Nur Merkels Goldstücke arbeiten „nij gut“

von | 22. Mai. 2020 | Deutschland und die Welt

Spargel ist das laut Statistischem Bundesamt am häufigsten angebaute Freilandgemüse. 2018 wurden in der Republik 133.000 t Spargel produziert, was Deutschland hinter der Volksrepublik China, Peru und Mexiko zum weltweit viertgrößten Spargelproduzenten macht. Obwohl seit über einem Jahrhundert daran gedacht wird, den Spargel maschinell zu ernten – bereits 1907 gab es dazu Anläufe in den Vereinigten Staaten –, konnten sich Erntemaschinen für dieses Gemüse bis heute nicht durchsetzten. Zwar wurde vor allem seit den 1950er bis in die 1990er Jahre vermehrt getüftelt und wurden in Übersee und Australien einige Patente für selektive und nicht selektive Spargelerntemaschinen vergeben, doch hat die maschinelle Ernte gegenüber der manuellen Ernte auch erhebliche Nachteile. Deshalb sieht man nach wie vor von März bis Juni Heerscharen von meist südosteuropäischen Erntehelfern auf deutschen Feldern. Diese blieben aber im März und April aufgrund der Corona-Hysterie und dem vom Bundesinnenministerium verhängten Einreisestopp zunächst fast vollständig aus. Stattdessen fand sich eine bunt zusammengewürfelte Truppe auf den Äckern ein, um den begehrten Schatz zu heben.

Neben zwei Polen, einem sächsischen Koch namens Sandro und einem alten Rumänen arbeiten in dem landwirtschaftlichen Betrieb, in dem ich als Spargelleichtmatrose angeheuert habe, noch zwei Portugiesen und zwei junge Szekler. Mit Ausnahme der beiden Polen sind wir alle richtige Greenhorns. Eigentlich sind die Portugiesen gar nicht aus Portugal. Ricardo kommt aus Brasilien, Tiago von den Azoren mitten im Atlantik. Tiago spricht fortwährend von gutem Essen. Er rezitiert die Rezepte aus dem Gedächtnis und beschreibt minutiös, wie er die Mahlzeiten zubereitet, von denen gerade die Rede ist. Ich höre höflichkeitshalber scheinbar interessiert zu, ergreife aber stets bei der ersten sich mir bietenden Gelegenheit die Flucht.

Die beiden ungarischsprachigen Szekler kommen aus der Gegend um Miercurea Ciuc, zu Deutsch: Szeklerburg. Ihre Heimatregion Harghita in Siebenbürgen habe ich bereist, als ich als Austauschstudent für zwei Semester in Rumänien gelebt habe. „Fritzi“, der mit seinen weißblonden Haaren eher aussieht wie ein Friese oder Schwede, spricht im Gegensatz zu seinem ehemaligen Klassenkameraden Elemér ein wenig Deutsch, aber unsere Lingua franca bleibt für die kommenden drei Wochen dennoch das Rumänische. Zuweilen verständigen wir uns auch in einem Kauderwelsch aus Deutsch und Rumänisch, wobei die beiden jungen Szekler immer vor Freude strahlen, wenn ich ein ungarisches Wort wie köszönöm (danke) einstreue. Sie sind wie fast alle Magyaren glühende Patrioten. Fritzi zeigt mir ein Video, in dem Ungarn zur Zeit seiner größten territorialen Expansion auf einer Karte zu sehen ist, Nagy-Magyarország (Großungarn), und beklagt dessen Verstümmelung infolge des 1920 geschlossenen Vertrags von Trianon. Im Gegensatz zu „Großdeutschland“ wird „Großungarn“ heute als kollektive Erinnerung nostalgisch gepflegt, was die Beziehungen zwischen Ungarn und dessen Anrainerstaaten immer wieder belastet. Fritzi und Elemér sind trotz allem Nationalismus keine Chauvinisten, denn als nach knapp zwei Wochen doch eine Gruppe rumänischer Erntehelfer einfliegen darf, vermag es der Landwirt kaum zu verhindern, dass Fritzi und der Vorarbeiter der rumänischen Abteilung sich herzlich umarmen. Sie hatten in der Vergangenheit schon einmal zusammen gearbeitet. „Halt, stopp! Auch kein Handschlag!“, ruft der Bauer geistesgegenwärtig, denn die Rumänen sind eigentlich für 14 Tage in Quarantäne. Sie ernten andere Spargelfelder ab als wir und sind auch in einem anderen Haus untergebracht.

