Im Gespräch mit Wolfgang Bendel

von | 30. Mrz. 2023 | Deutschland und die Welt, Im Gespräch

Die geopolitische Geltung Brasiliens und Lateinamerikas wird gern unterschätzt, wenn nicht sogar vollkommen aus der Betrachtung ausgeschlossen, angesichts Spielern wie den USA, Russland oder China. Das folgende Interview mit Wolfgang Bendel, dessen Wahlheimat das größte Land ebenjenes Kontinents ist, soll Licht ins Dunkel bringen. Bereits in Werken wie, „Der phantastische Kontinent„, schreibt Bendel eingehender über die Eigenarten dieses Erdteils und seiner Bedeutung für die restliche Welt. Bendel ist ebenso Verfasser der Werke „Aristokratie – Eine Streitschrift“ sowie Mitverfasser des „Areopag I – Die neue Aristokratie„.

Das Interview führte Peter Steinborn, vom MetaPol Verlag.

 

Sehr geehrter Herr Bendel, vielen Dank, dass Sie uns dieses Interview geben. Sie hegen seit Ihrer Kindheit eine Faszination für Lateinamerika, haben sogar ein Buch über den „Phantastischen Kontinent“ geschrieben und leben auch seit vielen Jahren in Brasilien. Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen mit Ihnen über Ihre Wahlheimat zu sprechen und Ihnen einige Fragen zu stellen.

Können Sie uns bitte die demografische Situation näherbringen? In Brasilien leben schwarze und weiße Menschen nebeneinander bzw. in einer Art Koexistenz. Was ist eigentlich typisch brasilianisch? Kann man das so überhaupt sagen? Mit welchem europäischen Land ist Brasilien am vergleichbarsten? Was macht die Nation Brasilien aus?

Erlauben Sie mir zunächst zwei grundsätzliche Anmerkungen zum allgemeinen Verständnis des Landes und seiner Bewohner. Brasilien gehört nicht nur, was die Fläche und die Bevölkerungszahl, sondern auch was die Wirtschaftskraft betrifft zu den zehn bedeutendsten Staaten der Erde. Brasilien ist eine Großmacht. Dieser Tatsache sind sich viele Menschen inner- und außerhalb des Landes nicht immer bewusst. Gleichzeitig kann man Brasilien nicht als ein typisches Land der Dritten Welt bezeichnen. Stattdessen leben dort Erste und Dritte Welt zusammen oder besser gesagt nebeneinander vor sich hin. Es gibt dort beispielsweise eine hochmoderne Flugzeugindustrie, während andererseits Gegenden existieren, die nach wie vor ohne Stromversorgung und fließendes Trinkwasser auskommen müssen. Jetzt aber zu Ihren Fragen.

Nach Jahrzehnten starken Bevölkerungswachstums beginnt sich dieses entscheidend abzuschwächen. Momentan leben laut dem vorläufigen Zensus von 2022 208 Millionen Menschen in dem tropischen Großreich, im letzten Jahrzehnt stieg die Bevölkerung nur mehr um 0,7% jährlich und auch dieses geringe Wachstum dürfte bereits bald ganz zum Stillstand kommen.

In Brasilien gibt es grob gesagt vier Bevölkerungsgruppen. Menschen europäischer Abstammung, Mischlinge, zumeist Mulatten, Schwarzafrikaner und die Ureinwohner des Landes. Hinzu kommen noch Asiaten in relativ geringer Zahl, vor allem Japaner. In letzter Zeit stieg zudem die Zahl von arabischstämmigen Zuwanderern. Im Süden und Südosten dominieren eindeutig die Weißen, in den anderen Regionen die Mulatten, während die Schwarzen sich auf den Bundesstaat Bahia und dort vor allem auf den Großraum der Regionalhauptstadt Salvador konzentrieren. Die Indianer leben mehrheitlich in abgelegenen Gebieten wie dem Amazonas. Diese geographische Verteilung hat eher historische als aktuelle oder wirtschaftliche und soziale Gründe.

Was die Brasilianer als Nation zusammenhält ist die gemeinsame Sprache und der Stolz in einem sehr großen Land zu leben. Früher sagte man zudem häufig im Scherz, dass das dritte Symbol der Einheit der Fußball ist. Nach den Misserfolgen bei den letzten Weltmeisterschaften ist dies immer weniger der Fall. Nationale Minderwertigkeitskomplexe wie in manchen anderen lateinamerikanischen Republiken findet man hier erfreulicherweise nicht. Ansonsten sind die Unterschiede zwischen den Regionen, Brasilien wird in fünf Großregionen eingeteilt, sehr groß. Kulturell, sozial, wirtschaftlich und auch was die Zusammensetzung der Bevölkerung betrifft. Brasilien ist mit keinem europäischen Staat vergleichbar. Ein Freund bemerkte mir gegenüber scherzhaft, dass ihn Neapel am ehesten an Brasilien erinnern würde. Es ist neben Indien das einzige tropische Großreich auf unserem Planeten.

 

Welche Religionen spielen in dem Land des Brasilholzbaumes eine Rolle? Welchen Einfluss haben die religiösen Gruppen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik?

