Interview mit der jungen, rechten polnischen Denkfabrik „Nowy Ład“

von | 22. Jan. 2023 | Deutschland und die Welt, Im Gespräch

Der junge polnische Think Tank, „Nowy Ład“, befasst sich mit langfristigen Fragen und Problemen, vor denen Polen aus Sicht von „Nowy Ład“ in absehbarer Zeit stehen wird. Sowohl die geografische Lage, als auch Polens geschichtliche Verwicklungen, stellen den Nachbarn Deutschlands vor besondere Herausforderungen, wenn es seine Interessen gewahrt sehen möchte. Das umfangreiche Gespräch mit MetaPol, drehte sich um innenpolitische, sowie außenpolitische Themen, wobei in Anbetracht des Ukraine-Kriegs, Polens Ostpolitik natürlich verstärkt im Fokus stand. Aber auch das Verhältnis mit Deutschland und den Vereinigten Staaten war Gegenstand der Unterhaltung.

 

 

Sehr geehrter Herr Adamus,

Sie sind Redakteur und Autor der Plattform „Nowy Lad“. Könnten Sie diese Plattform und ihre Ziele freundlicherweise unseren deutschen Lesern vorstellen?

 

Nowy Ład ist eine seit über zwei Jahren bestehende Denkfabrik, die von einer Gruppe junger polnischer Nationalisten gegründet wurde. Wir schreiben über die Schlüsselprobleme, denen Polen und Europa in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gegenüberstehen, aus Sicht des polnischen nationalen Interesses. Außerdem interessieren wir uns für Metapolitik und langfristige kulturelle und gesellschaftliche Prozesse, nicht nur für aktuelle Ereignisse – wobei wir Stellungnahmen zum Alltagsgeschehen auch nicht aus dem Weg gehen. Wir arbeiten mit führenden polnischen Kommentatoren, Professoren und Experten ihres Gebietes zusammen. Unser Ziel ist es, ein hohes intellektuelles Niveau beizubehalten und dabei faule ideologische Kompromisse zu meiden. Wir wollen eine starke polnische Volksgemeinschaft, welche politisch und kulturell souverän ist.

 

Auf Ihrer Webseite ist ein Manifest veröffentlicht, in dem Sie beschreiben, dass Polen turbulenten Zeiten gegenübersteht, auf die Sie das Land nicht gut vorbereitet sehen. Könnten Sie bitte die größten Herausforderungen beschreiben, mit denen Ihr Land und Ihre Gesellschaft aktuell konfrontiert sind, und schildern, warum Sie Ihre Regierung nicht in einer guten Verfassung sehen, diese Herausforderungen zu bewältigen?

 

Wir stehen vor der Notwendigkeit eines großen Umdenkens seitens der polnischen Eliten. Seit Beginn der 1990er Jahre strebten diese den Anschluss an den Westen an, also den Beitritt zur NATO und der Europäischen Union. In Polen gab es einen parteiübergreifenden Konsens über die Richtung der Außenpolitik. Wir wollten „Teil des Westens“ werden. Dies sollte die Lösung für all unsere Hauptprobleme darstellen. Ich glaube, dass viele Mitglieder unserer Eliten diese Sichtweise so sehr verinnerlicht haben, dass sie viele Jahre lang nicht in der Lage waren, weitere politische Richtungen und ehrgeizige Ziele festzulegen. Einer der beliebtesten Autoren der polnischen Rechten, Rafał Ziemkiewicz, zitiert in seinem neuesten Buch „Great Poland“ folgende Anekdote: „In den 1990er Jahren hielten Deutsche aus einer Parteistiftung einen Vortrag über ihre Vision und ihre Interessen aus deutscher Sicht. Als sie die Polen nach ihrer Sicht fragten, konnten sie nicht beantworten, was die Interessen Polens sind, nur, dass sie wollen, dass “alles so ist wie in Europa.“

Diese Anekdote spiegelt das Ausmaß der polnischen Komplexe und die grenzenlose Faszination für den Westen gut wider.

Was wir also brauchen ist ein unabhängiges Denken – dies wäre die Grundlage für die Lösung vieler anderer Probleme. Eins davon ist die Tatsache, dass Polen niedrige demografische Indikatoren hat: Nach Polens EU-Beitritt wanderten 2 Millionen Menschen aus dem Land aus – hauptsächlich junge Menschen, die im reicheren Westen eine bessere Perspektive für sich sahen.  Dabei hat der polnische Staat vor einiger Zeit die finanzielle Unterstützung für Familien oder auch die Anzahl von Krippenplätzen deutlich erhöht, und in den letzten 30 Jahren war das polnische Wirtschaftswachstum nach China das zweitstärkste weltweit. Dank dieser Tatsache hat sich die Lücke zwischen Polen und Westeuropa deutlich verkleinert.

Das BIP pro Kopf, einschließlich der Kaufkraft, ist in Polen nun höher als in Portugal und nähert sich dem Niveau Spaniens.

Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds betrug unser BIP pro Kopf, inklusive Kaufkraft, im Jahre 1990 nur 8% des deutschen. Heute sind es bereits 66%. Leider führte dieser materielle Erfolg nicht zu einer Verbesserung der Demographie.

Dies wirft eine fundamentale Frage auf: Werden die Polen eine stolze und wohlhabende Nation sein, oder nur eine Ansammlung wohlhabender Individuen, welche nach und nach die Ideologien des Westens übernehmen?

Paradoxerweise führt ökonomischer Erfolg manchmal zu sozialer Degeneration. Das Ziel, das wir uns gesetzt haben, ist die maximale Eingrenzung dieses Phänomens in Polen.

 

Viele rechte Akteure in Deutschland blicken gerne ins Ausland in die alten „sowjetischen“ Staaten, wie Polen, Ungarn oder auch Russland, und auf die Tatsache, dass diese Gesellschaften immer noch an unsterblichen Werten wie Glaube, Familie und Nation als konstituierende Faktoren einer gedeihenden Zukunft festhalten. Betrachtet man jedoch die Geburtenrate genauer, sind die Zahlen in Polen erschreckend und unterscheiden sich nicht von denen in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern. Was ist Ihr Ansatz dazu?

