Taiwan – Kleinchina im Schatten der Volksrepublik

von | 21. Feb. 2024 | Deutschland und die Welt

Im folgenden Artikel analysiert Dominik Schwarzenberger mit gewohnt scharfem Blick die politische Lage Taiwans. Wie er klar darlegt, ist die Betrachtung und Beurteilung der aktuellen Situation dieses Inselstaates sehr wertvoll, da besonders die Frage um dessen Unabhängigkeit eine gewichtige geopolitische Bedeutung aufweist.

 

Am 13. Januar 2024 fanden Präsidenten- und Parlamentswahlen auf Taiwan statt. Diese Wahlen wurden mit Spannung und Besorgnis erwartet, da der Favorit, Lai Ching-te, einer Unabhängigkeit der Insel als solcher jenseits jeglicher chinesischer Staatlichkeit wohlwollend gegenübersteht.

Die Taiwan-Frage als internationaler wie gleichermaßen innerchinesischer Konflikt ist ein weiteres lehrreiches Beispiel für komplexe geopolitische Zusammenhänge, völkerrechtliche Spitzfindigkeiten und ungeklärte Identitätsfragen. Das macht die Analyse äußerer und innerer Verhältnisse notwendig.

Was hat es mit der Taiwan-Frage und der de-facto unabhängigen Insel auf sich? Was bedeutet „Ein-China-Politik“? Wie stehen die Bewohner Taiwans dazu? Gibt es eine taiwanische Nation? Wie könnte die Volksrepublik auf eine offizielle Unabhängigkeitserklärung reagieren?

„Ein-China-Politik“

Die Volksrepublik (Peking) wie Taiwan (Taipeh) bekennen sich zur „Ein-China-Politik“, d.h. beide sehen sich als authentisches China und Nachfolger der Kaiserreiche wie der alten Republik von 1912. Folgerichtig bezeichnet sich Taiwan offiziell auch als „Republik China (auf Taiwan)“, wonach die Insel gerade nicht die Republik ist, sondern deren letzte Bastion. Das Festland gilt als von usurpierenden Kommunisten besetzt. Gleichwohl die Insel unabhängig mit allen Merkmalen eines souveränen Staates existiert, gilt sie de-jure eben nur als letzter verbliebener nichtkommunistischer Teil eines Gesamtchinas, auf das sich beide Staaten berufen. Eine taiwanische Unabhängigkeitserklärung würde also die Insel aus diesem nur ideal existierenden Gesamtchina herauslösen. Bis 1971 wurde die „Republik China (auf Taiwan)“ von den meisten Staaten als Vertreterin Gesamtchinas anerkannt, war UNO-Gründungsmitglied und besaß sogar einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Aufgrund des Bedeutungszuwachses der Volksrepublik (Peking) änderte sich dieses Verhältnis fundamental und selbst die USA und Japan folgten diesem Trend[1]. Bilaterale Beziehungen werden zu Taiwan unter spitzfindigen sensiblen Beziehungen als „Wirtschafts- und Kulturbüros“ unterhalten. Wohlgemerkt: Taiwan hat sich niemals für unabhängig erklärt und die Zugehörigkeit zu Gesamtchina auch niemals infrage gestellt – im Gegenteil: Taiwan möchte ja gerade der legitime Rest Gesamtchinas sein und sich nach einem Sturz des Kommunismus mit dem Festland wiedervereinen.

Brisanz wie Kuriosität der Taiwan-Frage äußerte sich jüngst an zwei Beispielen: Litauen und Nauru.

  • Der baltische EU- und NATO-Staat Litauen eröffnete 2021 ein „Taiwanesisches Vertretungsbüro in Litauen“ als de-facto Botschaft Taiwans. Das Problem war nicht die engen Beziehungen, sondern die unsensible Bezeichnung. Peking brach die Beziehungen zu Litauen ab und begann vorübergehend sogar wirtschaftliche Sanktionen.
  • Der pazifische Inselstaat Nauru nahm im Januar 2024 offizielle diplomatische Beziehungen zu Peking auf und kappte entsprechende zu Taiwan. Dafür wurde die inzwischen bettelarme Insel mit Krediten belohnt.

