Eine neue Perspektive auf die Souveränität: Das Lateinische Reich von Kojève

von | 04. Sep. 2023 | Deutschland und die Welt, Philosophie & Theorie

Marco Uncini, 1998 in Rom geboren. Chef der italienischen Gruppe Fuori Perimetro. Durch sein Interesse an Geschichte und politischer Philosophie begann er zu studieren. Besitzt einen Abschluss in Anthropologie und studiert zurzeit Geographie. Nachfolgend erläutert er die Wiedergeburt des Reichsgedanken, anhand der Überlegungen des französischen Philosophen Alexandre Kojève. Die Reichsidee als Antwort auf die geopolitische Bedeutungslosigkeit Europas, auf dem Schachbrett der multipolaren Weltordnung.

Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Markovics

 

Reich und Raum oder: Die Grundlagen von Kojèves‘ Theorie

In der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg schlug der eingebürgerte französische Philosoph und hochrangige Regierungsbeamte in der Pariser Regierung, Alexandre Kojève, die Schaffung eines “Lateinischen Reiches” vor. Die Essenz dieser Utopie verlangt nach einer vorsichtigen Analyse, da sie sich als unglaublich erhellende Perspektive auf die Welt von heute darstellt. Das dem zugrunde liegende Konzept des “Lateinischen Reiches” ist recht unkompliziert: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann für Frankreich, der einzigen siegreichen Nation außerhalb der beiden großen Blöcke der Angloamerikaner und Sowjets ein langsamer Prozess des Niedergangs, der von der globalen Dominanz der beiden Supermächte überschattet wurde.

 

Kojève: Europa als dritter Pol und das Lateinische Reich

Um diese Schicksal zu entgehen stellte Kojève die Hypothese eines entschieden europäischen, genauer gesagt lateinischen “Dritten Pols” (womit er eine Position jenseits der USA und der Sowjetunion meinte ) auf. Spanien, Italien und Frankreich sollten in diesem “Lateinischen Reich” miteinander vereint werden. Man kann es sich als eine Art Vorläufer der EU vorstellen, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Das Reich würde aus lateinischen und katholischen Staaten bestehen, mit einem gemeinsamen kulturellen Erbe und dem Segen der Kirche.

Dies sollte dazu dienen, dem protestantisch anglo-amerikanischen Leviathan und dem slawisch-sowjetischen orthodoxen Einfluss zu widerstehen (der in der Realität nur sehr wenig mit der Orthodoxie zu tun hatte). Natürlich würde das Reich mit Frankreich als Triebfeder eine gemeinsame Währung besitzen, um den Dollar und dem Rubel entgegentreten zu können sowie ein mediterranes geopolitisches Projekt, welches die Kolonien aller Mitgliedsstaaten unterstützt (die zum damaligen Zeitpunkt noch existierten, wobei Italien nur Somalia blieb[1].). Das Mittelmeer wäre zum politischen Eckstein dieser “imperialen” Ambitionen geworden.

 

Eine Union kulturell und historisch verwandter Nationen gegen den nationalen Isolationismus

Dem französischen Philosophen war dabei die Schaffung einer Union “verwandter” Nationen mit tiefen kulturellen und historischen Banden am wichtigsten. Er hatte verstanden, dass in der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg nationaler Isolationismus nicht länger eine gangbare Alternative war und das man, um den neuen weltweiten politischen Horizonten widerstehen zu können, gemeinsam mit jenen zusammenarbeiten muss, die mit einem selbst, jahrhundertealte kulturelle Wurzeln teilen. Indem man die kulturellen Wurzeln betonte, bestand man konsequenterweise darauf der Kannibalisierung Europas durch sowohl die angelsächsische Sphäre als auch das sowjetische Universum zu widerstehen. Nachdem wir die allgemeine Struktur von Kojèves Utopia untersucht haben, bieten sich zwei Aspekte an, die besonderer Reflexion bedürfen, nicht nur um die Welt um uns herum zu verstehen, sondern auch um unser politisches Handeln in einer mehr gegenwartsorientierten Weise anzuleiten, die direkt auf den Einsichten des französischen Philosophen aufbaut.