 

Sicherlich zeigen postsowjetische Gesellschaften in vielerlei Hinsicht gesündere soziale Instinkte. Das liegt am sogenannten „communist social freezer“:  Als sich die westlichen Gesellschaften aufgrund der globalisierenden Popkultur, der sexuellen Revolution und der Abkehr von den Lehren der katholischen Kirche und der christlichen Moral im Allgemeinen veränderten, wurden unsere Gesellschaften von der westlichen Infosphäre und dem Einfluss von Trends abgeschnitten, die die nationale Gemeinschaft zersetzten. Soziale Veränderungen hatten hier andere Ursachen als im Westen. Zudem suchten viele Menschen als Widerstand gegen den verachteten Kommunismus Zuflucht in der Kirche, im Patriotismus und traditionellen Werten. Andererseits sollte die sowjetische Realität auch nicht idealisiert werden – die Kommunisten kämpften aktiv gegen die Kirche, Religion, Familie und traditionelle Werte, sie fälschten die Geschichte und töteten und verfolgten Patrioten.

Nach dem Fall des Kommunismus veränderte der westliche kulturelle Einfluss die postsowjetischen Gesellschaften rapide. Ich erwähnte vorhin einen gewissen westlichen Komplex, der unter den Polen vorherrscht – das ist einer der wichtigen Gründe für das schnelle und gedankenlose Nachahmen kultureller Trends aus dem Westen. 1989 hatten viele polnische Patrioten ein idealisiertes Bild des antikommunistischen Westens und Politikern wie Ronald Reagan, während sie sich der tiefgreifenden Veränderungen, die im Westen nach dem symbolischen Jahr 1968 stattfanden, nicht bewusst waren.

Natürlich waren diese Veränderungen selten Ergebnisse soueräner Entscheidungen unserer Nation, sondern wurden in vielerlei Hinsicht vom Westen inspiriert und finanziert. Nach 1989 übernahm das westliche Kapital die meisten polnischen Medien und erzog einen großen Teil der polnischen Gesellschaft in dem Glauben, dass sie dem polnischen Patriotismus und der christlichen Moral abschwören müssten, um Teil des ersehnten Westens zu werden. Deutsche Stiftungen, welche von Bundestagsparteien oder diversen westlichen Förderprogrammen finanziert wurden, machten die „Stärkung der Zivilgesellschaft“ oder den „Kampf für Menschenrechte“ zum Ziel – unter diesen Schlagworten wurde die öffentliche Debatte in Polen in die „richtige“ Richtung gelenkt.

Der Wahlsieg der PiS im Jahr 2015 war in gewisser Weise eine Reaktion darauf. Doch die Schuld für jeden Fehler der jetzigen Regierung – und es gab viele – gaben die linksliberalen Medien der Tatsache, dass Polen von „rückständigen“ Leuten regiert werde, die „uns aus Europa hinausführen“. Gleiches gilt beispielsweise für die hohen Energiepreise, die derzeit unseren gesamten Kontinent betreffen. Die polnische Gesellschaft ist heute stark polarisiert. Ein großer Teil der Polen wurde in den letzten 30 Jahren entwurzelt und hat eine „westliche“, linksliberale Mentalität angenommen.

Gewiss sind wir heute immer noch in einer viel besseren Situation als die westeuropäischen Gesellschaften. Polnische Patrioten haben es geschafft weiterzubestehen, und der durchschnittliche Pole ist konservativer als der durchschnittliche Deutsche oder Franzose. Die PiS ist seit 7 Jahren an der Macht und im Parlament sitzt neben der linksliberalen Opposition die nationalliberale Konfederacja. Verschiedene patriotische, nationalistische, katholische Kreise etc. haben ihre eigenen Medien, Institutionen und Veranstaltungen. Wir kämpfen jedoch für die Zukunft und die Identität unserer Nation und haben die enorme Macht westlicher Medien, Popkultur, internationaler Organisationen, Stiftungen und des Großkapitals zum Gegner.

Trotz dieser Probleme sind wir optimistisch. Wir sehen, dass ein großer Teil der polnischen Nation immer noch gesund ist und nicht nur an der Verteidigung seiner Identität, sondern auch an einer aktiven Gegenoffensive interessiert ist. Das ist auch das Ziel unseres Projektes. Wir freuen uns auch über die wachsende Beliebtheit patriotischer Bewegungen in den westlichen Ländern. Das Jahr 2022 brachte viele Gründe für Optimismus – die „Fratelli d’Italia“ und die Schwedendemokraten übernahmen die Macht in ihren Ländern, und das nationale Lager in Frankreich verzeichnete einen großen Zuwachs an Unterstützern. Über Meloni, Salvini, Le Pen, Zemmour und Akesson haben wir viel geschrieben.

Gerade haben wir einen neuen Abschnitt auf unserer Website mit dem Titel „Der neue Frühling der Völker“ gestartet. Wir glauben, dass die europäischen Nationen ihre Souveränität – wie bereits 1848 – immer mutiger gegen die internationale, kosmopolitische Elite verteidigen werden, weil sie ihre engstirnigen Interessen im Geiste einer undemokratischen Ideologie erkennen.

Außerdem glauben wir auch, dass die überwiegende Mehrheit der europäischen Patrioten, trotz der Probleme zwischen unseren Nationen in der Vergangenheit, heutzutage versteht, dass wir uns gemeinsam derselben Bedrohung entgegenstellen sollten. Wir bereiten uns auf einen langfristigen Kampf vor. Sie kennen es aus Ihrer eigenen Geschichte – deutsche Patrioten brauchten im 19. Jahrhundert Dutzende von Jahren für die Wiedervereinigung ihres Landes. Die Aufstände von 1848 blieben zunächst erfolglos, doch am Ende siegte die nationale Idee. Das könnte jetzt genauso sein.

 

In den letzten Monaten wurden in Deutschland einige Presseberichte veröffentlicht, die thematisierten, dass die „Wokeness“ auch in Polen zunimmt. Es wurden Demonstrationen gezeigt, bei denen vor allem junge Akademiker für die Menschenrechte des neuen Jahrhunderts, wie LGBTQ+, protestierten. Welche Relevanz haben diese Proteste und Bewegungen wirklich im heutigen polnischen Alltag?

 

Die LGBTQ+-Agenda wird von den linksliberalen Medien und den aus dem Ausland finanzierten NGOs sehr aggressiv gefördert. Sie haben es geschafft, eine Gruppe junger ideologischer Aktivisten heranzuzüchten, die sich zwar in der Minderheit befindet, aber sehr laut und engagiert ist. Noch vor wenigen Jahren war dies in Polen komplett marginal. Die Mehrheit der polnischen Gesellschaft – insbesondere Menschen mittleren Alters und ältere Menschen – ist sich des Ernstes der Situation nicht bewusst und denkt, dass es sich um eine vorübergehende Exzentrizität handelt oder dass LGBTQ+-Forderungen auf eine gesellschaftliche Akzeptanz des Zusammenlebens homosexueller Paare reduziert werden können.

