßen dann neue Identitäten, nämlich die bereits erwähnten: rassisch, völkisch und territorial. Die Polarisierung nimmt durch die Urbanisierung weiter zu: Zentrum – Peripherie, Stadt – Land, religiös – säkular, nativistisch – kosmopolitisch, traditional – liberal.

Bemerkenswert ist, dass die Rassen unterschiedlich stark von Verstädterung betroffen sind: Weiße, Schwarze und Indianer am stärksten noch ländlich, asiatisch und hispanisch überproportional städtisch. Die Juden als Ethnoreligion klar urban.

P.S.: Spielen die Indianer noch eine Rolle in der Gesellschaft? Wie sehen Sie deren Zukunft auf Hinblick der US-amerikanischen Gesellschaft?

D.S.: Die Indianer spielen gar keine Rolle. Sie stehen immer noch abseits der Gesellschaft, entweder in Reservaten, als Subproletariat in den Städten oder assimiliert. Amerika scheint hinter vorgehaltener Hand ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Ureinwohnern zu haben und fürchtet die Konsequenzen.

Auch von den anderen nichtweißen Rassen werden die Indianer gekonnt ignoriert, gleichwohl es in den späten 1960ern erfolglose Versuche eines „Farbigen Blocks“ gab. Wir dürfen nicht vergessen, dass ja auch die anderen Nichtweißen Raumfremde sind.

Die Indianer sind zerstritten und organisieren sich halbherzig als Indianer, eher noch völkisch und tribal. Die kulturellen Unterschiede zwischen ihnen sind riesengroß, man beachte das gigantische Nordamerika. Den Indianer gibt es nämlich genauso wenig wie den Europäer. Die „American Indian Movement“ und radikalere Ableger unterhalten sporadische Verbindungen zu rassischen Separatisten, was nur konsequent ist, geopolitisch steht es jedoch schlecht um die Indianer: Was sollte ihr künftiges Vaterland sein? Die Reservate liegen weit auseinander verteilt und wirtschaftlich ohne Potenzial. Ich vermute, die Indianer werden sich am ehesten den Weißen als geringstes Übel anschließen, was auch geopolitisch Sinn macht. Die assimilierten Indianer sind schon jetzt pro weiß.

P.S.: Der Gründungsmythos der USA liegt tief in der Europäischen Aufklärung verwurzelt. Im Gegensatz zu europäischen Gesellschaften beruht die nationale Geschichte der USA von Anfang an auf der Idee einer „freien Republik“. Die Bill of Rights dienen heute als Vorbild einer modernen Staatsidee für die westlichen Demokratien schlechthin. Spielen monarchische oder genuin rechte Staatsideen überhaupt eine Rolle in den Vereinigten Staaten?

D.S.: Die religiöse Wurzel des Gründungsmythos liegt gerade nicht in der Aufklärung, nur der liberal-rationale mit dem Kult um die Menschenrechte.

Was ist genuin rechts? Als rechts kann man den Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip bewerten, vielleicht auch noch das ursprüngliche städtische Patriziertum und den halbadligen Großgrundbesitz der Südstaaten. Eine echte Aristokratie hat es nie gegeben. Des Weiteren sind theokratische Gedanken mancher Religiöser gegen Volkssouveränität klar rechts.

Von der aktuellen politischen Rechten kommen kaum echte rechte Forderungen, alles dreht sich um Rasse, was gerade nicht rechts ist. Eine Ausnahme sehe ich in manchen Katholischen Integralisten, Mormonen, Evangelikalen, Muslimen und Teilen der sehr heterogenen Milizbewegung, denn diese vertreten ein archaisches Modell der County-Nation, ähnlich dem Schweizer Kantonssystem mit Gottesherrschaft und traditionalen Werten. Im Grunde besteht das Gros der nichtfaschistischen Rechten aus Verfassungsfundamentalisten, die die Verfassung vor dem zentralistischen, etatistischen und kosmopolitischen Washington bewahren wollen. Häufig gilt die Verfassung als von Gott inspiriert, weshalb da schon wieder ein theokratischer Zug verborgen liegt. Alles Ansichtssache.

Bis auf folkloristische Spinner gibt es keine monarchistischen Forderungen, es fehlt an Anknüpfungspunkten – mit einer Ausnahme: Hawaii, aber das betrifft ja nur diesen Staat.

