Märzrevolution 1848 – Antithesen einer „erfolgreichen“ Revolution

von | 06. Dez. 2018 | Philosophie & Theorie

„Entschuldigen Sie mein Herr, wo ist der Schalter für die Bahnsteigkarten?“ 1848/49 – Antithese einer erfolgreichen Revolution?

Bei der nachfolgenden Abhandlung handelt es sich um eine Analyse zur Deutschen Revolution von 1848/1849. Der Autor Franz-Michael Kilter stellt provokative Antithesen zur angeblich erfolgreichen Märzrevolution auf und geht dabei auf die allgemeine Architektur von Revolutionen ein. Er erklärt, wie es zu Revolutionen kommt, welche Akteure entscheidend sind und woran die meisten Revolutionen scheitern. Der Text ist ein Muss für jeden Rechten, der sich mit Strategie und Taktik auseinandersetzen und begreifen will, was eine Revolution bedeutet. Metapolitik auf hohem Niveau. Die Redaktion

 „Die deutsche Nation ist die gründlichste, innerlichste, folglich auch beschaulichste unter den europäischen Nationen, mehr ein Volk der Gedanken als der Tat…Dieser Hang, die Dinge in ihrer ganzen Tiefe zu nehmen, scheint von jeher der eigentliche Beruf der germanischen Stämme zu sein.“

– Joseph von Eichendorff

„Daher ist es auch von hohem Wert, dass alles, was auf der Welt an Gedanken vorhanden ist, in Deutschland noch einmal durchdacht, das heißt, auf deutsche Schiffe geladen wird.“

– Ernst Jünger in „Das abenteuerliche Herz“

„Den Deutschen fehlt jedes politische Temperament. Sie sind am allerwenigsten Revolutionäre.“

– Prof.Dr. Adolf Helbrok

„Ich muss dringend mit Deinen Eltern sprechen“, sprach mich unvermittelt mein Geschichtslehrer in der Pause vor der Unterrichtsstunde an. Überrascht hob ich meinen Kopf, denn ich war gerade in das Beiheft einer Musikgruppe aus dem süddeutschen Raum vertieft, um noch schnell für die Deutschstunde danach den darin befindlichen Abdruck von „Feiger Gedanken…“ von J. W. von Goethe auswendig zu lernen. Dieses Gedicht schien mir sehr erhebend und trotzig zugleich und es hatte den entscheidenden Vorteil, dabei auch noch unheimlich kurz zu sein. Sie ahnen es: Die berüchtigte ‚Sturm und Drang-Zeit’ war angebrochen. Später sollte ich von meinen Eltern erfahren, dass mein Lehrer von mir wünschte, Journalist zu werden. Mit der Zukunft oder besser dem Schicksal eines Erwachsenen wollte ich mich indes noch nicht beschäftigen. Diese Neigung, Unangenehmes verdrängen zu wollen, hat meine Tochter wohl von mir übernommen. Es stimmt scheinbar, was ich irgendwo einmal gelesen habe: Man lernt sich selbst durch seine Kinder besser kennen. Das Klingelzeichen unterbrach meine gute Vorbereitung (*hüstel*) und das Thema der Stunde sollte der Vormärz sein. Eigentlich fiel mir das Fach Geschichte nicht schwer. Wo andere Kinder früher draußen spielten, hatte ich, mehr oder weniger krankheitsbedingt, wie Ernesto Che Guevara in meinem Bett Bücher gewälzt und mir, verglichen mit anderen Altersgenossen, ein respektables Allgemeinwissen angeeignet. Dieses Thema indes langweilte mich zu Tode. Sicher auch, weil mein kurz vor der Pensionierung stehender Lehrer seine DDR-Sozialisation nicht ganz hatte abwerfen können, und in dieser spielte dieses Ereignis doch, im Gegensatz zu der Industrialisierung und dem entstehenden Proletariat, eine eher untergeordnete Rolle, wenn nicht gar ein belächeltes Schattendasein. Was aber vermittelt wurde, war das Narrativ der Bundesrepublik und das ließ sich auf ‚demokratische Vorkämpfer scheitern bei dem Versuch, Deutschland zu einen und eine demokratische Republik zu errichten’ reduzieren. Es lag also auf der Hand: Dieses Vorhaben war erst 1989 dank der Beharrlichkeit eines Helmut Kohls geglückt und führte die von den Märzrevolutionären angestrebte Freiheit, Volksherrschaft und Einigkeit schließlich zu ihrer historischen Veredelung. Zwar war mein Interesse begrenzt, doch die Ereignisse und Akteure waren mir sehr wohl bekannt. So konnte ich tun, was ich wollte, aber in meiner Vorstellung vertrugen sich ein Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher einfach nicht mit einem Ernst Moritz Arndt und einem Friedrich Ludwig Jahn. Noch gut erinnerte ich mich daran zurück, wie meine Eltern vor dem Mauerfall Westfernsehen schauten und ich mich manchmal dazugesellte. Und wenn der Nachrichtensprecher damals von meiner Heimat sprach, so tat er es noch mit dem Wort ‚Mitteldeutschland’. Über Nacht war diese geografische Bezeichnung dann gegen ‚Ostdeutschland’ getauscht worden, von dem ich nur wusste, dass Oma damals aus ihm nach ‚Mitteldeutschland’ fliehen musste. Verdutzt rieb ich mir die Augen, denn von einer erneuten Verschiebung der Kontinentalplatten hatte ich nichts mitbekommen und so war mir die neue Ortsbestimmung höchst suspekt geblieben. Ausgehend von dem Menschenschlage in meinem Elterhaus und in dem meiner Freunde schenkte ich revolutionärem Treiben sowieso noch wenig Beachtung, denn in diesem Umfeld hatte sich leider nicht der Typus Mensch kultiviert, der 1989 auf die Straße ging. Viel besser war es wohl, die Ereignisse aus der Distanz eines Fernsehapparates zu beobachten und abzuwarten, wer das Rennen nun macht. Zwanzig Jahre vergingen, bis ich mich diesem Thema wieder über Umwege zuwenden sollte. Den Ausschlag gab dabei das im Jahre 1938 erschiene Werk des US-amerikanischen Historikers Clarence Crane Brinton „The Anatomy Of Revolution“. Brinton erkannte anhand von vier Revolutionen (der englischen 1640,  amerikanischen 1776, französischen 1789 und russischen 1917) gewisse Gleich- bzw. Gesetzmäßigkeiten (Gemeinsam- bzw. Regelmäßigkeiten), ohne parteiisch zu werden oder gar einen doktrinären Duktus zu pflegen. Mir sprang sofort die Idee in den Kopf, seine Maßstäbe an die „bürgerliche Revolution“ anzulegen. Meine Herangehensweise ist wie folgt: Zuerst werde ich einen möglichst kurzen Abriss der Ursachen bis zu den eigentlich revolutionären Ereignissen liefern – das alles nicht unter Außerachtlassung der für sie prägenden Geisteswelten. Danach wage ich den Einstieg in Brintons „Vier-Revolutionen-Typologie“ (Martin Lauermann) mit einigen zentralen Annahmen desselbigen, um dann noch stärker auf die Symptomatik einzugehen. Ist dies dann geklärt, widme ich mich dem Dilemma der „Gemäßigten (Revolutionäre)“ und wende mich wieder den Ereignissen von 1848/49 zu. Den Abschluss bilden eine Zusammenfassung der Gründe des Scheiterns und eine Bewertung. Anmerkung für Hypertoniker: Der Artikel soll weder als ein Pro noch als ein Contra zur Staatsform der Monarchie gewertet werden. Für mich, als jemanden, der in Teilen der Rechten sozialisiert wurde, wo man über diese Jahre besonders abfällig sprach, erzielte die Arbeit daran fast so etwas wie eine Art therapeutische Wirkung.