Dieser Alleinvertretungsanspruch erinnert an die „Hallstein-Doktrin“ der alten BRD, wonach die Bonner Republik alleinige Erbin des Deutschen Reiches sei und Gesamtdeutschland vertrete. Eine Anerkennung der DDR-Staatlichkeit wie auch das eigene Herauslösen Westdeutschlands aus einem nur ideal existierenden Gesamtdeutschlands wäre demnach Verrat[2]. Folglich widersetzte sich Bonn auch der offiziellen Anerkennung der DDR durch Drittstaaten.

Chinesisches Nationsverständnis

Für Europäer ist das chinesische Nationsverständnis besonders befremdlich, dabei ist es nicht so selten, findet es sich doch auch in anderen Kulturräumen der Erde: bei Arabern, manchen Religionsgemeinschaften, den antiken Griechen und lange auch unter Russen. Dieses Nationsverständnis ist ein zivilisatorisches, d.h. ein Weltanschauliches mit eigener ganzheitlicher Auffassung von Erde, Kosmos, Moral und Sittlichkeit. Man kann es mit dem katholisch-abendländischen Bewusstsein des Mittelalters vergleichen, das nicht an Staatlichkeit, Territorium oder Volkstum gebunden war. Entsprechend können mehrere Staaten innerhalb einer geistigen Zivilisation getrennt existieren, grenzen sich aber gegen andere Zivilisationen ab. Der chinesische Kaiser war mehr ein geistig-religiöses Symbol dieser zivilisatorischen Geschlossenheit (wie heute der Papst), dessen „Macht an der Dorfhecke endet“ (chinesisches Sprichwort). Antiimperialistische chinesische Intellektuelle des späten 19. Jh. strebten demgegenüber tatsächlich eine Nation im westlichen Sinn an, waren sich aber der Problematik wohl bewusst: das rein zivilisatorische Bewusstsein musste über eine Erziehungsdiktatur und Kulturrevolution erweitert werden. Zudem fehlte die ethnische Basis: die Bevölkerung des Riesenreichs war ja „wie ein Haufen losen Sands“ (Sun Yat-sen). Zwei Konzepte konkurrierten miteinander: „Qing-„ vs. „Han-Chinesen“.  Die Han stellen eine Konvention dar, um ein homogenes ethnisches Fundament für China zu schaffen – in dem Fall wurden alle Einwohner zur Zeit der populären Han-Dynastie zu Chinesen bestimmt. Tatsächlich unterscheiden sich Han rassisch, sprachlich und kulturell erheblich voneinander[3], was sich in der offiziellen Anerkennung von Hauptgruppen niederschlägt und damit deren angestrebte Homogenität konterkariert. Das Qing-Konzept bestimmte wiederum alle Bewohner des Kaiserreichs zur Zeit seiner größten Ausdehnung im 18. Jh. als „Chinesen“[4], eine gemäßigte Form „nur“ die aktuellen Bewohner der 1890er.

Taiwans ehemalige Einheitspartei Guomindang (GMD) als Gralshüterin des allchinesischen Alleinvertretungsanspruchs