Früher war Brasilien katholisch. In den letzten Jahrzehnten gingen Einfluss und Bedeutung der katholischen Kirche immer mehr zurück. Deren Anpassung an den linksliberalen Zeitgeist machten viele Gläubige nicht mit und schlossen sich zahlreichen evangelikalen Gruppen an. Das sind neben den alteingesessenen Gruppen wie den Baptisten oder den Methodisten unzählige Glaubensgemeinschaften, die häufig in Brasilien gegründet wurden. Einige davon wie die Igreja Universal verfügen über Millionen von Anhängern und breiteten sich in viele Länder der Welt aus. Inzwischen dürfte nur mehr gut die Hälfte der Brasilianer der katholischen Kirche angehören. Der Bundesstaat Rio de Janeiro war der erste, in dem die Katholiken in die Minderheit gerieten. Andere folgten. Der Einfluss der evangelikalen Gruppen ist erheblich. Bolsonaro hatte seinen überraschenden Wahlsieg zu einem guten Teil diesen Leuten zu verdanken. Die katholische Kirche hingegen geriet zunehmend ins Fahrwasser linker Gruppierungen, wobei sie dabei nicht die Richtung bestimmt, sondern diesen hinterherläuft. Das wiederum wollten viele Gläubige nicht mehr länger mitmachen.

 

Welche Rolle spielen heute noch die indigenen Kulturen in der brasilianischen Gesellschaft und der Politik?

In der alltäglichen Realität spielen sie keine ernsthafte Rolle, dafür umso mehr in der Propaganda, vor allem wenn es um das Amazonasgebiet geht. Schon vor vielen Jahren fragte ich einen Indianer, warum die indigenen Sprachen in Brasilien vom Aussterben bedroht sind. Er antwortete: „Alle sprechen Portugiesisch, mit meiner Sprache kann ich mich nur in einem sehr begrenzten Umfeld verständigen. Anders gesagt, für viele junge Leute ist es schlicht unnötig und weitgehend sinnlos, die eigene Sprache zu lernen, weil man sich mit ihr fast nirgends verständigen kann.“ Das Problem ist dabei, dass es in Brasilien keine dominierende indianische Sprache gibt wie in Paraguay, Ekuador oder Peru, sondern zahlreiche sehr unterschiedliche Sprachen. Die Kultur der Indianer bzw. deren Schutz wird nur dann aus der Versenkung geholt, wenn europäische Staaten oder die USA samt ihren „Nichtregierungsorganisationen“ ihre neokolonialistischen Ansprüche auf das Amazonasgebiet ideologisch begründen wollen.

 

Brasiliens Geschichte wirkt auf uns Europäer etwas surreal. Von der Kolonialzeit über das König- und Kaiserreich mit seinen beiden Epochen bis hin zu einer Militärdiktatur. Die „Republica Velha“ hielt immerhin ca. vier Jahrzehnte. Heute versteht sich das Land als Präsidialdemokratie. In dieser Demokratie kommen immer wieder Korruptions- und Justizskandale ans Tageslicht. Ist Brasiliens Demokratie, das sich erst seit 1993 endgültig als Republik verstehen wollte, bereits jetzt in einer Krise? Wenn ja, wie zeichnet sich diese Krise/wie zeichnen sich diese Krisen aus?

Dass Brasilien 67 Jahre lang ein Kaiserreich war, ist der Hauptgrund dafür, dass das portugiesische Kolonialreich in Lateinamerika nicht in verschiedene kleinere Staaten zerfiel wie das spanische. Der Kaiser, der übrigens aus dem portugiesischen Königshaus stammte, als Symbol der Einheit verhinderte dies, obwohl es auch in Brasilien zu Beginn starke separatistische Strömungen gab. Die Demokratie befindet sich weltweit in einer Legitimationskrise, das ist in Brasilien nicht anders. Auch in Brasilien ist immer weniger von der vielgerühmten Gewaltenteilung zu sehen, um nur ein Beispiel zu nennen. Erst kürzlich wurde Sergio Cabral, der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro unter Auflagen wieder auf freien Fuß gesetzt, obwohl er aufgrund unzähliger Fälle von Korruption, Unterschlagung und Diebstahl über vierhundert (!) Jahre Gefängnis erhalten hatte. In einer funktionierenden Demokratie hätte dies zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit führen müssen. Stattdessen wurde dieser skandalöse Vorgang nur kurz am Rande erwähnt und kaum kritisiert. Wie alle Demokratien befindet sich auch Brasilien in einer Dauerkrise, ein grundsätzlicher Unterschied zu anderen Regionen der Welt ist nicht erkennbar. Die Gleichheit vor dem Gesetz gehört auch in Brasilien der Vergangenheit an mit dem Unterschied, dass es diese in Brasilien eigentlich nie gab.

 

Wie viel Macht hat der Präsident in Brasilien tatsächlich? Ist diese präsidiale Führung mit den USA vergleichbar?