Die Krankenakte

oder

Über gewollte und ungewollte Vaterschaften

„Aber es hatte in Frankreich die große Revolution gegeben(…) Hier war sie, die Nation, die große Nation, in der die Bürger den Staat zu dem ihren gemacht hatten. Dies regte die deutschen Denker umso mehr auf, als sie erkannten, was den Franzosen da im Prinzip gelungen war: Dies war die Chance realer politischer Verwirklichung von Identität.“

– Bernard Willms – Die Deutsche Nation Theorie Lage Zukunft

Der Platz vor der Frankfurter Paulskirche war gefüllt von 2000 Protestierenden, die Einigkeit und Recht und Freiheit forderten. Was sich anhört wie eine PEGIDA-Demonstration des Jahres 2018, fand in Wirklichkeit im Frühjahr 1848 statt und war eine der ersten Episoden der ‚Deutschen Revolution von 1848’.

Am 9. Juni 1815 endete der Wiener Kongress. Die Vertreter der dynastischen Großmächte, allen voran der mentatengleiche Kanzler des Habsburger Reiches, Clemens Wenzel Fürst von Metternich, hatten sich darum bemüht, den „Status quo ante bellum“ in Einbeziehung gewisser territorialer Veränderungen zu restaurieren. „Balance of power“ schien das Gebot der Stunde zu sein. Begonnen hatte das muntere Beisammensein bereits am 14. September des Jahres 1814, jedoch verzögerte besonders das erneute Erscheinen Napoleons am 1. März 1815 auf der Karte der Weltpolitik den erfolgreichen Abschluss. Einhundert Tage lang sollte es dem Korsen noch einmal gelingen, die Welt in Atem zu halten. Dann endete auch dieses Intermezzo in einem kleinen belgischen Ort namens Waterloo. Der Napoleon in der Schlacht von Waterloo war eben nicht mehr derselbe Napoleon, der einst bei Jena und Auerstedt gesiegt hatte. Die französischen Besatzungstruppen waren vertrieben, doch gewisse Ideen und Erkenntnisse aus den Jahren verblieben in den Köpfen der Menschen. Auch wenn Napoleon versuchte „die Idee der Nation (…) im Sinne schlecht verdauter Aufklärung als Menschheitsidee“[i] gewaltsam zu verbreiten, so wurde er doch durch die „Zerschlagung“ der „althergebrachten deutschen Kleinstaaterei“ unfreiwillig zum „Baumeister der deutschen Einheit“[ii].

Zurück nach Wien. Was brachten die Verhandlungen dem deutschen Vaterland? Mit einem Worte: Nichts! Was den deutschen Volksgeist in den von Preußen ausgegangenen Befreiungskriegen sowie durch die preußischen Reformer beflügelt hatte, wurde schnell auf den Boden der Realität und politischen Zweckmäßigkeiten zurückgeholt. Von einem Reich aller Deutschen keine Spur. Man hatte sich in der ‚Bundesakte’ auf einen Deutschen Bund, bestehend aus 38 Staaten, regiert von einer Unzahl von Potentaten (darunter auch die Könige von England, Dänemark und den Niederlanden), geeinigt. Der Bundestag sollte unter dem Vorsitz Österreichs in Frankfurt am Main tagen, Beschlüsse mussten einstimmig sein. Auch ohne Sabotage durch die Habsburger, denen ihre Neuerwerbungen in der Lombardei und Illyrien weitaus wichtiger erschienen als den Flickenteppich in Deutschland zu bereinigen, war es illusorisch zu denken, dieser Bundestag könnte irgendetwas Bahnbrechendes beschließen. Zur Ehrenrettung Habsburgs sei aber gesagt, dass die Unterstützung einer nationalen Einigung Deutschlands und die damit verbundene Signalwirkung an andere Völker das fragile Habsburgerreich wahrscheinlich seine Existenz gekostet hätte. Im September 1815 hatte Metternich mit Gründung der ‚Heiligen Allianz’, einem Bund der drei Monarchien Russland, Österreich und Preußen, einen weiteren Schritt zur Zementierung der alten starren Ordnung getan.

Preußens Neuerwerbungen, besonders die von Habsburg aufgegebene Westgrenze des Reiches, ließen es nun durch ganz Deutschland reichen. Es übernahm die „Wacht am Rhein“[iii]. Was Prophetie war, wurde allmählich Wirklichkeit – doch noch passte Preußen das Kostüm nicht. Getragen wurden die vaterländischen Ideen fortan hauptsächlich im Privaten durch Männer wie Ernst Moritz Arndt oder in Vereinen, wie denen des Friedrich Ludwig ‚Turnvater’ Jahns sowie den am 12.06.1815 in Jena gegründeten deutschen Burschenschaften. Maßgeblich von Studenten getragen, fand 1817 das berühmte ‚nationale’ Wartburgfest statt. Einen herben Rückschlag erhielten diese Avantgardisten nach dem Mord an dem anti-nationalen Dichter August von Kotzebue, durch die, nicht zuletzt auch auf Druck des Auslandes entstandenen, Karlsbader Beschlüsse von 1819, die im deutschen Bund ‚Gedankenpolizei’ und Pressezensur bis ins Unerträgliche verstärkten. Ernst Moritz Arndt verlor seine Professur; Turnvater Jahn wurde verhaftet. Dennoch vollzog sich in den kommenden Jahren, dem uns als Biedermeier bekannten Zeitraum, im Denken des Bürgertums eine fruchtbare, in Teilen fantastische Symbiose des deutschen Idealismus eines Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes (bei dem wir das erste Mal das Wort ‚völkisch’ finden) mit Ideen der Aufklärung (allen voran Johann Gottfried Herders) und dem durch die Romantik noch stärker erwachten gemeinsamen Traditions- und Geschichtsbewusstseins. Auch war Hegels ‚Vernunftstaat’, unzertrennlich mit der Idee einer Nation verbunden, ein wichtiger Faktor ‚geistiger Befruchtung’.

