Dr. Björn Clemens – Die NATO, Putin und das Ende der deutschen „Pussy-Politik“

von | 14. Mrz. 2022 | Debatte, Deutschland und die Welt

 

Dr. Björn Clemens mit einem Beitrag zum aktuellen Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Wehrpolitik und einem analytischen Ausblick auf die geopolitischen Verschiebungen und Bindungen, die in diesen Tagen entstehen. Die langfristige Tragweite dieser Entwicklungen kann man nur mit einer gesunden Portion Humor und Ironie akzeptieren, sowie es Dr. Björn Clemens im folgenden formuliert.

 

Wie die Rollen der Beteiligten im Ukraine-Krieg, der am 24. Februar 2022 ausbrach, verteilt sind, ist derzeit in der deutschen Rechten heftig umstritten. Klar ist, dass „der Westen“, also die Vereinigten Staaten und ihnen nahestehende Organisationen seit Jahren die Ukraine zu untergraben suchen, um dort abhängige Regime zu errichten, die ihnen selbst dienstbar sind. Das tun sie nicht nur dort, sondern weltweit. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist ein amerikanischer Vasall. Das lässt Viele nach einem Ausbruch aus dieser Zwangslage suchen, um Deutschland endlich wieder zu einem souveränen Staat zu erheben. Richtig ist auch, dass gerade wir Deutsche ein gutes Verhältnis zu Russland brauchen. Leider gerät manchmal in Vergessenheit, dass die Russen sich uns nicht zuwenden würden, um uns einen Liebesdienst zu erweisen. Vielmehr müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sie in ähnlicher Weise darum bemüht sind, ihre Machtposition auszubauen, wie der Westen auch (wie auch China, wie auch die Türkei  u.a.). Das Ziel Putins ist es, Russland wieder zu dem Imperium zu machen, das es zu Sowjet-Zeiten war. Wir sollten vorsichtig sein, ihm in der Ukraine edlere Motive zu unterstellen, als dem Westen. Der jahrhundertalte Imperialismus der Russen lebt in ihm wieder auf. Was das heißen kann, ist aus der Geschichte bekannt: Die Liste der von Russland ehedem unterjochten kleinen Völker reicht von Finnland bis zum schwarzen Meer und vom Zarenreich bis zu Stalin. Die Bilder aus Kiew zeigen, das dabei auch die altbekannte Brutalität am Werk ist.

 

Die Ukraine ist in dieser Auseinandersetzung für alle Seiten nur ein Schachbrett im geopolitischen Spiel. Warum das so ist, hat der amerikanische Politologe und langjährige Präsidentenberater Zbiginiew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ von 1997 prägnant formuliert (S. 74): „Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr … Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.“ Damit ist das Motiv Russlands, das die Selbständigkeit der Ukraine übrigens 1994 anerkannt hat (dafür verzichtete sie auf Atomwaffen!) für seine Invasion offengelegt – und das Motiv des Westens, namentlich der USA, für sein antirussisches Vorgehen gleichermaßen.

 

Uns Deutsche eint mit dem ukrainischen Volk, dass wir auf dem Schachbrett die Figuren sind, und nicht die Spieler. Daraus folgt u.a. die bittere Erkenntnis, dass es für die Bundesrepublik derzeit keine Alternative zur NATO-Mitgliedschaft gibt: theoretisch denkbar wären zwar zwei Optionen denkbar, praktisch jedoch kaum: Die eine bestünde in einer Art Gegen-NATO aus Deutschland und Russland. Undenkbar ist aber, dass die osteuropäischen Staaten, mit Ausnahme ggfs. von Weißrussland, in einem solchen Bündnis mitwirken würden. Im Gegenteil, sie sind ja, wie Polen oder die baltischen Staaten, gerade um der Unabhängigkeit von Moskau willen der NATO beigetreten. Das heißt, ein solches Zweierbündnis, in dem wir immer nur Russlands Junior-Partner wären, würde uns sofort in die sicherheitspolitische Gegnerschaft zu allen europäischen Nachbarstaaten führen. Wo wir jetzt falsche Freunde haben, fänden wir echte Feinde: vom NATO-Regen in die Russland-Traufe. Für Russland wären wir dabei der ideale Puffer. Gegenüber der jetzigen Situation, in der wir der Büttel Washingtons sind, wäre das keine Verbesserung.