Das politische System Brasiliens ist mit dem der USA oder Frankreichs vergleichbar. Formell ist die Machtfülle des Präsidenten erheblich, eine Tatsache, die Bolsonaro viel zu selten mit Leben erfüllte. Natürlich braucht der Präsident auch die Zustimmung des Kongresses bei Gesetzesvorhaben. Der Oberste Gerichtshof spielte gerade während der Präsidentschaft Bolsonaros eine Rolle, die weit über seinen Kompetenzen lag. Vor allem der Vorsitzende Richter Alexandre de Moraes benahm sich zeitweise, als sei er der wirkliche Präsident des Landes. Warum Bolsonaro sich das gefallen ließ bzw. die Machtfülle von Moraes nicht stutzte, ist auf den ersten Blick kaum nachzuvollziehen und bleibt der Spekulation überlassen. Die Erklärungen reichen vom „Tiefen Staat“, der sein Unwesen treibt bis zum Vorhandensein von erpresserischem Material, mit dem man Bolsonaro einschüchtern konnte.

 

Mit Jair Bolsonaro kam ein dem heutigen in Brasilien offenbar diametral gegenüberstehender Präsident auf die Bühne. Dieser sorgte in der ganzen Welt für Schlagzeilen. Hierzulande wird er nicht selten als Rechtsextremer und Rassist bezeichnet. Tatsächlich repräsentierte er die weiße Bevölkerung in Brasilien. Der nun amtierende Präsident Lula da Silva steht für die komplett gegenteilige Politik. Wie kam es, dass solch stark unterschiedliche Kandidaten hintereinander die Amtsgeschäfte übernahmen? Wie gespalten ist Brasilien eigentlich?

Brasilien ist zutiefst gespalten. Das zeigten die Ereignisse vom 8. Januar dieses Jahres, als Anhänger Bolsonaros die Kongressgebäude und weitere öffentliche Einrichtungen in Brasilia stürmten, weil sie die Ergebnisse der Wahl vom Oktober 2022 nicht anerkennen wollten. Dass dieser Sturm unsinnigerweise an einem Sonntag geschah, als kein Politiker von Einfluss sich in den Gebäuden aufhielt, soll hier nicht weiterverfolgt werden. Die Tatsache an sich zeigt aber, dass der Riss in der brasilianischen Gesellschaft sehr tief ist. Inhaltlich unterscheiden sich Lula und Bolsonaro weniger als es uns die Propaganda weißmachen will. Beide sind Populisten, der eine ein linker, der andere ein rechter. Einig sind sie sich beispielsweise darin, im Ukrainekonflikt neutral zu bleiben und großzügige Sozialprogramme aufzulegen.

Bolsonaro ist genauso wenig ein Rechtsextremist wie Lula ein Kommunist ist. Es ist auch nicht richtig, dass Bolsonaro die weiße Bevölkerung und Lula die farbige Bevölkerung repräsentiert. Allenfalls könnte man sagen, dass der eine mehr von Weißen, der andere mehr von Farbigen gewählt wird. Von den fünf Großregionen, die ich schon erwähnte, gewann Bolsonaro vier, Lula nur eine, den bevölkerungsreichen Nordosten. Letzteren aber mit großem Vorsprung. Von den vier Großregionen, die Bolsonaro gewann, sind nur zwei von Weißen dominiert.

Der Wahlausgang war ziemlich knapp und Lula war der einzige Politiker, der Bolsonaro besiegen konnte. Alle anderen hätten keine Chance gehabt. Deshalb wurde Lula aus dem Gefängnis geholt, obwohl er bereits in zweiter Instanz wegen Korruption etc. verurteilt worden war. Man muss an dieser Stelle betonen, dass die Politiker Brasiliens in erster Linie eigennützige Interessen haben denn politische. Inhaltliche Forderungen werden häufig nur benutzt, um handfeste, persönliche und finanzielle Interessen durchsetzen zu können. Dies erklärt hinreichend, warum man auf die ziemlich exotische Idee kam, Lula mittels juristischer Winkelzüge aus dem Gefängnis zu holen und als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Es ging und geht um Geld und Einfluss, viel weniger um ideologische Zielvorstellungen. Das wird im Ausland häufig nicht erkannt. Letztlich wollten die Kreise, die Lula unterstützen, wieder an die Fleischtöpfe der Macht zurück. Ganz banal gesprochen. Das ideologische Getöse drumherum sollte man nicht allzu ernst nehmen.

Schaut man sich die politische Karriere von Bolsonaro an, stellt man fest, dass dieser in vielen verschiedenen Parteien Mitglied war. Man bekommt regelrecht den Eindruck, als handle es sich eher um einen Suchenden oder Karrieristen denn einen politischen oder ideologischen Führer.