Bis zum ‚Hambacher Fest’ mit 30.000 Teilnehmern am 27. Mai 1832, auf dem das erste Mal die vom Lützowschen Freikorps getragenen Farben Schwarz-Rot-Gold als Nationalfarben präsentiert wurden und laut der Ruf nach Einigkeit und Freiheit ertönte, sollten aber noch weitere 13 Jahre vergehen. Preußen indes kam seiner geschichtlichen Mission mit der Schaffung eines 18 Staaten umfassenden deutschen Zollvereines im Jahre 1834 näher und streifte damit nicht nur einen wirtschaftlichen Hemmschuh ab. Um die Geistesfreiheit war es derweil weiterhin schlecht bestellt: Nationalfarben wie Versammlungen blieben verboten. Groß war die Empörung, als der nach Ende der Personalunion mit England als König Ernst August von Hannover eingesetzte Herzog von Cumberland die Landesverfassung von 1833 wieder aufhob. Als die sogenannten ‚Göttinger Sieben’, in die Geschichte eingegangene Professoren (unter ihnen auch die Brüder Wilhelm und Jacob Grimm), dagegen protestierten, wurden sie ihrer Ämter enthoben und drei von ihnen sogar des Landes verwiesen. 1840 übernahm der als ‚Romantiker auf dem Thron’ bekannte König Friedrich Wilhelm der IV. die preußischen Amtsgeschäfte, sorgte für die Freilassung inhaftierter Burschenschaftler und setzte darüber hinaus Arndt und Jahn wieder ein. Schließlich ließ er am 3. Februar 1847 einen Vereinigten Landtag einrichten – den Lauf der Geschichte aufzuhalten, vermochte er nicht.

Beginnend in Oberitalien kam es in ganz Europa zu Aufständen, die schließlich zur Entmachtung des französischen Königs Louis-Philippe I. und des österreichischen Kanzlers von Metternich führten. Begonnen hatte die ‚1848er Revolution’ dort, wo sie 1849 auch mit der Brechung des letzten Widerstandes enden sollte: im Großherzogtum Baden. Was mit der Forderung Daniel Bassermanns im badischen Landtag nach einer Volksvertretung im deutschen Bund am 12. Februar ihren Anfang nahm, gipfelte schließlich in der Mannheimer Großkundgebung vom 27. Februar, wo ein in den wesentlichen Bestandteilen auch von den anderen aufständischen Ländereien des Deutschen Bundes übernommenes Revolutionsprogramm präsentiert wurde. Unter diesem Druck übertrugen die Fürsten Süd- und Mitteldeutschlands ihre Macht überraschend schnell den neugegründeten Märzministerien. Den symbolischen und blutigen Höhepunkt erreichten die Erhebungen am 18. März in Berlin wohl „ungewollt, mehr durch Versehen“[iv], als bei Schießereien und Barrikadenkämpfen 180 Aufständische ums Leben kamen.

Die Reaktion Friedrich Wilhelms des IV. beschreibt der Historiker Diwald wie folgt: „Der König, unschlüssig und zerrissen wie niemals vorher und später, fiel den vordringenden Truppen in den Arm, ließ die Kämpfe einstellen und befahl den Abzug aller Militäreinheiten aus der Stadt. Das vergossene Blut hatte ihn derart konsterniert, dass er sich willenlos den Vorschlägen der Revolutionäre beugte. Am 21. März, um die Mittagszeit, bestieg er ein Pferd und ritt durch Berlin. Ihm voran wurde eine schwarz-rot-goldene Fahne getragen, er selbst war mit einem gleichfarbigen Band geschmückt. Nachdrücklicher konnte er seine Reverenz vor der Revolution seiner “lieben Berliner“ gar nicht erweisen.“[v]

Diese fromme Geste darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die revolutionären Energien in Deutschland schnell wieder erschöpft waren. Richtungsstreitigkeiten machten die Märzparlamente handlungsunfähig und schwächten die revolutionären Truppen. Im Hintergrund hatten indes die Planungen für eine deutsche Nationalversammlung, die zuerst über ein sogenanntes Vorparlament gingen, begonnen, um eine einheitliche Reichsverfassung auszuarbeiten. Deren Abgeordnete trafen sich zu ihrer ersten Sitzung am 18. Mai 1848 in der Paulskirche zu Frankfurt a. M. Fortan stritten sich Anhänger der kleindeutschen, großdeutsch-föderalistischen und großdeutsch-republikanischen Lösung, während die wirkliche Politik außerhalb dieser Mauern gemacht wurde. Angemerkt sei hierbei, dass die radikalsten Vertreter einer großdeutschen, auf Volkstumsgrenzen aufbauenden, anti-monarchistischen Lösung vornehmlich im linken Lager anzutreffen waren. Als in der Mitte des Jahres der Konflikt mit Dänemark in der schleswig-holsteinischen Frage eskalierte, handelte Preußen im Alleingang. Ein Affront gegenüber den Vertretern des Volkes. Einen weiteren Strich durch die Rechnung der Parlamentarier machte im November der neue österreichische Regierungschef Felix zu Schwarzenberg, welcher unmissverständlich klarstellte: „Nicht im Zerreißen der Monarchie liegt die Größe, nicht in ihrer Schwächung die Kräftigung Deutschlands. Österreich ist ein deutsches wie ein europäisches Bedürfnis.“[vi]

Am 28. März des Jahres 1849 präsentierte die Nationalversammlung endlich eine ‚Verfassung des Deutschen Reiches’. Gesiegt hatte die kleindeutsche Lösung mit einem Erbkaisertum, welches Preußen innehaben sollte. Österreich protestierte scharf, die Reaktion der ausländischen Großmächte war eisig. Friedrich Wilhelm der IV. empfing die Delegierten am 3. April und lehnte höflich ab. Man hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, der weder von der Legitimation einer Krönung durch Bürgerhand überzeugt war, noch das weltpolitische Schachbrett außer Acht gelassen hatte.