Jedes Mal, wenn Sie die Öffentlichkeit fragen, was ihrer Meinung nach das wichtigste Problem ist, mit dem sich Politiker befassen sollten, werden fast alle auf die wirtschaftliche Situation oder den Krieg in der Ukraine hinweisen, während „die Rechte sexueller Minderheiten“ usw. von etwa 1-2 % als Priorität angesehen werden. Auf der anderen Seite aber übt eine Gruppe engagierter Aktivisten immer mehr Druck auf die gesamte linksliberale Opposition der jetzigen Regierung aus, die sich radikalisiert, um „westlich“ genug zu sein.

Weiterhin wird in den Medien wiederholt, dass alle jungen Menschen politisch links sind, was eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung sein soll – denn natürlich sind junge Menschen rebellisch gegenüber Erwachsenen, aber innerhalb ihrer eigenen Gruppe konform. Seit 1989 wird von denselben Kreisen stets wiederholt, dass die nächsten Generationen linksliberaler sein werden, die Rechten also „wie Dinosaurier aussterben“ werden. Die Realität ist komplizierter – manchmal waren aufeinander folgende Generationen eher linksgerichtet, manchmal eher rechtsgerichtet. Bei den letzten Wahlen gab es unter den Jüngsten (18-29) mehr Stimmen für linke und liberale Kandidaten als in der gesamten Gesellschaft. Jedoch gingen immer noch jeweils gut 20% an den derzeitigen Präsidenten Andrzej Duda der PiS und an den nationalistischen Kandidaten Krzysztof Bosak – zusammen über 40%.

Tatsächlich haben wir in den letzten Jahren in Polen große soziale Veränderungen erlebt, insbesondere bei der jungen Generation. Konsumismus und Hedonismus nehmen zu, während viele nicht vorhaben, eine Familie zu gründen. Immer weniger junge Leute gehen in die Kirche. Auch die Zahl der Menschen, die dem Christentum einfach feindlich gesinnt sind, wächst. Junge Menschen sind der englischen Sprache mächtig, und englischsprachige soziale Medien sowie die westliche Popkultur prägen sie oft mehr als ihre eigenen Eltern. Eine unserer Aufgaben als Nowy Ład ist es, zu zeigen, dass es möglich ist, als junger Mensch eine wohlverstandene Modernisierung voranzutreiben und sich dennoch gegen die „westlichen“ Pseudowerte zu stellen.

 

Warum, denken Sie, scheint gerade die jüngere Generation in Ihrem Land offener für diese „westlichen Ideale“ zu sein? Warum haben die oben genannten Werte in den jüngeren Altersgruppen an Attraktivität verloren?

 

Das ist eine sehr schwierige Frage, besonders wenn wir die letzten 10-15 Jahre betrachten. Vor nicht allzu langer Zeit, in den Jahren 2010-2015, gab es unter jungen Menschen in Polen einen „Patriotismus-Trend“. Konservative und nationalistische Organisationen entwickelten sich rapide. Das Phänomen des „Unabhängigkeitsmarsches“ startete – ich spreche von Feierlichkeiten zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens, organisiert vom Mann nebenan aus dem einfachen Volk, die jedes Jahr über 100.000 Menschen nach Warschau locken. Mit dieser Welle begann auch ich, mich gemeinschaftlichen Aktivitäten zu widmen. Dann begann sich dieses gemeinschaftliche Gefühl abzuschwächen. Grund hierfür war meines Erachtens zum einen die Machtübernahme der derzeit regierenden Partei “Recht und Gerechtigkeit”. Diese Partei bezieht sich auf patriotische Werte, indem sie patriotische Gefühle für ihre eigenen Parteiinteressen benutzt.

Dies führte zu einer bestimmten Abkehr von diesen Werten. Auch die vielerorts zu eng mit der Obrigkeit verbundene polnische Kirche hat viel von ihrer Authentizität und gesellschaftlichen Autorität eingebüßt. Patriotismus ist in gewisser Weise zum Mainstream geworden. Unter der vorherigen Regierung, der Bürgerplattform (regierend von 2007 bis 2015), gab es Ansätze einer gewissen jugendlichen Rebellion und Opposition gegen die Eliten, die den Patriotismus oft verachtete. Heute „rebellieren“ junge Menschen „pro-westlich“, während sie unter der vorherigen Regierung „patriotisch“ rebellierten. Menschen ändern jedoch oft ihre Ansichten, wenn sie erwachsen werden, ihren Abschluss machen, anfangen zu arbeiten oder eine Familie gründen. Dann wenden sie sich oft von ideologischen Blendwerken ab. Inwieweit wird diese aktuelle Rebellion eine nachhaltige Entscheidung sein? Das hängt auch von uns ab.

 

Was muss getan werden, um sie zurückzugewinnen und wie trägt Ihre Plattform dazu bei?

 

Zunächst einmal sollten wir unsere Werte attraktiv präsentieren. Patriotismus und Arbeit für die Volksgemeinschaft müssen als Abenteuer dargestellt werden – als etwas, das wertvoll, objektiv gut und gleichzeitig befriedigend sein kann. Wir müssen auch in der Lage sein, junge Menschen zu erreichen und neue Formen der Kommunikation zu nutzen. Es ist notwendig, Lügen zurückzuweisen und Konzepte wie Modernität und Fortschritt aus den Händen der Linken zu nehmen. Wir müssen zeigen, dass es die Nation und das Christentum sind, die Quellen der Modernisierung und des Fortschritts sein können und es bereits in früheren Jahrhunderten waren. Wir müssen nicht nur nach politischer Macht streben, sondern vor allem nach kultureller Hegemonie, wie sie von Antonio Gramsci definiert wurde. Wir müssen von der Linken lernen und den Marsch durch die Institutionen wiederholen, Strukturen schaffen, die unsere Weltanschauung wieder und wieder in die Gesellschaft tragen.