Bolsonaro ist ein letztlich unpolitischer Mensch, der unter Einfluss der erwähnten evangelikalen Kirchen und durch die Streitkräfte sozialisiert zu einigen Positionen kam, die heute als rechts oder gar „rechtsextrem“ gelten, vor einigen Jahrzehnten aber noch Mainstream waren. Ich würde ihn als Karrieristen bezeichnen, der vermutlich zu seiner eigenen Überraschung zum Präsidenten gewählt wurde. Brasilien ist mehrheitlich eine konservative Gesellschaft, und die Menschen waren es nach 16 Jahren leid gewesen, von der linken PT regiert zu werden. Bolsonaro ist sicherlich kein politisch-ideologischer Überzeugungstäter. In vielem erinnert er an Trump. Er kam an die Macht, konnte sich dort aber nicht dauerhaft etablieren, weil er es während seiner Amtszeit versäumte die dazu nötigen Strukturen zu schaffen. Zu Beginn seiner Amtszeit verließ er im Streit die Partido Social Liberal (PSL), blieb dann zwei Jahre parteilos, um im Wahljahr schließlich als Kandidat der Partido Liberal (PL) den Wahlkampf zu bestreiten. Er unternahm auch keinerlei Versuche, den Obersten Gerichtshof STF in seine verfassungsmäßigen Schranken zu verweisen. Aus dem Gesagten erkennt man ein großes Maß an Desorganisation und Planlosigkeit, ein Verhalten das für Bolsonaro typisch und charakteristisch ist. Manche politischen Beobachter warfen ihm sogar „Faulheit“ vor.

 

Bolsonaro steht als Ex-Militär für die Sympathien im Land für die Militärdiktatur ab den 60er Jahren. Ab Mitte der 1970er Jahre erfuhr Brasilien unter General Ernesto Geisel einen regelrechten Wirtschaftsboom. In dieser Zeit war die politische Rechte am stärksten. Wie stark ist der Rückhalt in der Bevölkerung für rechte Politiken? Wie stark sind die Sympathien für die Militärdiktatur und von wen gehen sie aus?

Die Ereignisse zu Beginn des Jahres und nach der verlorenen Wahl vom Oktober 2022 zeigen deutlich, dass es ein großes Potenzial für rechte Politik in Brasilien gibt. Die trotz ihres Namens rechtsgerichtete PL wurde bei den Kongresswahlen sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat zur stärksten Partei und überholte die bis dahin führende PT. Zudem gewannen die PL und ihre Verbündeten bei den Gouverneurswahlen mehrere wichtige Bundesstaaten, darunter São Paulo und Rio de Janeiro. Die Militärregierung steht besonders bei älteren Menschen nach wie vor hoch im Kurs, wobei auch Verklärung dabei ist. Die Militärs modernisierten das Land, verbesserten die Infrastruktur entscheidend und hielten die Kriminalität in Grenzen. Das historisch größte Wirtschaftswachstum Brasiliens fiel genau in diese Zeit. Versäumt wurde es allerdings, die Militärherrschaft politisch-ideologisch zu begründen. Außer plattem Antikommunismus kam da nichts. Das rächt sich heute. Auch die Monarchie verfügt weiterhin über viele Anhänger. Allerdings gelingt es beiden Strömungen nicht, sich als glaubhafte Alternative zur Demokratie zu präsentieren. Letztlich sehen wir in Brasilien dieselbe Entwicklung wie in vielen Teilen der Welt. Die Demokratie als angeblich alternativlose Staatsform stößt unübersehbar an ihre Grenzen, aber gangbare Alternativen sind noch nicht ins Bewusstsein vieler Menschen eingedrungen.

 

Doch innerhalb der Zeit der Generäle leidet die Linke im Land unter massiver Repression. Viele Menschen wurden in dieser Zeit inhaftiert, mussten ins Exil fliehen oder erfuhren Berufs- und Ausbildungsverbote. Diese Ereignisse liegen gerade einmal zwei Generationen zurück. Es wurde Mitte der 1990er Jahre eine „Wahrheitskommission“ eingerichtet, um die Menschenrechtsverletzungen während dieser Zeit aufzuarbeiten. Dies zeigt, dass die Sympathien für die Militärregierungen nicht von allen geteilt werden. Welche Auswirkungen hat das auf die sehr heterogene Gesellschaft in Brasilien? Handelt es sich hier um unüberwindbare Gräben? Wenn ja, was glauben Sie, wie diese geschlossen werden könnten?

In diesem Zusammenhang ist eine Zahl interessant. Während der Militärdiktatur wurden in Brasilien 400 politische Gegner getötet. Dies stellte eine offizielle Kommission vor einigen Jahren fest. In Argentinien waren es 30 000, in Chile 3 000, um nur zwei der wichtigsten Nachbarstaaten zu nennen. Dies zeigt bereits, dass die Diktatur in Brasilien bei weitem nicht so repressiv war wie in anderen Ländern. Das entgegengesetzte Narrativ der Linken dient mehr der Selbstbeweihräucherung als dass es an Fakten festzumachen wäre.

 

Welche Rolle spielen die Militärs heute noch? Immer wieder wird die Angst vor einem erneuten Putsch in den westlichen Medien skizziert. Ist das real oder nur Propaganda?

Die Militärs betrachteten den Wahlsieg von Lula mit Skepsis. Ein Putsch war allerdings zu keiner Zeit eine ernsthafte Option. Demonstrationen der Anhänger von Bolsonaro gleich nach der Wahl, in denen ein Eingreifen der Militärs gefordert wurde, hatten keinerlei Erfolg. Das Militär erkannte mehrheitlich das Wahlergebnis trotz einiger offen vorgebrachter Zweifel an dessen Korrektheit an.

