In der gesamten rechten Szene gibt es ein Ritual, das sie von den anderen Politszenen unterscheidet. Es ist die sogenannte Distanzeritis. Die AfD distanziert sich von der Identitären Bewegung, diese wiederum von der NPD. Einige AfD-Mitglieder distanzierten sich sofort von Höcke, als dieser vom Gegner (!) unter Beschuss geriet. Höcke seinerseits distanzierte sich von seinen eigenen Aussagen. Man distanziert sich, so gut man kann und von Hinz und Kunz. So mein Eindruck als Beobachter aus der Ferne, aus der man häufig den besseren Überblick behält, wie es heißt. Distanzeritis scheint mir für die Rechte so typisch zu sein wie Verlogenheit für die Linke. Aktuelles, besonders bizarres Beispiel ist der als konservativ verschrieene CDU-Politiker Friedrich Merz, der die Annahme des Ludwig-Erhard-Preises mit der absurden Begründung verweigerte, er wolle die Auszeichnung nicht entgegennehmen, weil Roland Tichy Stiftungschef sei. Möglicherweise hatte sich Tichy aus Sicht von Merz nicht hinreichend deutlich von allem distanziert, was rechts von der Merkel-CDU zu verorten ist. Vielleicht aber doch, und er hatte bei seiner Distanzeritis nur eine Gruppe oder Person vergessen, was Merz wiederum zu seiner Distanzierung veranlasste. Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht. Der Grund kann jedenfalls nur ein höchst läppischer sein.
Distanzieren ist unnötig.
Indem jemand, sagen wir, Partei für die AfD ergreift, grenzt er sich notwendigerweise und eindeutig von allen anderen Parteien ab. Es ist gänzlich überflüssig nach einer solchen Entscheidung noch darauf hinzuweisen, man distanziere sich durch die Parteinahme für die AfD von der SPD, der CSU oder der Kaninchenzüchterpartei. Man organisierte sich in einer Partei, weil man sich von den anderen Parteien unterscheiden will, Distanz zu ihnen hält.
In der restlichen Politszene ist Distanzeritis übrigens ein weitgehend unbekanntes Phänomen. Ich hörte noch nie, dass sich Merkel von der SPD oder der Linkspartei distanziert oder auch von Stalin, wozu sie übrigens allen Grund hätte, oder die Linkspartei sich von der Antifa oder den Grünen. Man distanziert sich allenfalls von einzelnen Aussagen der konkurrierenden Organisationen, soweit, was selten genug vorkommt, diese sich überhaupt noch inhaltlich unterscheiden.
Distanzieren ist charakteristisch für politische Verlierer
Distanzieren ist nicht nur unsinnig und überflüssig, es ist auch und vor allem taktisch unklug, um nicht zu sagen dumm. Wer sich distanziert, gerät automatisch und unweigerlich in eine defensive Position und der Diskurs verlagert sich auf eine andere Ebene. Das geht so: statt über Masseneinwanderung, Eurokrise und andere brennende Themen zu diskutieren, bei denen Linke und Linksliberale automatisch in die Defensive geraten würden, dreht sich alles nur noch um die Frage: Distanzieren Sie sich von Herrn Höcke oder von den Identitären, von Le Pen oder von wem auch immer? Und täuschen wir uns nicht, der Gegner, der bei diesem Spiel nur das altbekannte Teile-und-herrsche-Prinzip anwendet, wird immer etwas finden, von dem ein Rechter sich zu distanzieren hat. Er wird stets ein Argument ausgraben, um den von Distanzeritis Befallenen noch weiter in die Verteidigungshaltung zu drängen und ihn vor allem auf ewig in dieser Position zu belassen. Da kann das Opfer sich von Gott und der Welt distanzieren – es wird ihm nichts nützen!
Sollte der in den Distanzierungsmodus Gedrängte im Übrigen glauben, durch intensive Distanzeritis Gnade bei seinen Gegnern zu finden, so täuscht er sich. Die werden ihn solange nicht in Ruhe lassen, bis er deren ideologische Vorgaben zu 100% und nicht etwa nur zu 99% übernommen hat. Und selbst danach wird man ihm ewig vorhalten, dass er einmal auf der „falschen“, weil rechten Seite war.
Rechte, die sich nicht distanzieren, zählen zu den Siegern.
Distanzeritis ist kein Naturgesetz, von dem Rechte unweigerlich betroffen sein müssen. Das erfolgreichste Beispiel ist Donald Trump. Bestmöglich beraten von Stephen Bannon reagierte er im Wahlkampf auf alle Versuche, ihn durch Distanzieren in die Enge zu treiben, offensiv. Er ging gar nicht auf die Angriffe seiner Gegner ein. So bezeichnete er beispielsweise das unsägliche Propagandamedium CNN, das sich fälschlicherweise Nachrichtensender nennt, auf einer Pressekonferenz nicht mehr nur als „fake news“, sondern als „very fake news“, dessen Fragen er nicht zulassen werde. Er hatte damit nicht nur die Lacher auf seiner Seite, sondern den Hetzern auch erfolgreich das Maul gestopft. Dies zog sich durch den gesamten Wahlkampf und auch durch seine bisherige Amtszeit. Jeden Angriff der Gegenseite beantwortete er ohne inhaltlich darauf zu reagieren mit einem Gegenangriff. Damit hatten seine Feinde nicht gerechnet, sondern erwartet, dass er sich umständlich und ausführlich verteidigen und ihnen damit auf den Leim gehen würde, wie so viele andere vor ihm. Noch heute bin ich der Überzeugung, dass diese ausgeschlafene Taktik einer der Hauptgründe für seinen das Politestablishment so sehr überraschenden Wahlsieg war. Zum ersten Mal hatte das bewährte Mittel, den Gegner in die Distanziererecke zu drängen, nicht funktioniert.