In Nowy Ład arbeiten wir seit Kurzem am Konzept des Neoprogressivismus – einer neuen Moderne als Versuch, auf die Herausforderungen der Postmoderne zu antworten. Wir müssen die Avantgarde des Fortschritts sein, wir müssen auch erklären, dass die gegenwärtige progressive Linke veraltet ist, ihre Lösungen oberflächlich sind und die Komplexität des Menschen nicht verstehen. Wie einer unserer Autoren schrieb: „Was sind „Gender Studies“ schon im Vergleich zur Gründung von Universitäten durch die Kirche? Wie nichtig ist der Individualismus, der versucht, die niedrigsten Instinkte zu befriedigen, im Vergleich zum Personalismus, der versucht, den Menschen in seinem ganzen Wesen zu umfassen? Wie markant ist der Kontrast zwischen dem Relativismus, der es als unmöglich akzeptiert, die Wahrheit zu kennen, und der traditionellen Bescheidenheit, die vom Menschen verlangt, sich ständig um das vorhandene Wissen zu bemühen und sich ihm zu stellen?

Von unserem Konzept eines „neuen Völkerfrühlings“ habe ich bereits gesprochen. Wir wollen jungen Menschen zeigen, dass „Rebellion“ im Namen von LGBTQ+ eigentlich erbärmlicher Konformismus ist, der Botschaft der bedeutendsten Medien, der reichsten Milliardäre und der einflussreichsten Politiker folgend. Echte, authentische Rebellion bedeutet heute, an der Seite von Nation und Tradition zu stehen, Verantwortung für die eigene Familie oder Gemeinschaft zu übernehmen und kein gedankenloser Konsument zu sein. Wir glauben, dass es in den kommenden Jahren sowohl in Polen als auch in Europa immer mehr Platz für eine solche authentische Bewegung geben wird.

 

Um den Rahmen etwas auszudehnen – wie bewerten Sie die aktuelle geopolitische Lage Polens und denken Sie, dass die PiS sie angesichts der aktuellen Umstände angemessen verwaltet? Hat sich die Lage Polens seit der deutlichen Intensivierung des russisch-ukrainischen Krieges in diesem Jahr verändert und wenn ja, in welchem Ausmaß?

 

Polens geopolitische Lage hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich verschlechtert, was vor allem mit der Expansionspolitik Russlands zusammenhängt. Polen ist seit Jahrhunderten Opfer des russischen Imperialismus und wir sind uns der Bedrohung aus dem Osten bewusst. Tatsächlich hat Putin selbst im Dezember seine Forderungen präsentiert, die darauf hinausliefen, uns zu einem NATO-Mitglied zweiter Klasse zu machen. Unsere Region wäre ein geopolitisches „Niemandsland“, das Russland den Weg ebnen sollte, seinen Einfluss in Mittel- und Osteuropa auszuweiten. Das Wiederaufleben des russischen Imperialismus wird in Polen als die größte militärische Bedrohung unserer Unabhängigkeit angesehen.

Die Situation wurde nach Russlands Aggression gegen die Ukraine sogar noch schlimmer. Wäre Kiew gefallen und Russland hätte eine neue Marionettenregierung in der Ukraine geschaffen, könnten wir jetzt russische Truppen auf über 1200 km der polnischen Grenze haben – von der Kaliningrader Oblast über Weißrussland bis hin zur gesamten Grenze zur Ukraine. In einer solchen Situation wäre unsere Sicherheit viel stärker gefährdet als sie es nun ist.

Gleichzeitig müssen wir uns daran erinnern, dass die Bedrohung durch Russland nicht auf einen möglichen umfassenden Krieg reduziert werden kann, was wohl unwahrscheinlich ist. Zum Beispiel haben Weißrussland und Russland letztes Jahr eine völlig künstliche Krise an unserer Grenze verursacht, indem sie tausende von Einwanderern aus kulturell fremden Ländern im Nahen Osten herbrachten. Anschließend stürmten diese hauptsächlich muslimischen Einwanderer die polnische Grenze. Glücklicherweise gab die Regierung dem Druck der Medien und internationalen Organisationen nicht nach – die Polizei und das Militär verteidigten unsere Grenze konsequent und nach einigen Monaten wurde eine Mauer an der Grenze zu Weißrussland errichtet. Nun soll auch an der Grenze zu Russland eine Mauer gebaut werden. Lukaschenko und Putin arbeiteten hier Hand in Hand mit der radikalen zuwanderungsfreundlichen Linken in Polen und Europa. Während der Krise schrieben die linken Medien in Polen ununterbrochen über „dramatische Menschenrechtsverletzungen“, verglichen unsere Soldaten mit Nazis usw. Einige schreiben noch immer darüber.

Daher ist es ein zentrales polnisches Interesse, die Ukraine zu unterstützen und Russland so weit wie möglich nach Osten zu verlagern. Ich glaube, dass unsere Regierung ganz gut mit der aktuellen Krise umgeht. Wir sind ein wichtiger Partner der Ukraine, wir unternehmen diplomatische Anstrengungen, um eine breite Koalition zur Unterstützung der Ukraine aufzubauen und wir beschleunigen gerade das Modernisierungsprogramm unserer Streitkräfte – in dieser Angelegenheit sehen wir eine enorme Rückständigkeit, an der sowohl die PiS als auch frühere Regierungen schuld sind. Derzeit kaufen wir viel, aber nicht alles, auf eine durchdachte und rationale Weise, gemessen an der Entwicklung des Potenzials der polnischen Verteidigungsindustrie.

 

Was ist Ihre Meinung zu den westeuropäischen Reaktionen auf diesen Konflikt, insbesondere der in Deutschland? Gibt es in Polen eine öffentliche Wahrnehmung der deutschen Geopolitik?

 

Für mich, wie auch für viele Menschen, die die Realität so sehen wollen, wie sie ist, war die Haltung Deutschlands keine große Überraschung. Im Laufe der Jahre hat Deutschland die Zusammenarbeit mit Russland auf Kosten der Interessen unserer Region weiterentwickelt – viele Menschen in Polen haben versucht, die Realität zu verdammen und die deutsche Politik zu beschönigen, die den polnischen Interessen seit Jahren schadet. Paradebeispiele dafür sind die Gaspipelines Nord Stream I und Nord Stream II. Meine Meinung zur Haltung Deutschlands oder, etwas allgemeiner, Westeuropas zum Krieg in der Ukraine ist eindeutig negativ, das sage ich als Pole.