 

Immerhin war Brasilien eine nicht unbedeutende Zeit eine Monarchie. Sie selbst sind bekennender Anhänger einer Aristokratie, wie die Schriften und Essay von Ihnen beweisen. Wie stark ist die monarchistische Bewegung in Brasilien? Halten Sie eine Rückkehr für möglich?

1993 gab es eine Abstimmung über das politische System. Zur Auswahl standen dabei Republik oder Monarchie. Die Republikaner erhielten 43,8 Millionen Stimmen, die Monarchisten 6,8 Millionen, 12,9 Millionen enthielten sich der Stimme oder lehnten beide Vorschläge ab. Die Monarchisten sind also eine gar nicht so kleine Minderheit. Es gibt mehrere monarchistische Zirkel und ein Nachfolger des Kaiserhauses, Luiz Philippe de Orléans e Bragança ist für die PL Abgeordneter für São Paulo im Repräsentantenhaus. Sollte sich die Demokratie weiter delegitimieren, wonach es aussieht, ist eine Rückkehr zu einer erneuerten Monarchie nicht mehr auszuschließen.

 

Das Land steht vor gewaltigen innenpolitischen Herausforderungen. Die soziale Schere geht immer weiter auseinander. Die kommunalen Kassen sind blank. Es existiert eine strikte selbstgewählte Segregation zwischen den Rassen. Jetzt behaupten Bolsonaros Anhänger und er selbst, dass die Wahlen auf einem Betrug aufsetzen, was das Vertrauen in die neue Regierung, ähnlich wie in den USA, weiter unterminieren dürfte. Steht Brasilien vor einem Zusammenbruch? Wie stabil sind Gesellschaft, Politik und Wirtschaft aus Ihrer Sicht?

Brasilien ist stabiler als viele lateinamerikanische Nachbarrepubliken. Niemand hat ein Interesse, weder die Amerikaner noch die Chinesen, Russen oder Europäer und am allerwenigsten die Brasilianer selbst, dass ein Land von der Größe und Bedeutung Brasiliens im Chaos versinkt. Trotz der erwähnten tiefen Spaltung des Landes halte ich weder einen Bürgerkrieg noch ein Abgleiten in venezolanische Verhältnisse für denkbar. Wobei man heutzutage besser das Wörtchen „vorläufig“ hinzufügen sollte. Der brasilianische Real ist in den letzten Jahren eine vergleichsweise stabile Währung geworden, die Inflation ist niedriger als in den USA oder Europa. Inwieweit die Regierung Lula diese unbestreitbaren Erfolge der Ära Bolsonaro wieder zunichtemachen wird, kann nur die Zukunft zeigen. Bezüglich des Stichworts „Zusammenbruch“ wage ich die Prognose, dass wohl eher die EU als Brasilien zusammenbrechen wird.

Die brasilianische Gesellschaft ist weniger entlang rassischer als vielmehr entlang sozialer Unterschiede gespalten. Eine rassische Segregation ist, soweit überhaupt noch vorhanden, überall auf dem Rückzug. Anders sieht es bei den sozialen Unterschieden aus. Eine gleichmäßige Entwicklung ist angesichts der Größe des Landes, seiner unterschiedlichen Landschaften und Bevölkerungsgruppen unmöglich. Hinzu kommen tiefe kulturelle und mentalitätsmäßige Unterschiede. Ein Bewohner des nordöstlichen Bundesstaates Bahia hat mit einem Brasilianer aus den südlichen Bundesstaaten Santa Catarina oder Parana nur den Pass und die portugiesische Sprache gemeinsam. Zuwanderer aus diesen Landesteilen bezeichne ich bei uns in Bahia gerne scherzhaft als „brasilianische Gringos“. Ihre Versuche, im Nordosten geschäftlich oder erwerbsmäßig Fuß zu fassen, scheitern oft an der Unfähigkeit die Mentalität der Brasilianer des Nordostens zu verstehen und richtig einordnen zu können.

Dass in Brasilien sehr reiche und sehr arme Menschen leben, hat Tradition, und es ist nicht erkennbar, warum sich das ändern sollte. Denn auch die „linke“ PT und ihr Idol Lula sicherten sich die Mitarbeit und Unterstützung vieler der reichsten Familien und Unternehmer des Landes. Millionär und „links“ zu sein gilt in Brasilien nicht als Widerspruch. Bezeichnend dafür war es, dass die erste Aktivität von Lula nach seinem Wahlsieg und noch vor der Amtsübernahme ein Flug im Privatjet eines befreundeten Multimillionärs auf die Umweltkonferenz nach Kairo war.

Bemerkenswert ist, dass Lula und seine PT schon bei ihrem ersten Amtsantritt 2003 begannen, die Großunternehmer und kapitalstarken Familien auf ihre Seite zu ziehen, indem sie an diese umfangreiche Staatsaufträge vergaben. Damit unterschieden sie sich als erste grundlegend von linken Regierungen anderer Länder, die schnell mit Verstaatlichungen begannen, sobald sie an die Macht gekommen waren. Inzwischen macht dieses Beispiel in anderen Ländern Lateinamerikas Schule wie die Fälle Chile, Kolumbien oder Mexiko zeigen, wo die neugewählten Linksregime gar nicht daran denken, Unternehmen zu verstaatlichen oder Multimillionäre zu enteignen.