Erfreulicherweise machte das Beispiel Trump/Bannon Schule, wenn auch noch viel zu selten. Während Marine Le Pen und HC Strache wieder in die gleiche Falle plumpsten, sie distanziert sich von ihrem Vater, er von den Identitären, war dies bei dem neuen italienischen Innenminister Matteo Salvini nicht der Fall. Jede Aussage seiner Gegner, er sei Rassist, ein Ausländerfeind, mithin der Feind aller Gutmenschen und ihrer florierenden Geschäftsmodelle, beantwortete er mit Aussagen, die die Verleumder sprachlos zurückließen. Er entschuldigte sich nicht, nahm nichts zurück, legte sogar noch einen drauf und hielt weiter Kurs, bis er ins Innenministerium kam. Inzwischen besitzen er und seine Lega die Deutungshoheit im politischen Diskurs Italiens und seine Partei ist in Umfragen bereits an erster Stelle. Mit der FPÖ und Le Pens neuer Partei geschieht indessen das Gegenteil. Sie verlieren an Zustimmung, weil sie sich inhaltlich in die Defensive drängen ließen, nicht zuletzt wegen chronischer, anscheinend unheilbarer Distanzeritis.
Anders verhält es sich mit der AfD, was diese aber nur dem Teil ihres Führungspersonals zu verdanken hat, der, so ist zu hoffen, die schlimmsten Formen der Distanzeritis überwunden hat. So gefiel es mir sehr, dass Alice Weidel eine Fernseh-„Diskussion“ verließ, als man sie anpöbelte und sie nur noch unzureichend das Wort ergreifen konnte. Statt sich zu rechtfertigen und sich zu distanzieren, ließ sie die keifende Runde allein. Ich denke, als intelligente Frau begreift Alice Weidel den Mechanismus des Distanzierungskultes und seinen immensen Nutzen für den politisch-juristisch-medialen Komplex. Auch bei Alexander Gauland gewinne ich den Eindruck, dass er beginnt, das Spiel zu durchschauen. Andere hingegen fallen immer noch reflexhaft in die Muster der Distanzeritis zurück, sobald der Feind nur die richtigen Stichworte gibt.
Wie man es richtig macht, zeigt uns gerade mal wieder die SPD. „Die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag hat den Kapitän des Flüchtlingsboots Lifeline, Claus-Peter Reisch, mit dem Europapreis ausgezeichnet“, lesen wir gerade in der Presse. Reisch ist genau der Kapitän, der kürzlich von den maltesischen Behörden wegen falscher oder unvollständiger Papiere als Schiffskapitän festgesetzt und unter Anklage gestellt wurde. Statt sich von ihm zu distanzieren, ehrt und fördert die SPD diesen Menschen und sein, vorsichtig ausgedrückt, fragwürdiges Verhalten. In der rechten Szene hätte man ihn nach solchen Vorwürfen längst fallen gelassen und zwar nicht obwohl, sondern weil die Vorwürfe von den politischen Gegnern kommen. Dass die SPD einem mutmaßlichen Rechtsbrecher die Treue hält und dabei auch noch eine ausländische Regierung in dreister Weise herausfordert, soll an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Jedenfalls gelingt es den Sozis auf diese Weise, aus der Defensive heraus in die Offensive zu gehen, indem sie der maltesischen Regierung, die sich an geltendes Recht hält, das Fehlen von „Menschlichkeit“ und „Mitgefühl“ vorwirft. Aus dem mutmaßlichen Täter Reisch wird flugs ein bemitleidenswertes Opfer, das unserer Unterstützung bedarf. So viel Zynismus verdient fast schon Respekt.
Was haben wir gelernt. Wer sich distanziert, gerät in die Defensive. Defensive ist in der Politik identisch mit dem Verlust der Diskurshoheit. Ohne diese geht aber für die Rechte nichts voran, weil nicht über ihre Themen, sondern über die Themen ihrer Gegner gestritten wird. Die Rechte muss den Gegner zwingen, sich zu distanzieren. Angriff muss die Parole lauten, nicht weinerliches Distanzieren von allem und jedem. Es wäre so einfach, wie die Beispiele Trump, Salvini und in Ansätzen Weidel zeigen. Beim nächsten Aufeinandertreffen sollte die andere Seite aufgefordert werden: Distanzieren Sie sich von Stalin, Pol Pot, pädophiler Vergangenheit etc. Sobald Sie das tun, können wir über andere Themen reden. Allein um deren überraschte Gesichter zu sehen, wäre es die Sache wert.
Fassen wir kurz zusammen: Distanzieren ist sinnlos, überflüssig, kontraproduktiv und zwingt in die Defensive. Vor allem anderen ist es aber eines: Es ist DUMM!
Hinweis: Aufgrund eines inhaltlichen Fehlers, wurde der Text abgeändert (29.07.2018). Im ursprünglichen Artikel vom 24.07.2018 schrieb der Autor, dass sich PEGIDA von der Identitären Bewegung distanziere, was sich jedoch als falsch erwies. Wir bitten dies zu entschuldigen.