 

Das Reich als Antwort auf die Krise des Nationalstaates

Erstens scheint es, als ob er sich das Konzept des Reiches wieder angeeignet hat als Schirmbegriff, um eine politische Entität zu beschreiben, die nicht als Nationalstaat, Konföderation oder Föderation beschrieben werden kann. Kojèves Weltsicht war nicht mit dem Nationalstaat verbunden (der wie wir gesehen haben überwunden werden sollte), noch stimmte er mit der Konföderation oder Föderation überein. Folglich können wir sagen, dass es mit der Zeit seine eigene besondere Form angenommen hätte, die jedem folgenden Reich in der Geschichte eigen war (das Römische Reich hatte nicht dieselben Eigenschaften wie das Heilige Römische Reich, noch ähnelte es dem Britischen Reich). Weiters evoziert der Begriff des Reiches selbst ein Universum kultureller Traditionen, die wenig Raum für die Diskussion wirtschaftlicher und technischer Einzelheiten lässt. In Europa ruft dieser Begriff die Erinnerung an die klassische römische Welt hervor, dem Sinnbild des Reiches.

Es ist kein Zufall, dass zahlreiche Konflikte darüber aufflammten, insbesondere im Mittelalter, hinsichtlich der Frage nach der Legitimität des gegenwärtigen Reiches (das Heilige Römische Reich und das Byzantinische Reich betrachten sich beide jeweils selbst als die Erben Roms und bestritten die Legitimität des anderen). Es durfte nur ein Reich geben, das eng an die römische Tradition gebunden war. Die Wiederentdeckung dieser Form von Institution hätte Nationen durch eine höhere Ordnung miteinander vereint, ebenso wie das kulturelle Erbe von mehr als 2000 Jahren plötzlich im Rampenlicht gestanden wäre. Kojève legte großen Wert auf diesen Aspekt, bis zu dem Punkt hin, dass er den lateinischen und katholischen Charakter der Mitgliedsstaaten seines imperialen Utopias betonte.

Folgerichtig kann diese supranationale Union nur dann erreicht werden, wenn vorher ein Bewusstsein von diesen “kulturellen Gemeinsamkeiten” geschaffen wurde.  Heute scheint die Europäische Union solcherlei Betrachtungen gänzlich aus ihrem politischen Horizont verbannt zu haben.

 

Eine kurze Geschichte des Großraumdenkens

Zweitens, gibt es einen Aspekt der nicht sofort auf der Hand liegt, aber von zentraler Bedeutung für die Idee von Kojève ist: die räumliche Ausweitung des Reiches. Kojève verstand die Welt die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, eine Welt die ihre globalpolitischen Tendenzen in bemerkenswertem Ausmaß beschleunigt hatte. Bereits im 19. Jahrhundert wurden die Ideen des Panslawismus und Pangermanismus dazu verwendet ambitionierte Gebietserweiterungen zu rechtfertigen. Die spätere Theorie des „Lebensraums“, die vom deutschen Geographen Karl Haushofer hervorgebracht und später von den Nationalsozialisten verwendet wurde, wies gemeinsam mit dem japanischen Konzept der „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“ weiter in diese Richtung. Man könnte meinen, dass dieser Krieg wahrhaftig ein Krieg um die Weltherrschaft gewesen war, noch mehr als der vorherige.

Die Amerikaner hatten bereits die Monroe-Doktrin implementiert und die Briten kontrollierten das größte Kolonialreich der Geschichte. Dies ging Hand in Hand mit der technologischen Entwicklung vieler westlicher Länder, die den Zugang zu einer immer größer werdenden Anzahl von Ressourcen voraussetzte, die oft in umkämpften Territorien gefunden wurden. Jedoch beschränkte sich dieser Wettkampf nicht auf die Kontrolle von Ressourcen, es ging bei ihm auch um die Vormachtstellung auf der Weltinsel, wie in einem vorhergehenden Artikel erwähnt , deren Kontrolle angelsächsischen Theoretikern zufolge die Weltherrschaft garantierte (was wie sich herausstellte wahr ist). Folglich verlor die Staatsform des Nationalstaates, die sich in Europa seit dem 15 Jhdt. entwickelt hatte, ihre Relevanz und Funktionalität. Kojève strebte danach ein Lateinisches Reich zu erschaffen, um die beiden „Großräume“ Amerika und die Sowjetunion zu überleben.

 

Carl Schmitts Großraumordnung als Antwort auf die Neue Weltordnung

Es ist an dieser Stelle interessant festzuhalten, dass bereits ein paar Jahre zuvor Carl Schmitt von Großräumen[3] gesprochen hatte, ein Konzept das neue supranationale Staaten benannte, sogenannte „Zivilisationsräume“ die aus einem geteilten kulturellen Erbe entstehen (die wir in einem weiteren Artikel im Detail diskutieren haben ). Halten wir uns das Ausmaß dieser Utopie vor Augen, gemeinsam mit jener Schmitts, können wir Kojève als einen Machiavelli der jüngsten Gegenwart bezeichnen: Genauso wie Machiavelli die Notwendigkeit des Nationalstaates vorhergesehen hatte um den Zusammenbruch der Feudalordnung zu überleben, warnte der französische Philosoph vor einer neuen globalen Ordnung, die eine neue Form des Staates voraussetzte.