 

Kommen wir zur Geopolitik. Es findet ein immer stärker zu betonendes Tauziehen zwischen den USA und den BRICS-Staaten statt. Brasilien ist eine von diesen Nationen. Brasilien befindet sich immerhin genauso wie Kuba und Venezuela auf dem Doppelkontinent des Weltenherrschers. Bekommt man eine Konkurrenz zum US-amerikanischen Hegemon in Brasilien zu spüren? Unter Bolsonaro wurde eine eher nationalistische Politik betrieben, was sicherlich den Interessen der USA zuwidergelaufen sein dürfte. Wie wird es mit dem neuen Präsidenten weitergehen? Wie nachhaltig ist die geopolitische Linie der Linken in Brasilien?

Auf einer privaten Feier in Brasilia, an der zahlreiche Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und Botschaften vertreten waren, erlaubte ich mir die provokative Feststellung, dass Lula wohl deshalb so massiv von den USA und der EU unterstützt werde, weil er leichter zu kontrollieren sei als Bolsonaro. Zu meiner Überraschung stieß ich nicht auf Widerspruch, sondern auf Zustimmung. Damit ist ein Dilemma angesprochen, in dem Lula steckt. Einerseits will und darf er seine Gönner und Unterstützer im Westen nicht enttäuschen, andererseits muss er berücksichtigen, dass viele seiner inländischen Anhänger keinesfalls wollen, dass Brasilien wieder ein Opfer des Neokolonialismus wird und der brasilianische Präsident nur Befehlsempfänger des US-Botschafters ist. Was LGBT und den angeblichen Schutz des Amazonasurwalds betrifft, unterwirft sich Lula widerspruchslos den Vorgaben aus Washington und Brüssel. Beim Ukrainekrieg hingegen nicht, um ein entgegengesetztes Beispiel zu geben. Ebenso ist nicht vorgesehen, die BRICS Staaten zu verlassen. Auch das geplante gemeinsame Währungsprojekt mit Argentinien deutet in eine andere Richtung, denn ein solches Projekt würde zweifellos die Position des US-Dollars in der Region schwächen.

 

Bolsonaro wurde in Deutschland von den Rechten ähnlich wie Donald Trump als „ein Mann, der aufräumt“ gefeiert. Wie viel ist von diesen Hoffnungen Ihrer Meinung nach übriggeblieben?

Bolsonaro fiel durch zwei Verhaltensweisen auf. Große und teilweise dummes Sprüche zu klopfen und diesen keine Taten folgen zu lassen. Für eine deutsche Zeitung führte ich kurz nach der Wahl Bolsonaros ein Interview mit dem inzwischen leider verstorbenen Senator Olimpio aus São Paulo, der damals einer der wichtigsten Verbündeten Bolsonaros war.  Olimpio hoffte in dem Gespräch noch, dass Bolsonaro eine rechte Agenda durchziehen würde, darunter die Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der allseitigen Korruption. Kurz darauf entzweiten sich die beiden, weil Bolsonaro seinen Versprechen keine Taten folgen ließ. Viele Anhänger Bolsonaros projizieren Erwartungen in diesen, die er weder erfüllen konnte noch wollte.

 

Brasilien nimmt immerhin fast die Hälfte der südamerikanischen Flächen ein. Drückt sich dies auch in seinem Einfluss auf den Kontinent aus?

Die Großmacht Brasilien übt schon aufgrund ihrer geopolitischen und wirtschaftlichen Bedeutung eine Hegemonie im südamerikanischen Halbkontinent aus. Argentinien, das lange Zeit als Hauptkonkurrent galt, fiel inzwischen weit zurück. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass wie von mir erwähnt beide Länder Bestrebungen ankündigten, eine gemeinsame Währung, den „Sur“ einzuführen. Inwieweit dieses Projekt jemals Realität werden kann, bleibt dahingestellt, da beide Länder inzwischen wirtschaftliche Welten trennen. So hat Brasilien beispielsweise eine Inflation von unter 5%, während Argentinien eine solche von fast 100% aufweist. Schon bald nach der Ankündigung wurde dann erläuternd von einer „gemeinsamen Werteeinheit“ gesprochen, worunter man die Vorstellung verbindet, finanzielle Transaktionen zwischen den beiden Ländern nicht mehr auf Dollarbasis, sondern auf Basis des neu zu schaffenden „Sur“ zu tätigen. In jedem Fall erkennt man, dass in Südamerika nichts ohne brasilianische Beteiligung läuft. Und in Zukunft erst recht nicht.

Verschiedene PT-Regierungen finanzierten große Infrastrukturmaßnahmen in „befreundeten“ Ländern wie Kuba oder Venezuela, was immer wieder zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen führte. Es wurden ideologische Interessen unterstellt, die innerbrasilianischen infrastrukturellen Notwendigkeiten zuwiderliefen. Auch die neue Regierung unter Lula ist sich der Tatsache bewusst, dass Brasilien eine aktivere Außenpolitik vor allem auch gegenüber den Nachbarländern betreiben muss als ihre außenpolitisch weitgehend passive Vorgängerregierung.