Das Ende ist dann schnell erzählt: Die Nationalversammlung zerbrach und es kam in einigen deutschen Staaten zu Versuchen, die Annahme der ‚Reichsverfassung’ gewaltsam zu erzwingen. Neben dem bereits erwähnten, kurzzeitig erfolgreichen (Militär-) Aufruhr in Baden soll hier auch der siebentägige Aufstand der Dresdner Bürgerschaft Anfang Mai 1849 genannt werden, auch weil er verhältnismäßig blutig verlief und durch die Teilnahme von Prominenten, wie dem großen Komponisten Richard Wagner oder dem „Berufsrevolutionären“ und Anarchismus-Theoretiker Michail Bakunin, welcher sich nach dem gescheiterten Prager Aufstand in Dresden versteckte und erst zur Teilnahme überredet werden musste, einen Bonus in Sachen Prominenz und politischem Exotentum erhielt. Dieses Mal jedoch wurde mit aller Konsequenz niedergeschlagen, wobei u. a. die Regenten Habsburgs, Badens und Sachsens einen erheblichen Prestigeverlust erlitten, da die Konterrevolution ohne ‚ausländische’ Waffenhilfe (in Habsburg Russland, in Sachsen u. Baden Preußen) zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.

Suche nach der Krankheit und einem Gegenmittel

oder

Ausflug in die Revolutionstheorie

Wie kommt eine Revolution überhaupt zustande bzw. wann wird aus einer kleinen Revolte ein Volksaufstand? Bevor ich zu gewissen Faktoren der Entstehung und einer Analyse der interessanten Stadien komme, findet sich bei dem Geschichtswissenschaftler Alain Felkel eine Begriffsdefinition:

„Oft beginnen Aufstände mit der Revolte Einzelner, die sich gegen einen von ihnen als Unrecht empfundenen Zustand empören. Erfasst diese Revolte von Individuen kleinere Gruppierungen und springt sie von diesen auf größere Teile der Bevölkerung über – und sogar andere Landesteile – , wird diese Revolte zur Rebellion oder zum Aufstand. Wird dieser Aufstand von Volksmassen getragen und entsteht er spontan, spricht man vom Volksaufstand. Ein Volksaufstand, der nicht nur auf bloßer Ablehnung unbeliebter Regierungsmaßnahmen beruht und lediglich punktuelle Veränderungen fordert, sondern das ganze Herrschaftssystem beseitigen will und ein revolutionäres Programm entwickelt, ist eine Revolution.“[vii]

Den Rest unserer Reise wird uns nun Crane Brinton mit seiner ausgesprochenen Scharfsinnigkeit begleiten. In seiner mehrfach ausgezeichneten Arbeit vergleicht er Revolutionen mit einem ausbrechenden Fieber und sieht auch den Verlauf dem einer Fieberkurve ähnlich, an dessen Ende oft auch die „Wiederherstellung des früheren Zustandes“[viii] eintreten kann: „Schließlich ist das Fieber vorbei und der Patient wieder gesund, vielleicht sogar in mancher Hinsicht durch das Erlebnis gestärkt, jedenfalls für einige Zeit gegen einen ähnlichen Anfall immunisiert, aber ganz bestimmt nicht in einen vollständig neuen Menschen verwandelt.“[ix] Prägnant liefert er auch eine Formel zur Entstehung: „Eine menschliche Gesellschaft kann offenkundig nur in unvollkommenem Gleichgewichte sein, in einem Zustand, in welchem die verschiedenen und gegensätzlichen Wünsche und Gewohnheiten der einzelnen und der Gruppen auf komplizierte Weise aufeinander abgestimmt sind.(…) Wenn neue Wünsche entstehen oder alte Wünsche in verschiedenen Gruppen stärker werden oder wenn sich die Umweltbedingungen ändern, die Einrichtungen aber unverändert bleiben, dann kann eine verhältnismäßige Störung des Gleichgewichts eintreten und eine Revolution ausbrechen.“[x]

Die sicheren Symptome sind laut Brinton rar gesät und auch der Beginn ist schwer zu prophezeien. Das sicherste Symptom  „(…)fanden wir in dem Abfall der Intellektuellen“[xi]. Aber Gründe bzw. „Vorzeichen“ für eine Revolution fänden sich in „dieser Art (…) in fast jeder modernen Gesellschaft zu jeder Zeit.“[xii] und so sei „eine Diagnose der Revolution in ihrem Frühstadium äußerst schwierig“ [xiii]. Die wirkliche Revolution jedoch, „komme immer überraschend“[xiv]. „Sie muss aber tatsächlich in der Luft liegen, nicht nur im Munde der berufsmäßigen Seher und ängstlichen Konservativen. Sie muss vor allem über den Abfall der Intellektuellen hinausgreifen.“[xv] Außerdem müsse in Rechnung gestellt werden, dass es nicht unbedingt die eigene Stärke der Revolutionäre war, die ihnen zum Erfolg verhalf, sondern die Schwäche der Gestürzten. Sie umgibt bereits ein Fäulnisgeruch:„(…) zweifelt die alte herrschende Klasse, oder jedenfalls ein großer Teil ihrer Angehörigen, an sich selbst. Sie verliert den Glauben an die Traditionen und Sitten ihrer Klasse, ein Teil wird intellektuell, humanitär, genauer humanitaristisch, geht gar zu den angreifenden Truppen über. Ein größerer Teil als sonst gibt sich Ausschweifungen hin, aber das ist weniger symptomatisch als der Verlust der befehlsgewohnten Haltung.“[xvi] Und so ist es auch nicht überraschend, wenn sie, konfrontiert mit dem Volksaufstand, kolossal scheitern: „In allen vier Revolutionen aber ist die mangelhafte, ungenügende Gewaltanwendung seitens der Regierung auffälliger als etwa die geschicktere Gewaltanwendung ihrer Gegner.“[xvii]

Bitte schreiben Sie sich folgenden Merksatz Brintons hinter die Ohren, denn er wird uns auch bei der Bewertung der Vormärz-Revolution noch einmal begegnen: „Noch nie ist eine Regierung von Revolutionären gestürzt worden, ehe sie die Herrschaft über ihre Truppen oder die Fähigkeit zu deren zweckmäßigen Einsatz verloren hätte. Umgekehrt hat noch keine Revolution gesiegt, ehe sie das Übergewicht der militärischen Machtmittel auf ihre Seite gebracht hatte.“[xviii]