 

Die zweite Option könnte eine europäische Verteidigungsgemeinschaft unter Ausschluss der außereuropäischen oder randeuropäischen Flügelmächte sein, also das, was Carl Schmitt eine Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte genannt hat (ein Spiegelbild zur US-amerikanischen Monroe-Doktrin aus dem 19. Jahrhundert). Ein solches Modell könnte nur unter deutscher Führung gelingen, und das ist auch schon der Haken. Denn dazu brauchten wir Atomwaffen, die uns niemand zugestehen würde. Vor allem aber würden uns die anderen Mittelmächte eine europäische Führung nicht zugestehen; Polen nicht, Tschechien nicht, und Frankreich schon gar nicht. Diese Staaten suchen ja in der NATO nicht nur Schutz vor Russland, sondern auch vor Deutschland, das niederzuhalten eines ihrer wesentlichen Ziele ist. Wieder einmal müssen wir den Fluch der geographischen Mittellage erkennen, der das Wünschenswerte zur Wunschvorstellung werden lässt. Da wir aus ihr nicht ausbrechen können, müssen wir uns mit den Nachbarn arrangieren mit allen, nicht nur mit Russland.

 

Von all dem abgesehen wäre die Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer mentalen Verfassung gar nicht in der Lage, zu führen. Sie ja nicht einmal in der Lage, eigene Interessen oder gar geopolitische Zusammenhänge auch nur zu erkennen. Das offenbart sich derzeit wieder in aller Deutlichkeit: die Menschen hängen blaugelbe Ukraine-Fahnen in die Fenster, lassen die Kirchenglocken läuten und fühlen sich erhaben dabei. Obendrein glauben sie, damit Politik zu betreiben. Ob solcher Zinnober den Opfern der Luftangriffe in Kiew hilft, ist sekundär. Stattdessen fordern die Gutmenschen mit aufgeblasenem Empörungspathos allem und jedem politische Bekenntnisse zu ihrer eigenen moralischen Überlegenheit ab und ergehen sich in einem unreflektierten Putin-Bashing. Zum Akt des Kampfes gegen das Böse wird es dann, Auftrittsverbote für russische Sängerinnen zu verhängen oder Altkanzler Gerhard Schröder bei Borussia Dortmund auszuschließen. Den Gipfelpunkt des Unverstandes bildet wieder einmal die Bundesregierung, die Russland ernsthaft damit „droht“, kein Gas mehr zu kaufen und deshalb das Pipeline-Projekt Northstream2 kündigt. Das ist die Logik eines Säuglings, der sich aus Bockigkeit gegenüber seiner Mutter weigert, den Brei zu essen. Nur merkt der Säugling schnell, dass er sich damit selbst schadet und nicht der Mutter. Die Lichtgestalten an der BRD-Spitze merken das nicht.

 

Soweit also die übliche Traumtänzerei politisch Minderbemittelter. Jedoch gab es diesmal tatsächlich eine gewisse Realitätserkenntnis selbst bei maßgeblichen Vertretern des Establishments. Denn unmittelbar nach Kriegsbeginn legten die militärischen Experten, wie beispielsweise der Generalinspekteur des Heeres, General Mais, in drastischer Deutlichkeit dar, dass die BRD selbst vollkommen schutzlos dasteht. Sie ist schlichtweg nicht verteidigungsfähig. Die heruntergewirtschaftete Gurkentruppe der Bundeswehr könnte ihren verfassungsmäßigen Auftrag der Landesverteidigung keine Sekunde erfüllen. Das weiß man seit langem. Doch nie ist es so klar zugegeben worden, ja mehr noch, es wurden sogar Konsequenzen angekündigt, in Gestalt einer Aufrüstung im Wert von 100 Milliarden Euro. Man mag abwarten, ob den Worten Taten folgen. Jedenfalls wurde innerhalb von weniger als 24 Stunden offiziell mit einer unausgesprochenen Doktrin aufgeräumt: Frieden und Sicherheit sind nicht zu haben, indem man die Waffen beiseite legt, sich an den Händen fasst und „we shall overcome“ singt. Der bundesbürgerliche scheinpazifistische Moral-Extremismus, bei dem es wichtiger war (und ist), Ampelmännchen zu gendern, als wehrfähig zu bleiben, ist gescheitert. (Nebenbei bemerkt geht auch dieses existenzielle Defizit auf das Schuldkonto Angela Merkels.) Wenn also der Ukraine-Krieg das Ende der Pussy-Politik herbeiführen sollte, hätte die menschliche Tragödie uns vielleicht auf makabre Weise eine heilsame Lehre erteilt. Wenn Deutschland diese Lehre beherzigen sollte, und mehr kann es derzeit nicht tun, würde es sich durchringen, endlich wieder zu einem ernstzunehmenden militärischen Staat und damit überhaupt wieder zu einem Staat zu werden. Das könnte seine Bedeutung im NATO-Bündnis steigern; und wenn die Bedeutung steigt, dann steigt das Mitspracherecht. Dann wäre eines Tages vielleicht sogar die Zeit reif, dass wir es in unserem und im europäischen Sinne umgestalten könnten, um Europa zu einem eigenständigen Faktor zwischen den Flügelmächten zu machen. Damit könnte eines weiteren Tages vielleicht sogar die Hoffnung keimen, dass Europa und Deutschland wieder zum Spieler würden. Ja, eines Tages…