 

Deutschland hat sich in der Vergangenheit während der Amtszeit Bolsonaros außenpolitisch sehr zurückgehalten. Teilweise sogar ähnlich wie ggü. US-Amerika in der Trump-Ära ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Der Staatschef wurde hierzulande als rechtsextrem und verrückt betitelt. Nun war sogar der Bundespräsident Steinmeier kurz nach der Amtseinführung Lulas vor Ort. Im Zentrum bundesdeutscher Interessen soll der Regenwald stehen. Bolsonaro hat sich klar aus deutscher Sicht eher umweltfeindlich zum Regenwald positioniert. Er sieht ihn als wirtschaftliche Ressource, wie er mehrfach unmissverständlich klargemacht hat. Wie wird das Thema in Brasilien aufgefasst? Glauben Sie, dass es zu einer Annäherung zwischen den Deutschen und Brasilien kommen wird?

Hier muss zunächst einmal festgestellt werden, dass in der ersten Amtszeit von Lula 2003 – 2007 und nicht unter Bolsonaro die umfangreichsten Abholzungen des Regenwalds stattfanden, ohne dass es deshalb hörbare Proteste seitens der deutschen Politik, Medien oder Umweltverbände gegeben hätte. Diese Tatsache beweist, dass es besagten Kreisen nicht um den „Erhalt des Regenwalds“ geht, sondern dass dieses Ziel vorgeschoben wird, um ganz andere Interessen zu vertreten. Andererseits stieß es in Deutschland auf Befremden, dass auch Lula in der Ukrainekrise eine neutrale Position bezieht und Waffenlieferungen an die Ukraine ausschließt. Eine gewisse Annäherung zwischen beiden Ländern wird sicher stattfinden, aber große Freundschaftsbezeugungen sind nicht zu erwarten. Deutschland spielt in der brasilianischen Außenpolitik eine untergeordnete Rolle.

 

Wie stellen Sie sich als ethnisch Deutscher eine deutsch-brasilianische Politik vor?

Das Primat der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates sollte wieder mehr Beachtung finden. Das gilt vor allem für Deutschland. Die deutsche Regierung sollte das beachten, was ich in meiner Eingangsbemerkung feststellte. Brasilien ist eine Großmacht und kein Befehlsempfänger. Man sollte tunlichst vermeiden, sich in der Wortwahl zu vergreifen. Das gilt beispielsweise für Themen wie Rüstungslieferungen an die Ukraine und Schutz des Regenwalds. Besserwisserei und der erhobene Zeigefinger sind hier mehr als deplatziert. Die deutsche Industrie ist nach wie vor in Brasilien investiert. Volkswagen und Mercedes und viele andere deutschen Unternehmungen haben hier große Niederlassungen gegründet. Gleichzeitig gibt es im Süden des Landes, darunter vor allem im Bundesstaat Santa Catarina zahlreiche Auslandsdeutsche und Brasilianer deutscher Abstammung. Diese verdienen und erwarten mehr Unterstützung seitens der Bundesregierung.

 

Bolsonaro soll vor der Amtseinführung von Lula nach Florida samt seiner Familie ausgewandert sein. Das klingt nach Angst vor Verfolgung. Ist diese berechtigt? Ist mit Repressalien von Seiten der Linken zu rechnen? Wenn, welche Zielgruppen sehen Sie, denen diese gelten sollen?

Es gab drei Erklärungen, warum Bolsonaro und seine Frau Michelle kurz vor der Amtseinführung Lulas nach Florida ausreisten. Erholungsurlaub, Bolsonaro wollte Lula nicht die Amtsschärpe umlegen und damit seine Wahlniederlage offiziell zugeben oder Flucht vor Strafverfolgung. Inzwischen kristallisiert sich immer mehr heraus, dass das letztgenannte Motiv das eigentliche war. Mittlerweile wurde bekannt, dass Bolsonaro bzw. seine Frau Michelle im Zusammenhang mit dem Verkauf einer Raffinerie von Saudi-Arabien Juwelen im Werte mehrerer Millionen als Geschenk erhalten hatte. Ob dies den Strafbestand der Bestechung erfüllte oder nicht, bleibt noch unklar, zeigt aber, dass die neue Regierung versucht, Bolsonaro strafbewehrte Handlungen anzulasten. Ziel ist dabei offensichtlich, eine zukünftige Unwählbarkeit Bolsonaros durchzusetzen und somit einen wichtigen Konkurrenten dauerhaft auszuschalten.