Wenden wir uns nun den Machern der Revolution zu. Entgegen dem populären Narrativ „scheinen [Revolutionen] ihren Ursprung in der Unzufriedenheit von Leuten zu haben, denen es ganz gut geht, die sich aber eingeengt, behindert, belästigt[…] fühlen. Diese Revolutionen wurden nicht von Verelendenden und Verhungernden begonnen.“[xix]

Wer nun meint, dies klinge aber doch eher ernüchternd, denn man habe doch bei dem Wort Revolution heroische Bilder brustentblößter Amazonen im Kopf, die das arg gebeutelte Volk mit der roten Fahne oder einer Tricolore über die Barrikaden zum Kampf gegen die Unterdrücker führen, dem gebe ich Recht. Wer macht nun eigentlich die Revolution? Sind es Verschwörungen von Dunkelmännern im Hintergrund, die das Volk, um mit Joachim Fernau zu sprechen, „nach vorne drängeln“[xx]? Berühmt wurde dahingehend die Feststellung Brintons: „Was die aktiven Führungsgruppen betrifft, so findet man dort sehr wenige Vertreter der untersten Volksschichten.[…] Der Mob, der Pöbel mag zu Straßenkämpfen oder Schlösserverbrennungen herbeigerufen werden, aber er „macht“ bestimmt nicht die Revolution und leitet sie nicht – auch nicht proletarische Revolutionen.“[xxi]. Um näher auf die von mir gestellte Frage zurückzukommen: „Die eine Seite behauptet, dass diese ruhmvollen ersten Schritte der Revolution fast spontan seitens einer einigen Nation erfolgen, die sich in all ihrer Macht und Tugend erhebt, um ihre Bedrücker in die Schranken zu weisen. Die andere Seite behauptet, dass die ersten Schritte die Frucht einer Reihe ineinander verzahnter Verschwörungen sind, die von kleinen, aber entschlossenen Gruppen Missvergnügter ausgehen.“[xxii] Er schlussfolgert dabei „dass beide Erklärungen ein gewisses Körnchen Wahrheit enthalten.“[xxiii] Der einen großen Verschwörung erteilt er dabei aber eine eindeutige Absage: „Man sieht nur Gruppen von der Art, wie der Soziologe sie überall findet: „Druckgruppen“, Ansätze politischer Parteien, halbreligiöse oder halbverrückte Sekten. Es findet sich aber kein Beweis dafür, dass diese sehr verschiedenen Gruppen im Juli 1789 von einer Zentralstelle aus dirigiert, von einem geheimen Direktorium geleitet wurden.“[xxiv] Diese Aussage soll aber keinesfalls den maßgeblichen Anteil dieser „Druckgruppen“ herunterspielen. Blättert man nämlich weiter, begegnet einem folgende Beobachtung: „Wie die anderen Revolutionen war auch die amerikanische teilweise das Ergebnis der Tätigkeit einer aktiven, fähigen und keineswegs kleinen Minderheit, die ihrerseits eine große Mehrheit bearbeitete, die genug Grund zur Unzufriedenheit hatte, um sich im richtigen Augenblick aufhetzen zu lassen.“[xxv] Soziologisch betrachtet, sind diese „Druckgruppen“ schwer zu fassen und können in den vier von Brinton analysierten Revolutionen „nicht präzise als Angehörige bestimmter sozialer oder wirtschaftlicher Gruppen klassifiziert werden(…).“[xxvi]

Dies ist eine schwierige Gemengelage. Spielte in England und Russland das Bürgertum bei der Revolution keine hervorstechende Rolle, so waren doch in Nordamerika Kaufleute oder in Frankreich Anwälte überrepräsentiert. Die Wahrscheinlichkeit für Revolution sei allerdings höher „wenn es sich um einander benachbarte Gesellschaftsklassen handelt […].[xxvii] Darüber hinaus entwickelte Brinton gewisse Typen eines Revolutionärs. Da der Artikel den angestrebten Umfang sprengen wird, verbleibe ich bei einer kurzen Auswahl derselbigen. Ihnen seien die „Männer der Tat“[xxviii], benannt mit Persönlichkeiten wie Cromwell, Bonaparte oder Stalin entgegengestellt:

  • Der irrende Obere: entstammt der herrschenden Klasse, lehnt sie aber beflügelt von dem ‚Abfall der Intellektuellen’ ab. Seine Unfähigkeit bei der Bewährung in der eigenen Schicht ist nicht auszuschließen, daher erfolgt oft ein nahtloser Übergang zum ‚Gescheiterten’.
  • Die Gescheiterten: müssten eigentlich ‚die gescheiterten Intellektuellen’ heißen und tauchen bei Brinton auch noch einmal als ‚Fanatiker’ auf. Eigentlich sind es Idealisten, aber mit misanthropischen und egomanischen Zügen versehen. Sie sind unerlässlich in der Führung der Massen.
  • Der Idealist: ist oft zu finden bei den ‚abgefallenen Intellektuellen’. Es handelt sich um einen honorigen Typen, der auch in der Lage sein kann, realistisch zu handeln, die meiste Zeit aber in einer Traumwelt verbringt.
  • Der Spinner: ist ein doktrinärer Exzentriker, der oft permanent im Krieg mit seiner Umwelt ist. Beachtlicherweise ist er den „Männern der Tat“ nicht unähnlich, aber unfähig, so skrupellos oder pragmatisch zu handeln. Dieser wird als eines der ersten Kinder der Revolution gefressen.