Die Guomindang (GMD) – oft vereinfacht als „Nationale Volkspartei“ übersetzt –, prägte das Gesicht der Insel seit 1945. Damals zogen sich die japanischen Besatzer zurück und die „Nationalchinesen“ des Tschiang Kai-schek übernahmen die Macht. Nach dem Sieg der Kommunisten flüchteten dann Militärs, Unternehmer, Intellektuelle und Beamte der besiegten alten „Republik China“ auf die Insel, darunter auch Tschiang Kai-schek selbst. Bei der taiwanischen GMD handelt es sich um die dritte Partei dieses Namens, die zwar in organisatorischer, aber eben nicht ideologischer Kontinuität steht. Die ursprüngliche GMD war linksnationalistisch-sozialistisch und den Idealen ihres Gründers und Vorsitzenden Sun Yat-sen verpflichtet: den „Drei Prinzipien des Volkes“[5]. Sun selbst schwankte lange zwischen Qing- und Han-Konvention und entschied sich für einen Kompromiss: Die Han stellen den Kern und einige willkürlich ausgewählte Völker des späten Kaiserreichs gehören als autochthoner „Zusatz“ zur Nation[6]. Nach Suns Tod spaltete sich die nur durch ihren populären Gründer integrierte GMD in einen linken prokommunistischen und rechten antikommunistischen Flügel, die sich zu eigenen Organisationen mit bewaffneten Armen verfestigten. Die rechte GMD wurde vom charismatischen Tschiang Kai-schek geführt, der mit der Schwester von Suns Frau verheiratet war. Tschiang experimentierte bis in die späten 1930ern mit faschistischen Ideen und restaurierte einige vom christlichen Sozialisten Sun als reaktionär abgelehnte Werte des Konfuzianismus, weshalb das Attribut „rechts“ nicht ganz falsch ist. Die taiwanische GMD kann auch heute noch als nationalradikale konservative Partei[7] betrachtet werden, die faschistischen und korporativen Elemente sind aber marginal oder von der Mutterpartei abgespalten. Während der festländischen Kulturrevolution (1966-76) sah sich Taiwan als Bewahrer chinesischer Kultur und Tradition, allerdings auch unter modernistischen Vorzeichen. Nominell genießt Sun Yat-sen in der Volksrepublik wie auf Taiwan, Hong Kong, Macau und in der Diaspora als antiimperialistischer Vorkämpfer große Verehrung. Die GMD war bis in die 1980er eine autoritäre Partei, die paranoid überall kommunistische Verschwörungen[8] witterte und aufgrund ihres gesamtchinesischen Anspruchs und der Doktrin einzige legitime Vertreterin der „Republik Chinas“ zu sein, jede taiwanische individuelle Regung jenseits des „Chinesischen“ unterdrückte. Lange waren die linksnationalistischen panchinesischen Kommunisten mit ihren zahlreichen Tarnorganisationen tatsächlich eine Bedrohung. Seit den 1980ern erwächst aus Parteien der marginalisierten vor 1945 eingewanderten Taiwanern (Siehe Ethnographie unten) die größere Herausforderung: manche streben neben politischer Teilhabe auch die formelle Unabhängigkeit ihrer Insel an. Ironie der Geschichte: GMD und ihr einstiger kommunistischer Kriegsgegner haben heute wieder mehr Gemeinsamkeiten, tatsächlich erinnert Xis Kurs eher an Tschiang als an Mao.

Die Bedeutung der GMD für Taiwan zeigt sich nicht zuletzt in den nationalen Symbolen. Die Flagge Taiwans ist mit der der „Republik Chinas“ (bis 1949) und der GMD identisch. Taiwan selbst besitzt keine eigenen hoheitlichen Symbole, da dies den Anspruch ganz China zu sein, konterkarieren würde. Parteien, die ein souveränes Taiwan anstreben, vermeiden diese allchinesische Symbolik konsequent – schon deshalb, weil die gesamtchinesische Nationalflagge gleichzeitig Parteisymbol der GMD ist. Ebenso verhält es sich mit der Nationalhymne, die von der alten Republik übernommen wurde und die „Drei Prinzipien des Volkes“ glorifiziert, deren alleinige organisatorische Manifestation ja die ursprüngliche GMD war. Die „Demokratische Fortschrittspartei“ mit ihren Verbündeten ist die große Gegenspielerin, innerlich aber stark in Ideologien und Identitäten gespalten. Zu den offen separatistischen Parteien gehören nur interne Strömungen. Als juristisches Kuriosum darf man die regionalistischen Parteien auf Taiwan ansehen, die sich für spezifische Inselbelange einsetzen. Dieser taiwanische Regionalismus ist mit taiwanischem Nationalismus formell nicht identisch, sondern vertritt die Interessen Taiwans innerhalb des ideal existierenden Gesamtchinas. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Ethnographie