Auch aus einer objektiveren, geopolitischen Perspektive betrachtet, überrascht mich die Haltung Deutschlands überhaupt nicht. Russland ist noch relativ weit weg, Sie sind vor potentieller Aggression auch bei einem möglichen Zusammenbruch der Ukraine durch einen Puffer geschützt: Polen. Gleichzeitig sind Sie stark abhängig vom russischen Kohlenwasserstoff geworden. Es liegt in Ihrem wirtschaftlichen Interesse, dass weiterhin billige russische Rohstoffe in Ihre Unternehmen fließen und so die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken. Ich denke, Deutschlands Haltung zur Unterstützung der Ukraine wäre weitaus distanzierter, wenn nicht der starke US-Druck auf die Regierung in Berlin da gewesen wäre. Ich bin mir der Interessen- und Perspektivenunterschiede zwischen Polen und Deutschland in dieser Beziehung bewusst. Das ist normal und wir können ehrlich und frei darüber sprechen.

Die Haltung Deutschlands in diesem Konflikt machte einem großen Teil der polnischen Öffentlichkeit bewusst, wie heuchlerisch die Behauptungen waren, die Deutschen würden nicht von eigennützigen Interessen, sondern vom „Interesse Europas“ geleitet. Jeder wird von seinem eigenen Interesse geleitet – das ist normal, daran werden wir nichts ändern. Auch von Seite der liberalen Parteien und Kreisen, die seit Jahren von Angela Merkel angetan waren, geriet die Bundesregierung in die Kritik. Der Krieg hat der polnischen Öffentlichkeit auch bewusst gemacht, wie unterschiedlich die Bedrohungswahrnehmung zwischen Ost- und Westeuropa ist, und gezeigt, dass wir uns auf Westeuropa einfach nicht verlassen können.

 

Eine Initiative, die in den letzten Jahren öffentliches Interesse erregt hat, ist die Initiative „Intermarium/Międzymorze“. In der Zwischenkriegszeit und unter antikommunistischen Auswanderern gab es mehrere geopolitische Konzepte für diese Initiative, die sich teilweise sogar ergänzten. Es gab föderale und konföderative Ansätze sowie Konzepte, die militärische oder wirtschaftliche Bündnisse anstrebten. Wie sieht das Ideenspektrum heute aus und gibt es ein Modell, das Sie favorisieren?

 

Überschwängliche Ideen für ein föderales oder konföderales Intermarium scheiterten aus einem einfachen Grund: Andere, kleinere Nationen unserer Region betrachteten sie als Formen des polnischen Imperialismus und Versuch der Vorherrschaft. Einige befürchteten auch, dass Intermarium ein alternatives Projekt zur EU sein würde, das ihr entgegentritt. Auch wir als Nowy Ład stehen jeglicher Verwässerung der Souveränität der Nationalstaaten in internationalen Organisationen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Daher erscheint es ratsam, statt über ein politisches Bündnis über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit nachzudenken, die die Beziehungen zwischen den Nationen unserer Region allmählich stärken wird. Wie einer unserer Redakteure schrieb: „Der Name Intermarium sollte nicht mehr mit der Schaffung eines kompakten Staatenblocks verbunden werden, sondern mit einer ganzen Reihe von Infrastrukturprojekten und multilateralen Formaten, in denen Polen eine wichtige, manchmal sogar die wichtigste Rolle spielt.“

Auch die 2015 gestartete Drei-Meere-Initiative (3SI) geht in diese Richtung – nicht umsonst wurde hier ein neuer Name eingeführt und die Mitgliedschaft in der Organisation auf EU-Staaten beschränkt. Ihr schlossen sich 12 Länder an – neben Polen auch Litauen, Lettland, Estland, Tschechien, Ungarn, die Slowakei, Kroatien, Slowenien, Rumänien, Bulgarien und Österreich. 3SI hat im Prinzip drei Bereiche der Kooperation: Energie, Infrastruktur und digitale Transformation. In diesem Rahmen wurden beispielsweise mehrere Energienetzwerke geschaffen, die es den Ländern ermöglichten, ihre Abhängigkeit vom russischen Gas zu verringern (Polen eröffnete eine Gaspipeline aus Norwegen und eine Verbindungsleitung, die es den Slowaken ermöglicht, dieses Gas zu nutzen). Es ist auch geplant, ein Netz von Hochgeschwindigkeitszügen und Autobahnen zu schaffen. Wir beurteilen diese Richtung als positiv, betonen aber gleichzeitig den Vorrang der Souveränität des Nationalstaates. Wir bewahren eine gesunde Skepsis gegenüber der Möglichkeit, andere Nationen einfach und schnell in unsere polnischen Projekte einzubeziehen. Dabei behalten wir stets im Hinterkopf, dass einzelne Länder in vielen wichtigen Fragen unterschiedliche Ansichten haben können.

 

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach Länder wie die Ukraine, Weißrussland oder die Russische Föderation hierbei?

 

Die Zukunft der Ukraine hängt vom Ausgang des aktuellen Krieges ab. Es scheint jedoch klar zu sein, dass die Ukraine die Möglichkeit verteidigt hat, als separater Staat zu existieren. Aus polnischer Sicht ist dies wichtig, weil die Ukraine als Puffer fungiert, der uns von Russland trennt. Die Frage ist jedoch, inwieweit die Ukraine ihr gesamtes Territorium und ihre volle Souveränität durch das Schließen von Allianzen zurückgewinnen kann. Grundsätzlich liegt es im Interesse Polens, die Ukraine weiterhin in ausgewählte regionale Infrastruktur- oder Energieprojekte miteinzubeziehen. Theoretisch ist es mit Weißrussland ähnlich, aber die Aussichten, die Beziehungen zu Minsk zu verbessern oder dort die Regierung zu ändern, sind momentan gering. Ein neutrales Weißrussland zwischen uns und Russland ist eine Lösung, die theoretisch schön klingt, aber in der Praxis sehr schwierig umzusetzen ist. Daher sollte unser Fokus im Moment auf der Zusammenarbeit mit den Ländern in der Region liegen, die der EU und der NATO angehören.

 

Hat die Eskalation des russisch-ukrainischen Konflikts etwas an Ihren Vorstellungen einer polnisch-russischen Beziehung geändert? Falls ja, was genau?