Wenn das Fieber unaufhörlich steigt

oder

Das Dilemma der Gemäßigten

Sind die ersten Hürden genommen und die alte Ordnung gebändigt oder gar beseitigt, übernehmen laut Brinton die Gemäßigten der Revolutionäre die Regierung. „In diesem chaotischen Zustand scheint das Handeln der Gemäßigten ein gleichförmiger Zug aller Revolutionen zu sein. Gefühl und Erziehung zwingen sie, einen Versuch zur Beendigung der Unordnung zu machen, soviel wie möglich von der gewohnten Routine zu retten.“[xxix] Die Macht in dieser Phase der Revolution zu übernehmen, entpuppt sich für sie als Schwäche. Eine entscheidende Ursache dafür findet sich in dem berühmten Tocqueville- Paradoxon, nach welchem „sich mit dem Abbau sozialer Ungerechtigkeiten gleichzeitig die Sensibilität gegenüber verbleibenden Ungleichheiten erhöht“. Dieses Phänomen war auch nicht unschuldig an dem Abritt der vorherigen Herrschaftsklasse, nun aber sorgt es dafür, dass „die Gemäßigten das Vertrauen [Schritt für Schritt verlieren], das sie sich als Gegner des alten Regimes erworben haben […]. Die Gemäßigten werden in die Defensive gedrängt und machen Fehler auf Fehler, unter anderem deshalb, weil sie so wenig an die Defensive gewöhnt sind.“[xxx] Ihr Ende besiegeln die gemäßigten Revolutionsführer schließlich, wenn es darum geht, die opponierenden radikalen Kräfte notfalls mit Waffengewalt zu neutralisieren: „In allen unseren Gesellschaften stehen die Gemäßigten früher oder später vor der Aufgabe des Krieges […]. Es scheint klar zu sein, dass die Gemäßigten nicht erfolgreich Krieg führen können. Warum […]? Zweifellos spielt die Hingabe der Gemäßigten an den Schutz der individuellen Freiheitsrechte mit. Wenn man Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit allzu ernst nimmt, kann man keine Armee organisieren. Moderne Kriege machen es anscheinend notwendig, auch die Zivilregierung zu militärartig zu organisieren.“[xxxi]

Will man all diese Erkenntnisse in einem kurzen Satz zusammenfassen, so liefert uns diesen Brinton selbst: „Nach jeder Krise neigen die Sieger dazu, sich in einen rechten Flügel, der an der Macht ist, und einen linken, der opponiert, zu spalten. Bis zu einem bestimmten Stadium endet jede Krise mit dem Sieg der radikalen Opposition.“[xxxii]

Der Tote auf dem Seziertisch

Der große deutsche Historiker und Schüler von Hanns-Joachim Schoep, Hellmut Diwald, nannte die ‚Revolution von 1848/49’ „eine bürgerliche Revolution unter sozialen Vorzeichen“[xxxiii], für Arthur Moeller van den Bruck war sie nicht echt[xxxiv], für Karl Marx und Friedrich Engels ebenso wenig[xxxv]. Richtig ist auf jeden Fall, dass wir es bei unserem Betrachtungsobjekt, ganz im Gegensatz zu denen eines Crane Brinton, mit einer gescheiterten Revolution zu tun haben. Gescheiterte Revolutionen seien laut dem US-Amerikaner dazu geeignet, „unterdrückte Nationalitäten zusammenzuschweißen“[xxxvi], welche dann in Korrelation mit der Zahl der fehlgeschlagenen nationalen Befreiungsschläge einen enorm „hochgespannten Patriotismus“ verbunden mit „Selbstbemitleidung“ entwickeln, welcher sie nahezu „unbesiegbar“ mache[xxxvii]. Für unsere Beobachtung ist dies nicht von Belang, es sei denn, wir würden unsere Beobachtungen vornehmlich auf das Habsburger Reich ausrichten. Diwald auch, dass die: „Notwendigkeit, der Rang, das Recht(…) nicht mit Hilfe des Begriffspaares “Erfolg und Misserfolg“ bemessen[xxxviii].“ werden könnten. Brinton teilte die vier betrachteten Revolutionen ihrem Ziel nach in „territorial-nationale“ (die amerikanische)[xxxix] und „sozialer, beziehungsweise klassenmäßiger“(die englische, französische und russische)[xl] ein. Die Einordnung der 1848er-Revolution fällt dabei nicht leicht. Sicher überwog das Nationale, das Volk auf dem ganzen Territorium ein wollendes Element, wie auch Joachim Fernau in seinem Bestseller „Deutschland, Deutschland über alles“ feststellte[xli]. Aber auch soziale Gründe spielten eine Rolle, wenngleich auch nicht im Sinne der zahlreichen Revolten vor dem Schicksalsjahr 1848. Für die aus dem Bürgertum stammenden Hauptakteure der Revolution ging es bei den sozialen Forderungen aber hauptsächlich um politische Partizipation und Freiheit in Wort und Schrift. Ausdruck findet dies auch in der erarbeiteten Reichsverfassung, „in der wie in der Assemblée Nationale von 1789 die akademische Führungsschicht des Bürgertums praktisch allein das Staatsvolk repräsentiert(…)“[xlii] Sie waren auch nicht wie in den vier anderen Revolutionen „besser organisiert“ oder hatten „die bessere Leute“ mit „besserem Gehorsam[xliii] als die Regierung der Gegenseite, was vielleicht u. a. auch erklärt, warum die Nationalversammlung in Deutschland nicht denselben Druck ausüben konnte wie ihr Konterpart in Frankreich. Was das Proletariat betrifft, so befand es sich erst in der Entstehung und so machten beispielsweise Fabrikarbeiter in keinem der deutschen Staaten mehr als 3 -13% des Volkes aus. So findet man sie in der Revolution auch nur „als bewaffnete Hilfstruppen(…), zahlenmäßig beschränkt und im Übrigen ohne “proletarisches“ Klassenbewusstsein.“[xliv] Besonders die radikalen Linken, die für eine großdeutsche Republik und strikt gegen die Monarchie eintraten, demagnetisierten im Volke die ganze Revolutionsbewegung, da, man könnte mit Antonio Gramci sprechen, eine „kulturelle Hegemonie“ für solche Ideen noch nicht bereitet war (Vergleich Novemberrevolution 1918).

Ein weiterer Unterschied ist, dass 1848/1849 die Gemäßigten nicht den schwachen Radikalen, sondern den sich schnell erholenden Konterrevolutionären unterlagen. Dies war aber, auf das Gesamte betrachtet, nach Brintons Theorie kein besonderer Fall – es handelte sich wohl nur um ein sehr kurzes Fieber, was nach einer kurzen Besserung des Allgemeinbefindens abnahm, dann wieder aufflammte und den Kranken schließlich in seinem schlechten Ursprungszustand zurückließ.[xlv]

Protokoll des Gerichtsmediziners

„Mit Luther endet man beim Frieden von Münster und Osnabrück, mit Calvin beim britischen Empire.“ – Joachim Fernau