P.S.: Die amerikanische Verfassung dient, wie eben schon angedeutet, heute als Vorbild für viele westeuropäische Nationen. Im Gegensatz zu den europäischen Nationalgeschichten sind die USA nie feudal oder aristokratisch im archaischen Sinne gewesen. Insbesondere in Deutschland fällt diese Divergenz auf. Während in den USA der Individualismus zum Selbstbild zu gehören scheint, spielt der Staat und das Kollektiv in dem alten Reichsvolk nach wie vor eine prägende Rolle. Ist diese amerikanische Weltanschauung überhaupt auf europäische Völker exportierbar?

D.S.: Die US-Verfassung als liberalistischer Ausdruck mag als Vorbild für Westeuropa dienen, der Inhalt gerade nicht. Dort finden sich antietatistische und antizentralistische Forderungen und das Recht auf Waffenbesitz. Die Verfassung spiegelt eine strukturschwache großräumige Situation des späten 18. Jahrhunderts wider. Das passt gar nicht zu Westeuropa.

Wie schon gesagt, sind die US-Amerikaner gar nicht so einzigartig. Deren Individualismus relativiert sich auch, da kleine Kollektive eine große Rolle spielten: Familie, Klan, Siedlergemeinschaften, Logen, Konfessionsgemeinschaften usw. Dieser Pseudoindividualismus erinnert mich an Großbritannien, Norwegen, Niederlande, Australien, das burische Südafrika, Spanien, Italien, Griechenland und natürlich die Schweiz.

Den amerikanischen Typen gibt es nicht, nur ein Teil der US-Amerikaner entspricht dem Pionier und Selfmademan. Nur ein Teil spielt lieber Monopoly statt Mensch-ärgere-Dich-nicht. Es gab auch immer eine wirkungsmächtige sozialistische und genossenschaftliche Bewegung, die aufgrund des Wohlstands der späten 1940er marginalisiert wurde.

P.S.: Die Geopolitik der USA ist seit jeher stark von einem Auserwähltheitsgedanken beseelt. Die Truman-Doktrin wurde unter Trump allerdings zumindest in Teilen aufgehoben. Dieser postulierte ein Raushalten aus nichtamerikanischen Verhältnissen. Ähnlich wie es Präsident James Monroe verordnet hatte. Ist die Manifest-Destiny sowie der damit einhergehende Exzeptionalismus bzw. das Expansionsstreben der USA vorbei?

D.S.: Das Auserwähltheitsdenken bleibt als zentrales Identitätsmerkmal bestehen, die Motive ändern sich. Ich glaube, das Expansionsstreben ist erst dann gesättigt, wenn das fremdartige – ja unheimliche – Kanada geschluckt ist, was ich für möglich halte, weil sich Kanada selbst in Frage stellt.

Es hat immer isolationistische Strömungen von Links bis Rechts gegeben, die regelmäßig auch die Hegemonie erlangten. Ich erinnere an den Medienmogul William Hearst, der das Land aus dem Ersten Weltkrieg heraushalten wollte und später vorübergehend Sympathien für Mussolini und Hitler zeigte.

Trump ist unberechenbar und einen Trumpismus gibt es nicht. Er ist wie das Wetter und auf seinen Vorteil bedacht.

P.S.: Neben der rassischen Durchmischung der Gesellschaft geht die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Zudem kommen ständig Naturkatastrophen hinzu. Die Energiepolitik unter der Biden-Administration baut auf Abhängigkeit vom Ausland – was Trump versuchte rückgängig zu machen. Der „Sturm auf das Kapitol“ in 2021 zeigte, wie brüchig die amerikanische Gesellschaft mittlerweile ist. Nun kommt auch noch der endgültige (?) Bruch mit Russland, der die Energiepreise und damit die Inflation noch weiter steigen lässt. Ist der Bürgerkrieg – wie ihn z. B. Stephen Marche in seinem neusten Buch „The Next Civil War: Dispaches from the American Future“ prophezeit – noch aufzuhalten?

D.S.: Nein! Allerdings wird es keinen Bürgerkrieg à la Nord-Süd geben. Es existieren keine klaren Fronten, sondern zu viel aufgestaute Antagonismen brechen sich plötzlich Bahn: Zentrum – Peripherie, arm – reich, Stadt – Land, Rasse gegen Rasse und die häufigen Kombinationen dieser Pole. Meine Ausführungen zu Chinas Staatszerfall sehe ich auch hier (siehe dazu hier, hier und hier). Die unversöhnliche Polarisierung zwischen den Identitäten und Wertevorstellungen sind zu fortgeschritten. Kein Präsident wird das mildern können. Trump als Staatsnationalist kam um Jahrzehnte zu spät und hat sie noch verschärft, so wie Biden sie umgekehrt ebenso befeuert.

P.S.: Kommen wir noch einmal zur Aufklärung zurück. Gibt es aus Ihrer Sicht eine genuin amerikanische Aufklärung, die sich von der europäischen unterscheidet? Wenn ja, wo sehen Sie die Bruchlinien?