Gegen die bereits erwähnten Stürmer der Gebäude in Brasilia ging und geht die neue Regierung mit großer Härte vor. Ganz im Gegensatz zu vergleichbaren Taten von Linksextremisten, die fast immer ohne größere Konsequenzen für die Täter bleiben, wurden an besagtem 8. Januar bis zu 1 300 Personen verhaftet, mehrere Tage unter unwürdigen Bedingungen festgehalten und schließlich gegen 56 Anklage erhoben. Die Konten finanzieller Unterstützer wurden gesperrt, ohne dass diesen vorher juristisches Gehör gewährt wurde. Auch die PL wurde bereits Ziel staatlicher Repressionen. Ihre Forderung, die genauen Umstände der Wahl aufzuklären und behauptete Unregelmäßigkeiten zu untersuchen wurde mit einer hohen Geldstrafe für die Partei beantwortet, ohne auf die erhobenen Vorwürfe auch nur einzugehen. Es steht allerdings zu vermuten, dass mit sich legender Aufregung nach dem hitzigen Wahlkampf sich diesbezüglich die Wogen wieder glätten werden. Um regieren zu können, braucht Lula den Kongress und kann sich die stärkste Partei und deren Verbündete nicht zum Todfeind machen.

 

Wie steht es mit der politischen Rechten in Brasilien? Gibt es echte rechte Bewegungen abseits vom Mainstream? Wie steht es mit anderen rechten bis rechtsradikalen Parteien? Gibt es hier ideologische Vordenker mit nennenswerten Erfolgsaussichten?

Die mit Abstand größte Partei auf dem rechten Sektor ist die liberal-konservative Partido Liberal (PL), auf die ich bereits mehrfach Bezug genommen habe. Es ist eines der wenigen Verdienste Bolsonaro, dass er ein Klima schaffte, das es möglich machte, eine solche Partei in dem ansonsten ideologiefernen Brasilien auf die Beine zu stellen. Diese Einschätzung teilte auch Senator Olimpio in dem erwähnten Interview, indem er sinngemäß sagte, dass Bolsonaro den Weg frei machte für rechtes und konservatives Gedankengut. „Bolsonaro hisste als erster und im Alleingang die Fahne der Rechten“, meinte der Senator damals wörtlich. Leider folgten dem Anspruch und den Worten keine entsprechenden Taten.

Es gibt sicherlich kleine nationalistische und monarchistische Gruppen, die in der Öffentlichkeit aber nicht wahrgenommen werden. Die einzige mir bekannte Ausnahme bildet die Gruppe Nova Resistência (Neuer Widerstand) unter Leitung des Anwalts und Bloggers Raphael Machado. Die Gruppe orientiert sich an der Vierten Politischen Theorie von Alexander Dugin. Inwieweit sie von dort offizielle Unterstützung erfährt, ist mir nicht bekannt. Sie verfügt inzwischen über mehrere hundert Mitglieder in verschiedenen Bundesstaaten. In diesem Zusammenhang muss hinzugefügt werden, dass die Brasilianer traditionell sehr unpolitisch sind und es schwer ist, Menschen für die politische Arbeit zu begeistern.

 

Wo sehen Sie Brasilien in 5 Jahren?

Zum Abschluss also ein Blick in meine Kristallkugel. Voraussagen treffen zu wollen, die mehr als ein Ratespiel sind, halte ich für wenig hilfreich. Im Prinzip sind mehrere Entwicklungen möglich. Eine Entwicklung in Richtung Venezuela, also eine sich links tarnende Kleptokratie halte ich aus den schon genannten Gründen für eher unwahrscheinlich. Eine Verfestigung linksliberaler Strukturen in Anlehnung an die Demokraten in den USA oder die deutsche Ampelregierung wird stark davon abhängen, ob sich die „Vorbilder“ lange genug halten werden oder an ihren Unzulänglichkeiten scheitern werden. Eine rechte oder auch monarchistische Zukunft halte ich momentan für am unwahrscheinlichsten, da, wie die Fälle Trump und Bolsonaro zeigen, die Rechte weder organisatorisch noch inhaltlich oder intellektuell auf die Machtübernahme vorbereitet ist.

Bis auf weiteres gehe ich von einem Weiterwursteln aus, wobei zumindest kurzfristig repressive Tendenzen gegenüber der politischen Konkurrenz von liberal-konservativ bis rechts zu erwarten sind. Allerdings ist der Staat in Brasilien weit weniger präsent als beispielsweise in Deutschland, was bedeutet, dass es wesentlich leichter ist, sich Freiräume zu schaffen. Ein Vorteil, der nicht zu unterschätzen ist.

Außenpolitisch wird der Emanzipationsprozess der Großmacht Brasilien gegenüber den USA nicht auf Dauer aufgehalten werden können. Auch die Dankbarkeit Lulas seinen Gönnern gegenüber dürfte an Grenzen stoßen. Interessant ist der zweite Mann hinter Lula, der Vizepräsident Geraldo Alckmin. Als ehemaliger Gouverneur des größten und wichtigsten Bundesstaates São Paulo ist er ein erfahrener Machtpolitiker und keineswegs nur ein einflussloser Stellvertreter des Präsidenten. Politisch steht er weiter in der Mitte als Lula und sollte dieser aus Alters- oder Gesundheitsgründen nicht weitermachen können oder dürfen, wird Alckmin sicher mehr als nur ein Ersatzmann sein. Eines ist jedenfalls sicher. Brasilien wird langfristig betrachtet an Einfluss und Gewicht gewinnen.

 

Herr Bendel, ich bedanke mich für das Interview.