Es gibt ihn, den oft beschworenen „deutschen Sonderweg“, wenn auch nicht in demselben Kontext, wie man ihn uns heute gerne präsentieren will. Bernard Willms beschreibt ihn besonders im Gegensatz zu der Entwicklung des Nachbarlandes Frankreich wie folgt: „Aufgrund ihrer alten, eigentümlich germanischen Stammesorganisation, aufgrund des historischen Eigensinns seit Karl dem Großen, aufgrund der Belastung durch den Reichsgedanken, der faktisch in Deutschland territoriale Zersplitterung begünstigte, und vor allem dann durch die Reformation und den Dreißigjährigen Krieg war in Deutschland jene flächenstaatliche Einigung nicht erfolgt.“[xlvi] Zwar hatten sich die Revolutionäre auf ein relatives Grundprogramm geeinigt, doch kann von einer gemeinsamen Stoßrichtung dennoch keine Rede sein. Wie sollte eine Abschüttlung der Kleinstaaterei auch so einfach vonstatten gehen? Auch die Revolutionäre waren Kinder ihrer Zeit, die zwar versuchten „all-deutsch“ zu denken, aber in einer Realität lebten, in der der ebenfalls deutschblütige Nachbar nicht einmal die selben Maßeinheiten benutzte wie er selbst. Was sich dann im März abspielte, kam überraschend: „In allen europäischen Ländern, die von den Erhebungen erfasst wurden, brach der konservative Widerstand in kurzer Zeit zusammen, haben sich die Bewahrer den neuen Kräften rasch als Verbündete angeboten, waren die liberalen Forderungen bald in aller Munde […][xlvii].

Ein Anfang also wie im Bilderbuche: Die Obrigkeit schreckt vor der Anwendung von Gewalt zurück oder setzt sie wie in Berlin ungenügend ein, um sich dann noch, um bei diesem Beispiel zu bleiben, Asche über das Haupt zu streuen und sich dabei ihrer Symbolik zu bedienen.[xlviii] Ein großer Erfolg also, der nicht zuletzt für die Revolutionäre vollkommen überraschend kam, ja Prof. Dr. Adolf Helbrok merkt sogar an, sie seien „geradezu erschreckt gewesen“[xlix].

Die Zugeständnisse, die nun von Seiten der Fürsten- und Königshäuser kamen, sorgten, entgegen dem Tocqueville-Paradoxon, nicht für ein Fortschreiten des revolutionären Prozesses, sondern erstickten mehr und mehr die revolutionären Kräfte und ihre inneren Widersprüche machten sich zunehmend bemerkbar. In ihren monatelangen Endlosdebatten verspielte die Nationalversammlung immer mehr ihre Kredibilität beim Volke. Bei dem Versuch unzufriedener Radikaler im September, gewaltsam die Paulskirche zu stürmen, griff man dann sogar auf kurfürstliche Truppen zurück. Die Gegenregierung der Revolutionäre hatte der Idealisten zuviel und diese zeigten sich unfähig „die innere Schwäche aller betroffenen Staaten[…], diese politischen Vergreisungen auszunützen“[l]. Die Ursache dafür sieht Helbrok vor allen Dingen darin, dass „sie […] selbst ängstlich auf Legitimität bedacht [waren und] ein blindes Vertrauen zu Verfassungsplänen [hatten]“ und „nicht auf den Gedanken [kamen], dass nur ein Wandel in der Verteilung der politischen Kräfte den Verfassungsprojekten zur Wirkung verhelfen konnte.“[li] Ähnliches findet sich auch bei Moeller van den Bruck: „Auch die Achtundvierziger wollten nicht eigentlich Umsturz, sondern Erneuerung, und alles, was revolutionär an ihnen war, verhinderte eher, dass die deutschen Entscheidungen, die in ihr Zeitalter fielen, von ihnen selbst herbeigeführt wurden.“[lii]

Die Oberhäupter der Kleinstaaten konnten trotz anfänglicher Schwächen auf „Männer der Tat“ besonders in der Form des preußischen Königs hoffen, die die Richtung der Konterrevolution rechtzeitig mit nötiger Rücksichtslosigkeit korrigierten. Und so sieht das Autoren-Trio Bollmann, March und Petersen das Scheitern „am Ende an dem Selbstbehauptungswillen und der noch immer vorhandenen Lebenskraft der deutschen Dynastien von Wien bis Berlin, an dem Fehlen militärischer, finanzieller und administrativer Machtmittel der Verfassungsväter und letztlich auch an dem Mangel an politischen Engagement in breiten Volksschichten, insbesondere auf dem Lande[liii] geschuldet.

Männer, die bereit waren bis zum Äußersten zu gehen, wie die Rechtsanwälte Friedrick Hecker, Gustav Struve oder Vollblutrevolutionäre aus ärmlichen Verhältnissen wie Robert Blum und Stephan Born, bleiben eine kleine Minderheit. Wo sie und ausländische „Berufsrevoluzzer“ wie Bakunin wirkten, hielten sich die ‚Volksregierungen’ am längsten, war aber auch der Blutzoll am höchsten. Die Richtigkeit von Brintons Theorien zeigt sich auch an dem langen Ausharren der Revolutionäre im Großherzogtum Baden, was eindeutig mit dem Überlauf von 20.000 Angehörigen des badischen Militärs zusammenhing. Ansonsten konnte nirgendwo die Elite der bürgerlichen Revolution, tapfere und geradezu fanatisch kämpfende Turner, den Mangel an professionellem militärischem Personal und militärischer Führung sowie das Fehlen des Nachschubs und der Technik (besonders Artillerie) kompensieren. Das auf die anderen vier Revolutionen anwendbare bekannte Wort von James Madison, wonach „der Krieg (…) die Mutter der Machtvermehrung der Staatsführung“ sei, ist aus diesem Grund für unsere Gegenregierungen nicht anwendbar. Karl-Heinz Weißmann sieht die Lehren aus 1848/49 wie folgt: „Keine freiheitliche Verfassung ohne Besitz der Macht, sie einzurichten und zu erhalten, insoweit kein Vorrang des einzelnen vor dem Ganzen, kein Heil in der utopischen Konstruktion, nur im geduldigen, die geschichtlichen Bedingungen kalkulierenden Aufbau, keine fremden Modelle, lauter Sonderwege.“[liv]

Nein, dieser deutsche Sonderweg bedurfte einer unkonventionellen Lösung frei von Sentimentalitäten, ergebnisorientiert, skrupellos und vor allem ‚machiavellistisch’. Sie sollte erst eine gute Dekade später in einem Mann wie Bismarck gefunden werden, der „mit seinem Willen horchend an demjenigen des Schicksals lag und aus dessen Stimmen die Kraft zog, selber Schicksal zu sein […][lv], wie Moeller van den Bruck bemerkte, um dann hinzuzufügen: „Bismarck setzte sich gegen alle Widerstände durch[…], wenn [es] sein musste, […] in unserem eigenen querköpfigen Volkscharakter, der manchmal durchaus nicht will, dass uns geholfen werden soll.[…] Er zwang die Verhältnisse in seine Dienste: und zwang sie so, dass sein Werk am Ende nicht zum wenigsten das seiner Gegner war, denen alles, was sie unternahmen, zu seiner Absicht geriet.“[lvi]