Taiwan ist ein Miniatur-China, d.h. es gibt die dominierenden Han als vermeintliche authentische Chinesen (mit 98%) und nichtchinesische Minderheiten[9] sowie eine Vielzahl an Sprachen und Religionen. Im Gegensatz zur Volksrepublik zeigen sich die taiwanischen Han stark gespalten: sie betonen hier ihre ethnische und sprachliche Verschiedenartigkeit[10] und konservieren sie. Ursächlich hierfür sind die geringe Bedeutung der nichtchinesischen Minderheiten als mögliche Bedrohung, der stabile kulturelle und sprachliche Kommunitarismus der vom Kaiserreich ab dem 17. Jh. sukzessiv zugewanderten Festlandchinesen (Benshengren) und ab 1945 der Sinisierungsdruck der jüngsten Einwanderungsgruppe[11] (Waishengren), der Trotzreaktionen auslöste. Diese hochqualifizierten Neueinwanderer (Waishengren) errichteten eine de-facto Ethnokratie[12] mit einer Art Kastensystem und rigider Sprachpolitik, weshalb zumindest sie trotz unterschiedlicher Herkunft eine homogene Identität aufbauten. Sie brachten die Devisen der alten Republik mit.

Historische Meilensteine

  • Anfang 17. Jh.: sukzessive Besiedlung vom Festland und Verdrängung austronesischer Ureinwohner
  • gleichzeitig: Kolonialherrschaft der Holländer mit starker christlicher Missionierung der Ureinwohner
  • 1661-1682: loyale Anhänger der Ming-Dynastie ziehen sich auf Taiwan vor den mandschurischen Qing zurück
  • 1682: Eroberung durch mandschurische Qing: Sinisierung und Entchristianisierung der tiefländischen Ureinwohner
  • 1886: Taiwan wird eigenständige Provinz des Kaiserreichs
  • 1894/95: Chinesisch-Japanischer Krieg: Taiwan wird Teil Japans
  • Mai bis Oktober 1895: „Demokratische Republik Taiwan /Republik Formosa“ als von Japan freies Territorium
  • 1915: Ende des organisierten bewaffneten Widerstandes gegen Japan
  • während Japans Herrschaft: Bau von Eisenbahn und Straßen; Förderung von Medizin, Bildung und Buddhismus
  • 1945: Rückgabe Taiwans an die „Republik China“
  • Zwischenfall vom 28. Februar 1947: ein als kommunistisch diffamierter Aufstand der alteingesessenen Benshengren gegen die GMD-Regierung wird blutig niedergeschlagen
  • 1949: Rückzug der GMD-Führung unter Tschiang Kai-schek mit antikommunistischen Festlandchinesen (Waishengren) auf die Insel
  • 1949 bis 1980er: permanenter Ausnahmezustand und Einparteienregierung, aber auch erheblicher Wohlstandsschub
  • ab Mitte der 1980er: schrittweise Liberalisierung und Emanzipation der alteingewanderten Benshengren

Haltung zu Japan

Neben dem Verhältnis zur Volksrepublik sehen sich die Taiwaner auch in ihrer Haltung zu Japan gespalten, was mit den drei Identitäten (Siehe unten) korreliert. Die Koreaner litten unter der japanischen Besetzung, wohingegen Taiwan teilweise profitierte: Um Taiwan vom chinesischen Mutterland zu entfremden, förderten die Japaner früh eine Art taiwanische Identität und trieben Modernisierung (Straßenbau, Eisenbahn, Bildung und Medizin) und Industrialisierung voran. Die Besatzungspolitik war vergleichsweise mild. Das taiwanische Wirtschaftswunder verdankt sich also anders als das südkoreanische nicht zuletzt japanischer Pionierarbeit. Während die Waishengren als loyale Chinesen klar antijapanisch orientiert sind, sehen Teile der Benshengren Japan als Vorbild und Verbündeten.