 

Ich hielt eine ernsthafte Zusammenarbeit zwischen Russland und Polen in absehbarer Zukunft noch nie für möglich. Um diese Möglichkeit zu schaffen, müsste Russland seine Ansprüche aufgeben, seinen eigenen Einflussbereich in der direkten Umgebung von Polen wieder auszuweiten und Polens Rolle zu der eines reinen Puffers zu reduzieren – eines geopolitischen Niemandslandes zwischen dem russischen Einflussbereich und dem des Westens. Die Formulierung des letztgenannten Anspruchs von Wladimir Putin selbst war eine eindeutige Bestätigung, dass auch Polen ein wichtiges Moment in Russlands Expansionsplänen darstellt. Moskau will ein souveränes Polen nach wie vor nicht akzeptieren.

Putin hätte beim Status Quo des 23. Februar [2022] bleiben können: Die Ukraine mit einem besetzten Donbass und einer besetzten Krim wäre der NATO oder EU sowieso nicht beigetreten und Polen wäre weit entfernt vom Konflikt. Westeuropa war an einer intensiven wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland interessiert und hat dadurch auch unsere Region unter Druck gesetzt. Genauso haben die USA Nordstream 2 zugestimmt, Trump und Biden haben sich beide mit Putin getroffen und ihn als einen der global wichtigen führenden Regierungschefs anerkannt. Polen hatte einen „Neustart“ mit Russland von 2007-2014 – er endete mit der Einnahme der Krim und des Donbass. In der Zwischenzeit hätte noch einmal neuer Raum für eine Normalisierung der russisch-polnischen Beziehungen geschaffen werden können, wenn Russland sich dazu entschieden hätte, den Status Quo zu normalisieren. Stattdessen fiel die Entscheidung auf einen weiteren Expansionsversuch und die Destabilisierung Mittel- und Osteuropas. Nur ein Beispiel: Am 15. Februar [2022], wenige Tage vor dem Konflikt, war der polnische Außenminister in Moskau, um sich mit Sergey Lavrov zu treffen, und sprach unter anderem davon, dass es „in dieser schwierigen politischen Lage unsere Pflicht [bleibe], den Kontakt auf allen Ebenen zu pflegen.“

Sämtliche wichtige westliche Politiker besuchten Wladimir Putin, riefen ihn an und versuchten, an ihn zu appellieren – auch diejenigen, die ihm sehr nahestanden und unbedingt daran interessiert sind, den amerikanischen Einfluss in Europa zu schwächen. Putin hat jedoch die Entscheidung getroffen, dass die totale Übernahme der Ukraine, und am besten auch der Rückzug der NATO aus Mitteleuropa, so wichtig für ihn ist, dass er dazu bereit ist, einen Krieg anzufangen. Er entschied, dass Gewalt mehr erreichen würde als Verhandlungen. Es ist in Polens Interesse, dass Russland diesen Krieg verliert und seine Möglichkeiten, weitere Aggressionen zu starten, so sehr wie möglich und so lange wie möglich geschwächt sind. Was nach dem Krieg passieren wird, ist heute schwer zu sagen. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass Putin oder ein andere russische Führungsperson von Russlands gegenwärtigen Zielen abrücken wird.

 

Was erwarten Sie von Deutschland, und wie sollte eine deutsch-polnische Zusammenarbeit aussehen? Gibt es ein starkes Interesse an einer deutsch-polnischen Koalition?

 

Wir sind Nachbarn und naturgemäß Partner, wir haben einander am Hals, ob wir wollen oder nicht. Deutschland ist Polens wichtigster Handelspartner. Polen ist Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner, nach China, den Niederlanden, den USA und Frankreich. Wir müssen danach streben, Brücken und Zusammenarbeit zu errichten, wobei diese Zusammenarbeit auf einer Partnerschaft fußen soll. Wie ich bereits erwähnt habe, hat Polen bedeutend zu Ihnen aufgeschlossen, wenn es um Wohlstand und Lebensstandard geht. Das heutige Polen hat die Ambitionen, eine wichtigere Rolle innerhalb Europas zu spielen, und Deutschland sollte dies verstehen.

Leider sieht die Realität so aus, dass Deutschland seit 32 Jahren, seit der Wende 1990, stets von Gruppierungen regiert wurde, die mehr oder weniger die Zentralisierung Europas auf Kosten der Souveränität der einzelnen Nationen anstreben, sowie die Förderung einer ideologisch linksliberalen Agenda. Parteistiftungen, die vom deutschen Bundeshaushalt finanziert werden, fördern polnische Woke-Aktivisten und die radikale Linke sehr großzügig. Die Heinrich-Böll-Stiftung schrieb in einem ihrer Berichte ganz offen davon, dass der einzige Weg, um in Polen „die Rechtsstaatlichkeit dauerhaft wiederherzustellen“, der Zerfall der derzeitigen demokratisch gewählten Regierung sei, die durch eine linksliberale ersetzt werden müsste. Viele polnische Medien, die die LGBTQ+-Agenda, die Zentralisierung der EU, kulturfremde Einwanderung oder die sexuelle Revolution propagieren, werden vom deutschen Kapital kontrolliert. Für den durchschnittlichen polnischen Patrioten von heute hat Deutschland das Gesicht Angela Merkels, und das ist definitiv keine positive Assoziation. Natürlich könnte dies anders aussehen, wenn sich die interne Lage in Deutschland ändern würde.

Zurzeit sind die Beziehungen zwischen der polnischen und der deutschen Regierung schlecht. Die deutschen Obrigkeiten behandeln uns immer noch als einen Staat, der höflich nicken soll, wenn Ideen aus Berlin und Brüssel vorgetragen werden, selbst wenn sie die grundlegendsten Interessen Polens bedrohen. Wir wissen sehr wohl, dass die gegenwärtige Regierung nicht dem Geschmack des deutschen Establishments entspricht, aber seriöse Partner sollten unabhängig davon einen Dialog mit jedem anstreben, der gerade in Polen regiert. Im Moment ist die Situation die, dass Ihre politische Klasse nicht mit der polnischen Führung sprechen möchte. Natürlich denke ich auch, dass polnische Politiker mit jeglicher deutschen Regierung sprechen sollten, auch wenn sie weltanschaulich weit von der polnischen entfernt ist. Das ist grundsätzlicher politischer Realismus.