Fürwahr als gelungenen Revolutionsversuch taugt die bürgerliche Revolution genauso wenig wie als Beispiel einer weltbürgerlichen Demokratiebewegung im BRD-Geschichtsunterricht. Doch bei allem Erstaunen über die Naivität und Inkonsequenz der Handelnden darf man doch nicht außer Acht lassen, dass die Ideen der Nationalversammlung von 1848/49 schließlich in der Reichsverfassung 1871 ihre Verwirklichung fanden. Musste dafür Blut fließen? Die Frage ist müßig. Weißmann trifft wohl den Kern, wenn er schreibt: „Der Idealismus des Vormärz hatte wie jeder Idealismus seine Schwächen und Fehler und Lächerlichkeiten, aber auch seine historische Notwendigkeit. Ohne sie war das überschießende Moment nicht zu haben, das am Anfang jeder politischen Bewegung vorhanden sein muss(…)[lvii]

Nicht ohne Grund nennt Diwald den Sieg der Konterrevolution 1849 einen Pyrrhussieg.

Ich für meinen Teil habe mich mit diesen Männern versöhnt und habe dazu bei Helbrok die schönsten Worte für einen Abschluss gefunden:

 „Man darf da nicht in nörgelnde Kritik am einzelnen eintreten, man muss das Wollen dieser Männer und ihren Geist im Ganzen großherzig ansehen, so wie sie es waren. Spiegelte sich in ihnen nicht das ganze deutsche Volk, einerseits in dem anständigen idealen Geist des 18. Jahrhunderts, andrerseits in der Buntheit der Ideen und des Wollens des 19. Jahrhunderts? Und war es nicht deshalb zum Scheitern verurteilt, weil es so typisch deutsch unpolitisch war?“[lviii] (Adolf Helbrok)

Literaturhinweise

[i] Bernard Willms: Die Deutsche Nation. Theorie. Lage. Zukunft. S.72

[ii] Prof. Dr. Adolf Helbrok: Deutsche Volksgeschichte II. S.275

[iii] Rolf Hellberg: Kleine deutsche Geschichte. S. 88

[iv] Prof. Dr. Hellmut Diwald: Geschichte der Deutschen. S. 341

[v] ebd.

[vi] ebd., S.351

[vii] Alain Felkel: Aufstand. Die Deutschen als rebellisches Volk. S.15

[viii] Crane Brinton: Anatomie der Revolution. S. 26.

[ix] ebd., S.27

[x] ebd., S.26

[xi] ebd. S. 276

[xii] ebd.

[xiii] ebd. S. 81

[xiv] ebd. S.82

[xv] ebd.

[xvi] ebd. S.277

[xvii] ebd.

[xviii] ebd. S.109

[xix] ebd., S.275

[xx] Joachim Fernau: Cäsar lässt grüßen. Die Geschichte der Römer. S. 24

[xxi] Crane Brinton: Anatomie der Revolution. S.124

[xxii] ebd. S.97

[xxiii] ebd. S.100

[xxiv] ebd. S.101

[xxv] ebd. S.103

[xxvi] ebd. S.124

[xxvii] ebd. S.276

[xxviii] ebd. S.137

[xxix] ebd. S.93

[xxx] ebd. S.158

[xxxi] ebd. S. 143

[xxxii] ebd. S.165

[xxxiii] Prof. Dr. Hellmut Diwald: Geschichte der Deutschen. S.341

[xxxiv] Arthur Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich. S.1 und S. 16. „Wir haben in unserer Geschichte noch keine politische Revolution gehabt. Es ist wohl ein Zeichen, dass wir erst in der Mitte unserer Geschichte stehen.“(S.1) und „Die deutsche Geschichte war eine unrevolutionäre Geschichte.“ (S.16)

[xxxv] In: „Neue Rheinische Zeitung´“, 15. Dezember 1848

[xxxvi] Crane Brinton: Anatomie der Revolution. S.35

[xxxvii] ebd.

[xxxviii] Prof. Dr. Hellmut Diwald: Geschichte der Deutschen. S.356

[xxxix] Crane Brinton: Anatomie der Revolution. S.34

[xl] ebd. S.35

[xli] vgl. Joachim Fernau: Deutschland, Deutschland über alles. S. 214. „Sie hatte nichts mit den französischen Ideen gemeinsam(…) Sie war eine nationale Flamme.“

[xlii] Peter Bollmann, Ulrich March, Traute Petersen: Kleine Geschichte Europas. S.151

[xliii] Crane Brinton: Anatomie der Revolution. S.154

[xliv] Peter Bollmann, Ulrich March, Traute Petersen: Kleine Geschichte Europas. S.151

[xlv] vgl. Crane Brinton: Anatomie der Revolution.

[xlvi] Bernard Willms: Die Deutsche Nation. Theorie. Lage. Zukunft. S.71

[xlvii] Karl-Heinz Weißmann: Alles was recht(s) ist. Ideen, Köpfe und Perspektiven der politischen Rechten. S.137

[xlviii] Friedrich Wilhelms IV. Gemahlin Elisabeth bemerkte bei dieser Geste: „Jetzt fehlt nur noch die Guillotine“. In: Prof. Dr. Hellmut Diwald: Geschichte der Deutschen. S.356

[xlix] Prof. Dr. Adolf Helbrok: Deutsche Volksgeschichte II. S.279

[l] Prof. Dr. Hellmut Diwald: Geschichte der Deutschen. S.356

[li] Prof. Dr. Adolf Helbrok: Deutsche Volksgeschichte II. S.287

[lii] Arthur Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich. S.16

[liii] Peter Bollmann, Ulrich March, Traute Petersen: Kleine Geschichte Europas. S.151

[liv] K-H. Weißmann: Alles was recht(s) ist. Ideen, Köpfe und Perspektiven der politischen Rechten. S.141

[lv] Arthur Moeller van den Bruck: Das Dritte Reich. S.3

[lvi] ebd.

[lvii] K-H. Weißmann: Alles was recht(s) ist. Ideen, Köpfe und Perspektiven der politischen Rechten. S.143f.

[lviii] Prof. Dr. Adolf Helbrok: Deutsche Volksgeschichte II. S.285f.