Zwar ist die Arbeit eintönig, aber es tut gut, an der frischen Luft zu sein. Neben der Feldarbeit gibt es ja noch die Arbeit in der „Fabrik“, wo die oberirdisch geschnittenen Spargelstangen an einer Sortiermaschine von Hand selektiert werden. Hier arbeite ich ab und zu mit einer alten Polin, die nach fast zwanzig Jahren in Deutschland nur von einem Basiswortschatz von zwei oder drei Wörtern Gebrauch macht. Nach einer „Kischta“ ruft sie, wenn wir beide eine solche bis an den Rand mit Grünspargel gefüllt haben, „nij gut“ sagt sie, wenn sie einen verblühten oder erfrorenen Spargel aussortiert. Sie ist die Hilfsbereitschaft in Person und für den dicken Spargel erster und zweiter Klasse zuständig, ich für den dünnen Spargel erster Klasse, den sogenannten Suppenspargel und die abgebrochenen Spargelköpfe. Wiederholt springt sie mir zur Seite, wenn mehr dünner Spargel auf dem Förderband liegt, als von zwei ungeübten Händen sortiert werden kann. Dabei lacht sie und sagt: „Katastropha“ – eine weitere Vokabel aus ihrem deutschen Wortschatz. Oder sie meint einfach katastrofa, was auf Polnisch dasselbe bedeutet, da es sich in beiden Fällen um eine Entlehnung aus dem Altgriechischen handelt und das Wort ursprünglich den Wendepunkt in einer Tragödienhandlung hin zum Schlechten bezeichnet. Auch wenn sie stets lacht, wenn sie katastrofa sagt, bin ich froh, dass das Unglück doch immer noch rechtzeitig abgewendet werden kann. Im Anschluss an das Sortieren wird gewogen und verpackt.

Unsere Gruppe, die ich nach anderthalb Wochen von einem Festangestellten übernehme und die im Kern aus den oben genannten Personen besteht, erweitert sich im Laufe der Zeit noch um einen deutschstämmigen Südafrikaner, dessen Rückflug nach Kapstadt gecancelt worden ist, einen Globetrotter, der gerade dabei ist, sein Haus zu verkaufen, vier Ukrainer, die als Fleischer und in der Gastronomie gearbeitet haben, zwei Rumänen, eine Ungarin, eine deutsche Friseuse, zwei Zehntklässlerinnen, einen Studenten und eine Abiturientin. Ab der zweiten Woche ist auch mein guter Freund Benni mit von der Partie. Vier „Flüchtlinge“, darunter ein mutmaßlicher Syrer, bleiben nur zwei Tage dabei, dann haben sie keine Lust mehr auf die Plackerei. Der Landwirt ist fassungslos. Benni und ich sehen uns einmal mehr in unseren Vorurteilen bestätigt …

Im Supermarkt der nächsten Stadt lichten wir stolz den gebündelten Spargel ab. Sofort werden wir von einer aufmerksamen Verkäuferin angeherrscht, man dürfe die ausgelegte Ware nicht fotografieren. Während ich noch nach Worten suche, antwortet Benni schlagfertig: „Den Spargel haben wir geschnitten.“ Darauf hellt sich die Miene der ganz unmetaphorischen Ladenhüterin schlagartig auf und versöhnlich sagt sie: „Ach so, na dann.“

Als nach drei Wochen der Tag gekommen ist, an dem es Lebewohl zu sagen gilt, fällt das scheiden schwer. Jeden unserer zeitweiligen Hausgenossen umarmen wir – trotz Covid-19. Es gibt niemanden, mit dem wir nicht wieder zusammen malochen würden, aber insbesondere Fritzi und Nicolai, einen der Ukrainer, werden wir vermissen. Nicolai ist Ende zwanzig. Er hat in der Ukraine im Bergbau untertage gearbeitet und dabei mit einem Lämpchen alle Werke Friedrich Nietzsches gelesen. Darüber hinaus hat er sich mit Dostojewski, Carl Schmitt, Ernst Jünger und sogar mit Martin Heidegger befasst! Sein Nahziel ist es, Sein und Zeit auf Deutsch zu lesen und zu verstehen. Wir saßen in Kiew schon in derselben Bibliothek und haben sogar eine gemeinsame Bekannte in der Millionenmetropole am Dnepr. Fritzi hat weniger Sinn für das geschriebene Wort und scheint überhaupt nur ein Buch zu kennen. Als ich am Abend des ersten oder zweiten Tages in das Schlusskapitel von Peter Flemings Reisebericht Brasilianisches Abenteuer vertieft bin, zeigt er auf den Wälzer und fragt: „Este biblia?“. Doch als ich einer Schublade in der Gemeinschaftsküche einen sanften Tritt versetze, sodass sie zufliegt, ruft Fritzi nicht etwa Jackie Chan oder Bruce Lee, sondern – Winnetou! Benni fällt vor Lachen fast vom Stuhl und ich kann mich aus demselben Grund kaum auf den Beinen halten. Es ist irgendwie rührend, dass der Häuptling der Apachen offenbar auch zum Bildungskanon der Szekler gehört. Seit ich die Gruppe als Kapo übernommen habe, nennt mich Fritzi daher „Chef Winnetou“, aber er tut es in einer Art und Weise, die nichts Subversives an sich hat. Bei dem „Sir, yes, Sir!“ des Brasilianers, mit dem er gelegentlich meinen „Anweisungen“ begegnet, bin ich mir da weniger sicher. Während der ganzen Zeit unterstellen wir uns im Spaß gegenseitig buzi (ung. schwul) zu sein und einen kicsi fasz (ung. kleinen Penis) zu haben. Zwar haben Benni und ich das Alter längst überschritten, in dem man so etwas lustig findet, doch spielen wir das Spiel mit, das Sandro und den beiden Szeklern augenscheinlich so viel Freude bereitet. Auch von dem Landwirt nehmen wir nur ungern Abschied, aber ab dem 20. April geht für uns beide das Studium weiter.

Johhanes Scharf beim Spargelstechen 2

Johannes Scharf hilft in der Spargelernte aus.

Johannes Scharf beim Spargelstechen