Deutsche linksliberale Kreise haben eine große Gruppe von polnischen Politikern, Journalisten und „Experten“ großgezogen – oft wortwörtlich großgezogen, indem sie ihnen das Studium finanziert und später Arbeit verschafft haben -, die ihnen nun immer das erzählen, was sie hören wollen. Zum Beispiel, dass die PiS-Regierung die nächsten Wahlen garantiert verlieren wird (das wird über jede kommende Wahl gesagt), und deshalb sei es sinnlos, eine Beziehung mit dieser aufzubauen. Dieselben Leute in Polen stellen Deutschland als beispielhaftes Land dar, das uns „zivilisiert“ und „europäisiert“, uns rückständige osteuropäische Homophobe, Ausländerfeinde, Faschisten, usw.

Wie dem auch sei, nichts macht es für Polen und Deutschland unmöglich, in der Zukunft sehr gute Beziehungen zu unterhalten. Deutschland ist der größte und mächtigste Staat in Europa und wird dies bleiben, und dasselbe gilt für Polen in Mittel- bzw. Osteuropa. Wie Sie sehen, klappt die wirtschaftliche Zusammenarbeit trotz der vielen politischen Meinungsverschiedenheiten wunderbar. Die Innenpolitik bestimmt häufig die Außenpolitik.

 

Sie sind ein Experte im Bereich der chinesischen Wirtschaft. Wie beeinflusst Chinas Politik uns hier in Europa und was ist Ihrer Meinung nach die beste Haltung gegenüber China aus einer polnischen und einer europäischen Perspektive?

 

China ist ein unglaublich wichtiges Land und eine starke Wirtschaftskraft. Natürlich sollte Europa nicht von den USA und deren Taktik, China in Schach zu halten, vereinnahmt werden. Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass China Europa wie eine Zitrone pressen möchte und so viel Technologie und so viele sonstige Exportmärkte wie möglich von uns abzieht. Wir sehen diese ungleichmäßige Öffnung des Marktes zwischen China und Europa (und, weiter gefasst, der ganzen Welt). China beschützt seinen Markt und hat gleichzeitig einen breiten Zugang zu den globalen Märkten. Wir sollten es uns zum Ziel setzen, dies zu ändern und wirtschaftliche Zustände zu schaffen, die dem so symmetrisch wie möglich entsprechen. Auf jeden Fall ist der chinesische und asiatische Markt im Allgemeinen eine riesige Gelegenheit für Europa.

Auf Polen bezogen finde ich nicht, dass Chinas Einfluss hier groß ist, verglichen mit den Vereinigten Staaten oder der EU. Aus polnischer Perspektive stellt China einen potenziell wichtigen Handelspartner im Bereich der Technologie dar. Wir können sehen, dass chinesische Unternehmen auf der neuen Welle der technologischen Innovation sehr stark sind. Das ist bestimmt eine Chance für Länder wie Polen, die einen Technologietransfer und die Modernisierung ihrer Wirtschaft anstreben. Die letzten zehn Jahre waren sicherlich eine Zeit großer Hoffnungen in Bezug auf die Intensivierung des Kontakts zwischen Polen und China. Leider ist dieses Unterfangen in vielen Aspekten gescheitert: Trotz vieler Besuche und Ankündigungen blieb die Zusammenarbeit relativ unbedeutend – was auch mit dem Missverhältnis des chinesischen Angebots an die polnischen Gegebenheiten zusammenhängt. Ich hoffe, dass sich dies ändern wird.

Es gibt gewisse Tendenzen, die auf einen zunehmenden Isolationismus von Seiten Chinas hindeuten, und die europäischen Gesellschaften blicken mit zunehmendem Misstrauen nach China. Dies schafft kein gutes Klima für die Erschließung einer Zusammenarbeit.

Meiner Meinung nach müssten wir umfassender auf ganz Asien schauen, welches immer stärker wird und auch in der globalen Politik immer mehr bedeutet. Von China abgesehen gibt es dort auch andere mächtige Länder wie Indien oder Indonesien. Es gibt technologisch fortschrittliche Länder wie Südkorea oder Japan. Asien ist eine Chance für uns, die zu verpassen wir uns nicht leisten können.

 

Und wie sieht es mit den Vereinigten Staaten aus? Sollte Europa sich komplett vom Westen trennen oder sehen Sie eine Chance für eine Partnerschaft auf gleicher Höhe?

 

Die geografische Position zwischen Deutschland und Russland war für Polen jahrhundertelang ein Fluch. Während der Zeit der Teilungen Polens (1795-1918) sowie vor dem Zweiten Weltkrieg suchte Polen, das sich gegenüber Deutschland und Russland mit einem unverhältnismäßigen Kräften auseinandersetzen musste, einen externen Partner, der uns dabei helfen würde, unsere Unabhängigkeit und Souveränität beizubehalten. Damals konzentrierten wir uns auf Frankreich und Großbritannien. Im Moment setzen wir auf die USA. Ich erkenne mehrere negative Auswirkungen einer solchen Strategie, einschließlich des Fakts, dass uns die Amerikaner manchmal als ihre eigene Kolonie ansehen.  Auch ist es klar, dass die meisten amerikanischen Eliten ihr Denken nach einem kulturellen, liberalen Imperialismus ausrichten. Auf der anderen Seite denken heute die deutschen und französischen Eliten in genau denselben Kategorien. Sie alle belehren Polen eifrig, fördern die linksliberale Opposition, „verfolgte sexuelle Minderheiten“ oder die „Zivilgesellschaft“. Die amerikanische Popkultur vergiftet unsere Zivilisation am stärksten, aber die politische Einmischung aus Berlin und Paris steht der Washingtons in nichts nach.

Die Frage ist die – welche Alternative haben wir als Polen? Es gibt kaum welche, insbesondere in Anbetracht der deutschen Liebäugelei mit Russland. Deshalb glaube ich, dass Polen weiterhin mit den USA zusammenarbeiten, aber im selben Moment auch in den großen westeuropäischen Ländern pragmatische Partner suchen und seine Fühler nach aufstrebenden asiatischen Nationen ausstrecken sollte, angeführt von China und Indien. Man muss mit jedem sprechen. Die Amerikaner müssen Polen auch als souveräne Entität wahrnehmen.