Identitäten

Folgende Identitäten lassen sich unter Taiwanern identifizieren:

  • Panchinesen: Waishengren und erhebliche Teile der Benshengren; für Vereinigung mit dem Festland, wenn sich deren politisches System reformiert oder alternativ: ein Staat mit zwei Systemen (wie Hong Kong und Macau) akzeptiert wird; antijapanisch; Parteien: GMD und radikalere Abspaltungen, aber auch linksnationalistische Kommunisten
  • Kulturchinesen: der chinesischen Zivilisation verbunden, aber für getrennte Staaten (wie Singapur); einige wenige Waishengren und wachsende Teile der Benshengren; projapanisch; Parteien: Teile der Sammlungspartei „Demokratische Fortschrittspartei“ sowie kleinere Parteien der Sozialdemokraten und Liberalen
  • Taiwanesen: sehen sich als vom Festland unabhängige Ethnie; v.a. Benshengren und Ureinwohner; projapanisch; Teile der Sammlungspartei „Demokratische Fortschrittspartei“; kleine Unabhängigkeitsparteien der linken Mitte
  • Ureinwohner: für unabhängigen Inselstaat; Dominanz verschiedener christlicher Konfessionen; mit Taiwanesen verbunden; antijapanisch und antifestländisch; eigene politische Vereinigungen, aber v.a. durch „Demokratische Fortschrittspartei“ vertreten

Religionen

Die religiösen Verhältnisse gleichen denen der Volksrepublik: es dominieren die traditionellen universistischen Spielarten, einem sinisierten Buddhismus sowie islamische und zersplitterte christliche Minderheiten. Eine identitätsstiftende Korrelation besteht: die Ureinwohner gehören bis auf schamanistischer Reste den unterschiedlichsten christlichen Konfessionen an, wobei das taiwanische Christentum auch unter den „Chinesen“ allmählich Verbreitung findet. Religion stellt anders als auf dem Festland noch kein Politikum[13] dar.

Innertaiwanische Konfliktlinien

Die Unvereinbarkeit der Identitäten zeugt von einer unversöhnlich gespaltenen Gesellschaft, daneben gibt es weitere Konfliktlinien:

  • Polarisierung traditionelle Werte und Familienbild vs. progressive liberale Werte einer „Offenen Gesellschaft“
  • Polarisierung Einwanderungsfeindschaft vs. Einwanderungsoffenheit
  • Polarisierung proUSA vs. antiUSA[14]

Die Pole stehen in keiner Korrelation zueinander.

Zur Qualität des Nationalismus der Taiwanesen

Bei taiwanischen Nationalisten (also Taiwanesen) handelt es sich um eine sehr junge Erscheinung, die an die liberal-emanzipatorische Phase des westeuropäischen Nationalismus der Linken und Freimauer erinnert. Dieser Nationalismus ist eher ein Souveränismus und noch der „Offenen Gesellschaft“ verpflichtet, folglich mit liberalen und sozialdemokratischen Parteien verbunden. Taiwans Rechte (Konservative und Faschisten) und im Untergrund agierende linksnationalistische Kommunisten sind klar panchinesisch. Eine Wandlung zu rechten Spielarten ist nur eine Frage der Zeit, nämlich dann, wenn sich konservative Taiwanesen mit traditionellem Familienbild und gegen Einwanderung eingestellt, nicht mehr über solche Parteien wie der „Demokratischen Fortschrittspartei“ vertreten fühlen.