D.S.: Ich sehe keinen Unterschied zu Europa, wobei in den USA das französische Modell dominierte. Anders als in Frankreich gab es aber keine revolutionären Exzesse, keinen Robespierre, die diskreditierend wirkten, deshalb fehlt im Unterschied zu Europa eine restaurative Phase. Die antiaufklärerische Reaktion finden sich in den Wellen christlich-protestantischer Erweckungsbewegungen sowie im verbreiteten Okkultismus und Spiritismus.

P.S.: Die USA haben ja im Vergleich zu den europäischen Staaten eine recht junge Geschichte. Viele Deutsche würden den USA sogar absprechen, dass sie tatsächlich eine Nation darstellen. Man kann jedoch nicht leugnen, dass „We the People“ keine hohle Phrase ist und der Amerikaner einen starken Patriotismus empfindet. Was für ein Nationsverständnis haben die USA und ist diese mit der der Franzosen oder anderer europäischer Völker vergleichbar?

D.S.: Das deutsche Nationsmodell taugt eben nur für einen kleinen Teil der Völker. Die Formel in der Reihenfolge Volk – Nation – Staat passt natürlich nicht zu den Amerikanern. Für mich ist eine Nation ein Fahrzeug, ein Bewusstseinszustand, mit dem ein, mehrere oder Teile von Völkern durch die Wirren der Geschichte steuern. Nationen sind nicht statisch und können gewählt werden. Das bisher dominierende Nationsverständnis war ein territoriales, wie es für die ehemals spanischen Kolonien Lateinamerikas typisch ist. Für die Franzosen gilt ein historisch-etatistisches Nationalbewusstsein, also eine geschichtsträchtige relative Staatlichkeit als Fundament, das es in den USA selbstverständlich nicht geben konnte. Die US-amerikanische Variante ist aber auch nicht so selten, man findet sie häufig bei unzufriedenen Regionen, die nach immer mehr Autonomie bis Sezession streben. Vielleicht wird die multiethnische Vojvodina Serbiens einmal eine solche Nation auf rein territorialer Grundlage. Den territorial-identitären Charakter finden wir auch im starken Bewusstsein einiger Bundesstaaten, die in Konkurrenz zum Einheitsstaat steht. Heute ist das Nationalbewusstsein stark erschüttert.

P.S.: In Deutschland genießt Donald Trump große Sympathie unter Querdenkern, Rechten und anderen nonkonformen Gruppierungen. Berühmt wurde diese Sympathie vor allem durch die Q-Anon-Bewegung. Tatsächlich führte Trump 2016 einen stark aggressiv gegen den Globalismus geführten Wahlkampf – zumindest in der Rhetorik. Auch führte er offenbar den Merkantilismus wieder ein. Seine Credos „America First!“ und „We make America great again!“ beflügelten den Nationalismus in den USA. Ist Trump ein Retter oder ein Wolf im Schafspelz?

D.S.: Trump ist ein Chartsurfer ohne Profil und Programm. Er gehört zum konventionellen Establishment, war immer das schwarze Schaf und begleicht nun alte Rechnungen. Es ist eine US-Besonderheit, dass sich erfolgreiche Geschäftsleute über das Präsidentenamt noch einmal verwirklichen wollen, in Europa ist der Weg umgekehrt, da benutzen Spitzenpolitiker ihr Amt, um in die freie Wirtschaft zu kommen. Als findiger Businessman entdeckte er eine rechte Marktlücke und füllte dieses Vakuum auf. Trump reiht sich in die Tradition eines Goldwater und Perrot ein. Es wird immer nur der zum Präsidenten, der vorher bewährter Kardinal war. Zumindest hat der Mann Unterhaltungswert. Mehr messe ich ihm nicht bei, hoffe aber, dass ich mich täusche.

P.S.: Gibt es eine aus Ihrer Sicht nennenswerte Rechte, die sich nicht von den „Trumponomics“ hat vereinnahmen lassen?

D.S.: Die US-Rechte weist ein viel breiteres ideologisches Spektrum auf als die europäische und zeigt sich folglich gespaltener. Die Rasseproblematik kann einen Teil vereinen.

Von Trump scheint die Rechte inzwischen desillusioniert zu sein. Manche ließen sich blenden, andere wollten aufspringen und Trump okkupieren.

Diejenigen Rechten aller Rassen, die aus rassischen Gründen einen eigenen Staat jenseits der USA anstreben, konnten mit Trump nie etwas anfangen, schließlich hält der ja am Status quo einer „Rassischen Demokratie“ fest.