Gleichzeitig gibt es in Deutschland und Frankreich das Bestreben, den amerikanischen Einfluss einzugrenzen und ein souveränes Europa als eine eigenständige geopolitische Macht zu etablieren. Verständlicherweise, sind doch Deutschland und Frankreich Nationen mit einer bedeutend längeren Geschichte und reicheren Kultur als die USA, und sie fühlen sich in der Rolle eines schwächeren Partners nicht wohl. Dies kann jedoch nicht ohne ein ausreichend starkes Militär erreicht werden, und kein europäisches Land besitzt ein solches. Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass die Vereinigten Staaten immer noch in der Lage sind, ihren Willen in Westeuropa durchzusetzen. Würde Europa versuchen, eine Partnerschaft mit Amerika auf Augenhöhe zu bringen, müsste es eine gemeinsame außenpolitische Richtlinie geben, um als geopolitische Macht aufzutreten. Wir folgen dieser deutschen und französischen Debatte und bleiben auf dem Laufenden, wenn es um Konzepte wie die strategische Autonomie geht. Obwohl Schritte in diese Richtung unternommen werden, glaube ich nicht an ihren Erfolg. Es gibt keine europäische Nation, nur mehrere dutzend Nationen, die alle leicht voneinander abweichende Identitäten und Interessen besitzen. Wie könnte das Interesse unserer Region repräsentiert werden, wenn die Außenpolitik der EU-Staaten zentralisiert wäre, wie Bundeskanzler Scholz es gerne hätte? Zum Beispiel im Kontext des Ukrainekriegs: Meiner Meinung nach würden die starken westeuropäischen Staaten, die den Ton bezüglich der Strategie angeben, die Interessen unserer Region für ihren Vorteil opfern. Deshalb kann man von unserer Region eine Menge Widerstand gegen eine solche Zentralisierung erwarten.

Außerdem sehe ich in naher Zukunft auch keine Möglichkeit, sich von den Vereinigten Staaten loszusagen – beide Seiten des Atlantiks sind auf so viele Weisen miteinander verbunden, einschließlich der militärischen, sodass diese Option in der absehbaren Zukunft wohl Wunschdenken bleibt. Auch in den USA gibt es natürlich isolationistische Tendenzen, aber dies ist leichter gesagt als getan, wie die Präsidentschaft Trumps gezeigt hat. Zusammenfassend bin ich für einen vernünftigen Dialog mit jeglichen potentiellen Partnern, ohne dass man sich von anderen abkehrt.

 

Eine letzte Frage, die etwas vom Thema abweicht, aber unsere deutschen Leser interessiert: Überraschenderweise verlangt die PiS Reparationszahlungen von Seiten der Deutschen für den Zweiten Weltkrieg. Was ist Ihre Meinung dazu und warum, glauben Sie, hat die PiS sich in diesen ungewissen Zeiten dieses Thema auf die Fahnen geschrieben?

 

Ich denke, dass die Politiker der PiS ganz genau wissen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, die Reparationszahlungen durchzusetzen. Ich glaube das auch. Die PiS möchte es nur als politisches Mittel verwenden, das in verschiedenen Verhandlungen mit der Regierung in Berlin nützlich sein wird. Die EU-Institutionen üben immer mehr Druck auf Polen aus, das Bestreben, sich in Polens Innenpolitik einzumischen und die Feindseligkeiten gegenüber der gegenwärtigen polnischen Obrigkeit nehmen zu. Daher möchte die PiS die Möglichkeiten zur Verhandlung mit den deutschen Eliten ausweiten, die eine Schlüsselrolle in der Richtungsgebung vieler Prozesse innerhalb der EU spielen. Ich wiederhole: Sich auf den Zweiten Weltkrieg und die Verbrechen der Nazis zu beziehen ist eine Antwort auf den Kampf gegen die polnische Regierung im Namen der „Rechtsstaatlichkeit“, der „LGBTQ+-Rechte“ usw. – auf derselben moralistischen Ebene. Da die deutsche Regierung und die deutschen Eliten (also die Medien, Lobbys, und damit verbundene Institutionen) der polnischen Regierung u.a. Autoritarismus und die Verfolgung von Minderheiten vorwerfen und versuchen, in den Polen Scham und Schuldgefühle hervorzurufen, antwortet die PiS auf eine ähnliche Art und Weise: Nein, ihr seid es, die die Erben eines totalitären verbrecherischen Regimes sind, und ihr solltet euch schämen, schuldig fühlen und euch bei uns entschuldigen – nicht anders herum.

 

Worauf, glauben Sie, steuert Europa zu? Wo wird sich Europa im Jahr 2035 befinden und welche Rolle wird Polen dabei spielen?

 

Europas Rolle im globalen System wird immer kleiner. Europas Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt, der kleiner werdende Anteil an den größten globalen Unternehmen, die schrumpfende Zahl der liberalen, demokratischen Staaten weltweit – all dies sind Zeichen von Europas abnehmender Wichtigkeit und globaler Attraktivität. Dazu kommen wahrscheinlich Veränderungen in der Handhabung des globalen Systems, weil die Stimme Europas in diesem Bereich mehr Macht hat als Europas tatsächliche Stärke suggeriert. Jahrhundertelang bedeutete  Europa politisch viel mehr, als die Größe seiner Einwohnerzahl vermuten ließ.  Heute haben China und Indien zusammen ungefähr viermal so viele Einwohner wie Europa. Europa – oder allgemeiner: der Westen – ist nicht mehr der wichtigste Ort auf dem Planeten und wir müssen uns daran gewöhnen. Abgesehen von materiellen und politischen Angelegenheiten sind der europäische Seelenzustand, der Zustand unserer Zivilisation und nationalen Kulturen genauso wichtig. Sie alle stehen unter dem zerstörerischen Einfluss von Leuten, die glauben, dass Geschichte und Tradition vernichtet gehören, während wir Europäer uns ekeln und schämen sollen, wenn wir an unsere Vergangenheit denken. Die Kreise, die den europäischen Baum von seinen Wurzeln abtrennen wollen, sind eine große Bedrohung. Werden wir genug Kraft haben, genug Kampfes- und Überlebenswillen, um diese Machenschaften zu stoppen? Um die nationalen Kulturen und Identitäten zu erneuern, die auf dem Erbe der europäischen Zivilisation fußen? Ich weiß es nicht, aber die langatmigen Aktivitäten  der postmodernen Linken haben dem Geisteszustand des durchschnittlichen Europäers auf jeden Fall sehr geschadet. Ich hoffe, dass wir bis 2035 mehr Erfolge von europäischen Patrioten als Teil des „neuen Frühlings der Völker“ verzeichnen können, und dass Polen einer der wenigen wichtigen Akteure auf unserem Kontinent sein wird.

Herr Adamus, haben Sie vielen Dank für das ausführliche und detaillierte Gespräch.

 

 

Aus dem Englischen übersetzt von:  Sabrina Bülow  und Kim Diedrichsen