Der unreife taiwanische Nationalismus ist im Werden, es fehlen aber sinnstiftende Symbole und historische Anknüpfungspunkte. Die kurzlebige „Republik Formosa“ von 1885 und antijapanische Aktionen taugen wegen ihrer Loyalität dem Festlandchina gegenüber nur als Vorbild panchinesischer Nationalisten genauso wie die kurzen Jahre unter der Ming-Dynastie, die von Taiwan aus China von den fremden Mandschuren (Qing-Dynastie) befreien wollte. Hier tut sich nur eine verheißungsvolle Reminiszenz für Panchinesen auf. Dann die schwierige Frage nach der möglichen Amtssprache: standardisiertes Mandarin wie unter dem GMD-Regime oder die Volksgruppensprachen nebeneinander? Oder gar Englisch? Wie weit will man sich vom chinesischen Zivilisationsmythos lösen? Wie steht man zu den marginalisierten Ureinwohnern? Welchen Beitrag dürfen sie einer taiwanischen Identität liefern? Der Name „Taiwan“ (von den Ureinwohnern übernommen) oder „Formosa“ (von den Portugiesen) bieten sich wegen ihres nichtchinesischen Ursprungs als Staatsbezeichnung an und wird deshalb gern genutzt.

Je nach dem Verhalten der Volksrepublik, kann der neue taiwanische Nationalismus befeuert oder gehemmt werden.

Bedeutung Taiwans für China, Japan, USA und Südostasien

Chinas Position: Taiwan bleibt trotz de-facto Unabhängigkeit Teil der chinesischen Nation mit künftiger Integrationsoption wie Hong Kong und Macau. Eine de-jure Unabhängigkeit kann separatistische Tendenzen in den eigenen Provinzen provozieren. Geostrategisch ist Taiwan als Vorposten und Flankenschutz im japanischen und südostasiatischen Raum unverzichtbar. Ein prowestliches und projapanisches Taiwan stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar – ähnlich wie Kuba-USA. Wirtschaftlich ist Taiwan für Peking sehr wichtig.

Japans Position: teilweise existieren noch Gebietsansprüche. Taiwan ist momentan ein Puffer zum Festland und Verbündeter. Wirtschaftlich eher Konkurrent.

Position der USA: Taiwan stellt wie umgekehrt Kuba einen idealen Brückenkopf gegen das Festland dar. Wirtschaftlich sehr wichtig.

Position Südostasien: Die Staatenwelt Südostasiens mit ihren vielen Ethnien, Kulturen und Religionen ist zutiefst uneinig, steht aber dem aufstrebenden China sehr skeptisch gegenüber. Taiwan fungiert momentan als Puffer, den man zu erhalten wünscht.

Ausblick

Eine militärische Auseinandersetzung mit der Volksrepublik oder gar eine Invasion à la Ukraine bleiben äußerst unwahrscheinlich, trotz oder gerade wegen Xis martialischem Auftreten. Ein altchinesisches Strategem mahnt: „Wenn Du schwach bist, täusche Stärke vor“ (und umgekehrt). Wir sagen: „Hunde, die bellen, beißen nicht“ – oder besser: Hunde, die aufgrund zu großen Risikos nicht beißen können, sollten wenigstens laut und heftig bellen. Wir sollten bei der Lagebeurteilung Taiwans schlagkräftige hochgerüstete Armee mit hohem Mobilisierungspotenzial berücksichtigen[15]. Dieses Militär ist der Volksrepublik nicht gewachsen, kann aber die fragile Volksrepublik dennoch massiv schädigen. Zudem sind die beiden Kontrahenten wirtschaftlich stark miteinander verwoben. Ein militärischer Konflikt kann eher durch einen Krieg Peking-Washington eskalieren, d.h. Taiwan kann über die USA hineingezogen werden (als Brückenkopf) oder bei einer Schwächung Pekings selbst intervenieren. Taiwans Bedeutung für die Weltwirtschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Die Insel produziert mit Abstand die größte und qualitativ hochwertigste Menge an Halbleitern und ist über Firmen global vertreten. Noch zwei Gemeinsamkeiten teilt die Insel mit der Volksrepublik: es fehlen Ressourcen, weshalb der Abhängigkeit von Energie- und Lebensmittelimporten eine existenzgefährdende Fragilität zukommt. Zweitens: der starke Geburteneinbruch mit zunehmender Überalterung. Die sozioökonomischen Verwerfungen wie auf dem Festland fehlen bisher.