Diese beiden Aspekte sollten uns gemeinsam mit dem gesamten theoretischen Konstrukt des Lateinischen Reiches zum Nachdenken bringen, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung des Begriffes Souveränität. Heute scheint sich eine Idee von Souveränität befleckt mit nationalistischen Strömungen in unseren Breitengraden zu verbreiten, die sich weniger auf eine umfassende Perspektive und dafür viel zu stark auf einen anachronistischen Irredentismus  finden: Die Jahre der Zwischenkriegszeit, die direkt auf den Ersten Weltkrieg folgten, stellten einen Triumph der anglo-amerikanischen Politik dar, die genau darauf abzielte die Nationalismen anzufeuern (in diesem Fall jene in Osteuropa, um die Verbindungen des Kontinents mit Russland zu kappen).

 

Eine kontinentale Perspektive: Souveränität, Unabhängigkeit von den USA, Bündnis mit Russland

Es muss an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Erweiterung des eigenen Horizonts in Richtung einer kontinentalen Perspektive nicht bedeutet die Essenz der Souveränität auszulöschen oder vor der Dialektik des Globalismus  zu kapitulieren. Ganz im Gegenteil, wie dieser Artikel zu demonstrieren versucht, bedeutet es das eigene politische Handeln auf die gegenwärtige weltpolitische Lage und hinsichtlich des transatlantischen Regimes abzustimmen. Heutzutage trifft dies offensichtlich auf Russland zu, das angetreten ist, um den status quo in Frage zu stellen. Wenn wir wahrhaftig die Unabhängigkeit von den USA anstreben, dann ist es Russland, mit dem wir ein Bündnis anstreben sollten. Jedoch kann dies nicht von einzelnen europäischen Staaten alleine erreicht werden, da jeder dem amerikanischen Riesen alleine entgegentreten müsste.

 

Jan Zielonka: Das Neue Mittelalter und die Erneuerung Europas durch das Reich

Nachdem fast alle genannten Staaten danach streben ihre Souveränität wiederzuerlangen (denken wir an Frankreich, das geschichtlich gesehen zu den größten NATO-Kritikern zählt oder an Deutschland, das wirtschaftlich am stärksten von der Russophobie betroffen ist.), wäre es an der Zeit die Kräfte zu vereinigen. Von dieser Warte aus gesehen kann es von Vorteil sein politische Formen aus unserer Vergangenheit wiederzuentdecken und sie einfach an die Umstände der Gegenwart anzupassen. Dies ist der Fall bei Jan Zielonkas These vom Neuen Mittelalter[6], die sich die Erneuerung Europas durch das mittelalterliche Konzept des Reiches vorstellt. Von da aus könnte man einen Neuanfang wagen und eine konkrete Alternative zum nationalstaatlichen Souveränitätsdenken aus der Ära des Kalten Krieges schaffen.

 

 

[1]Zwar wurde auf der Potsdamer Konferenz 1945 beschlossen, dass Italienisch-Somaliland nicht an Italien zurückgegeben wird, jedoch erklärte die UN-Treuhandversammlung das Gebiet zum Treuhandgebiet unter italienischer Verwaltung.

[2]Marco Uncini: Heartland e Rimland, un monito per l’Europa? – FUORI PERIMETRO

[3]Vgl. Schmitt, Carl: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht. 1939. Duncker & Humblot. 1991.

[4]Marco Unicin: L’ordinamento dei grandi spazi nel diritto internazionale con divieto di intervento per le potenze straniere. Un contributo sul concetto di impero nel diritto internazionale

[5]Ursprüngliche Bezeichnung für eine Ideologie, die nach der Einigung Italiens 1861 die Eingliederung unter österreichischer Herrschaft verbliebener Territorien mit italienischen Siedlern forderte. Heute versteht man darunter die Zusammenführung möglichst aller Vertreter einer Ethnie in einem Staat mit festen Territorialgrenzen. Der Irredentismus ist daher fester Bestandteil ideologischer Panbewegungen (Pangermanismus, Panslawismus, usw.)

[6]Vgl. Zielonka, Jan: Europe as Empire: The Nature of the Enlarged European Union. Oxoford University Press, USA. 2007.