Der Konflikt zeugt auch von der ostasiatischen Besonderheit, Formen, Begriffen und Riten höchste Bedeutung beizumessen und immer sein Gesicht wahren zu müssen. Letztlich wird dort nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wurde. In Europa, USA und Arabien wird dagegen gern heißer gegessen als es vorher gekocht wurde.

 

 

 

[1] Nur noch wenige völlig unbedeutende Staaten, aber auch der symbolträchtige Vatikan, stehen zu Taiwan als ausschließlichen Vertreter Gesamtchinas.

[2] Nach der Kanzlerschaft Adenauers wurde diese Doktrin zunehmend aufgeweicht und mit der Kanzlerschaft Brandts aufgegeben.

[3] Sogar Vietnamesen wurden und werden gelegentlich zu den Han gezählt.

[4] Das Qing-Konzept ist unter manchen Nationalisten v.a. auf Taiwan und Übersee immer noch Favorit.

[5] Diese im Deutschen immer noch falsch übersetzten und interpretierten Grundsätze haben auch in der Volksrepublik und anderen chinesisch geprägten Regionen den gleichen sakralen Charakter wie etwa Atatürks sechs Prinzipien für die türkische Welt.

[6] Das erste und wichtigste Prinzip Suns wird häufig als „Nationalismus“ übersetzt. Vielmehr handelt es sich um eine Forderung nach „Zusammenfassung der multiethnischen Bevölkerung zu einem Bewusstsein“.

[7] Ideengeschichtlich handelt es sich dennoch um eine linke Spielart mit einigen traditionellen Elementen, da a) der enge Nationalismus der Reichsidee entgegensteht, b) das religiöse Element fehlt und c) für den Konfuzianismus unabdingbar das Kaisertum.

[8] So wurde die berüchtigte „World Anti-Communist League“ von Tschiang Kai-schek mit Sitz auf Taiwan gegründet, zu deren Mitgliedern auch lateinamerikanische Todesschwadrone, NS-Kollaborateure und Neofaschisten zählten.

[9] Es handelt sich um 16 anerkannte kleine Völker unterschiedlicher Größe austronesischer Sprache, die bis in die 1980er jenseits der Gesellschaft standen.

[10] Etwa Hoklo mit 70% und Hakka mit 14%, die aber auch wieder nur Sammelbezeichnungen darstellen. Ein beachtlicher Teil dürfte austronesische Vorfahren haben.

[11] Sogenannte „Waishengren“ (14%): nichtkommunistische Flüchtlinge vom Festland.

[12] Die Waishengren dominierten Politik, Verwaltung, Militär, Kultur und Wirtschaft. Bis 1990 wurde der regionale Ursprung neben dem Geburtsort in taiwanischen Pässen vermerkt, weshalb die Waishengren auch nach Jahrzehnten ihrer Flucht identifizierbar waren. Als besonders bitter erwies sich die harte Sprachpolitik, die Hochchinesisch (ein standardisiertes Mandarin) zur Amtssprache und möglichst auch Umgangssprache machen sollte, während 86% der Bevölkerung eigene Sprachen pfleg(t)en.

[13] Erinnert sei an die synkretistische religiöse Massenbewegung Falun Gong und die sich v.a. im Süden ausbreitende evangelikale Christen, die zwar politisch neutral erscheinen, aber sich zum Refugium systemfeindlicher Kreise wandelten. Pikanterweise sind beide Phänomene unter KP-Mitgliedern sehr beliebt, wurden sie doch vom Regime zunächst ermutigt. Rebellische Bewegungen waren in Chinas Geschichte meistens religiös fundiert.

[14] Genau wie in Südkorea und Japan werden die USA nicht etwa als Freunde (wie im Narrativ der BRD) gesehen, sondern als notwendiges Übel und zunehmend auch als Belastung. Besonders die westliche Dekadenz um „Tittymania“ wird in Taipeh, Tokio und Seoul als Bedrohung wahrgenommen.

[15] Bis auf die linksnationalistischen Kommunisten Taiwans, wären sich alle Parteien im antichinesischen Abwehrkampf einig.