Dominik Schwarzenberger: Weißrussland oder Belarus – Droht ein zweiter Ukraine-Konflikt?

von | 17. Jan. 2022 | Deutschland und die Welt

Im folgenden Text befasst sich unser Kollege und Autor, Dominik Schwarzenberger, mit den derzeitigen Spannungen an der NATO-Ostgrenze. Sowohl die Geschehnisse in Weißrussland, als auch an der russisch-ukrainischen Grenze beleuchtet er aus geostrategischer und identitätspolitischer Sicht. Diese Sichtweise bietet wie gewohnt einen hochinteressanten, aber in der Tagespolitik oft unbeachteten Blickwinkel auf Hintergründe und Ursachen eines drohenden neuen Konflikts an der NATO-Ostgrenze.

 

Wieder einmal macht Weißrusslands Präsident Lukaschenko von sich reden – waren es bisher manipulierte Wahlen und unterdrückte oppositionelle Demonstrationen, steht heute seine Flüchtlingspolitik im Brennpunkt, mit der er die EU erpresst. Vorausgegangen waren verschärfte Sanktionen gegen Minsk. Der „letzte Diktator“ Europas findet sich mehr denn je isoliert zwischen Ost und West. Gleichzeitig hegen Moskau, Brüssel und Washington geostrategische Begehrlichkeiten. Die immer wieder aufflammenden Demonstrationen erscheinen als Déjà-vu zur benachbarten Ukraine: Wiederholt sich eine weitere prowestliche farbige Revolte unter Soros` Regie? Schaffen sich Brüssel und Washington einen neuen Vorposten im postsowjetischen Raum?

 

Die Parallelen sind tatsächlich frappierend. Es gibt vier herausragende Gemeinsamkeiten mit dem ukrainischen Nachbarn:

1) Eine ungeklärte Identität – das Grundproblem: Weißrussland oder Belarus?

2) Das weißrussische Territorium war ebenfalls eine Wiege des Russentums.

3) Eine geostrategische Schlüsselstellung als Drehscheibe zwischen Ost und West, die das Land für Brüssel, Washington, Peking und Moskau begehrlich machen.

4) Ein nationales Trauma, das die Entfremdung von Moskau befeuert: Tschernobyl.

 

Bei genauer Analyse gibt es jedoch entscheidende Unterschiede:

*Der West-Ost-Gegensatz im Land ist nur mäßig entwickelt

*Weißrussland war bis auf das Intermezzo 1918-1939 weitgehend ungeteilt und bewahrte seinen russisch-orthodoxen Charakter

*Weißrussland weist eine relative religiöse Homogenität auf

*es gab historisch nur eine rudimentäre nationale Tradition und Staatlichkeit

*es fehlt eine protostaatliche Kosaken-Tradition, an die man anknüpfen könnte

*es mangelte lange an eine eigenständige standardisierte weißrussische Sprache

*es fehlt eine Art Nationalreligion

*Weißrusslands Nationalsymbole sind wenig akzeptiert

*die Fundamentalopposition integriert kaum Nationalradikale, dafür eine aktive ethno-religiöse Minderheit

*Die Frontstellung gegen Lukaschenko ist das alleinige Band der Systemopposition, nicht geopolitische Erwägungen

*die inneren Konfliktlinien (Siehe unten) zerteilen Regierung und Opposition gleichermaßen

*die deutsche Besatzung wird als Joch empfunden, Sympathie mit der prodeutschen Kollaboration bildet die Ausnahme

*keine antisowjetischen Partisanenaktivitäten nach 1945

 

Schlüsselereignisse weißrussischer Geschichte

Staatsähnliche Gebilde existierten auf dem Territorium des heutigen Weißrusslands in Form städtischer Fürstentümer wie die von Turow oder Polozk im 11. bis 14. Jh.. Nach deren Zerfall wurde das Territorium Teil Litauens und später der Polnisch-Litauischen Union. In dieser Zeit der katholischen Hegemonie wurde die Orthodoxe Konfession zurückgedrängt. Noch im 17. Jh. findet sich die Bezeichnung „Belaja Rus“ (Weiße Rus) mit unterschiedlicher Bedeutung: für die Bevölkerung wie für das Territorium. Als nach der Aufteilung Polens große Teile der heutigen Ukraine, Litauens und das gesamte gegenwärtige Weißrussland zum Zarenreich kamen, setzte eine forcierte Russifizierung und Entkatholizierung ein – die Bezeichnung „Belaja Rus“ wurde 1840 verboten und durch „Nordwestgebiet“ ersetzt, um jegliche eigenständige Regungen und die Erinnerung an eine von Moskowien getrennte Entwicklung zu verhindern. Tatsächlich blieb die weißrussische Sonderidentität auf ein regionales Bewusstsein beschränkt. Aus Mangel an nationalistischen Persönlichkeiten dieser Zeit wird etwa der Dichter und Schriftsteller Franzischak Bahuschewitsch (1840-1900) okkupiert, der sich zwar um die Pflege des Weißrussischen verdient machte, aber sich zum Russentum aus dreigliedriger Einheit bekannte. Auch die antizaristische Opposition war in der Frage einer weißrussischen Sonderidentität gespalten. Bezeichnend ist der Umstand, dass das mehrheitlich polnisch und jüdisch besiedelte Wilna zum Zentrum der Nationalbewegung wurde und nicht das Kernland selbst.

Im Zuge der Oktoberrevolution und des daraus folgenden Bürgerkriegs entstand eine linksbürgerlich-sozialdemokratische „Weißrussische Volksrepublik“ unter deutscher Protektion, die allerdings wenig Rückhalt fand und schnell durch die ebenfalls ungeliebte „Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik“ bzw. für wenige Monate durch die „Litauisch–Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik“ abgelöst wurde. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg verblieb der Westteil der heutigen Republik bei Polen, dessen Bevölkerung zwischen propolnischer und prosowjetischer Ausrichtung gespalten blieb. Einen eigenen Staat strebten nur wenige Aktivisten an.

Wie überall in der jungen Sowjetunion förderte Lenin die autochthone identitäre Entwicklung in seinen Teilrepubliken, um einen gesamtrussischen Nationalismus zu bekämpfen und die nichtrussischen Völker zu integrieren. Diese Politik der „Einwurzelung“ (Korenizacija) kehrte Stalin dann wieder durch Russifizierungsmaßnahmen ins Gegenteil. Die Weißrussische SSR war davon eher wenig betroffen, da ein eigenes Nationalbewusstsein ohnehin nur rudimentär vorhanden war. Im Gegensatz zur Ukrainischen SSR fehlte auch die verheerende Hungerkatastrophe („Holodomor“), die einen solchen Nationalismus und Separatismus hätte befeuern können.

Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts wurde auch der zu Polen gehörige Westen des heutigen Weißrusslands an die Weißrussische Sowjetrepublik angeschlossen, was mit Kollektivierung und atheistischer Politik einherging. Ein weiterer Einschnitt bedeutete die Einführung des Kyrillischen Alphabets und des Russischen. Der deutsche Einmarsch wurde folglich im Westen freudig begrüßt wie beim ukrainischen Nachbarn auch, allerdings trug nur eine kleine Minderheit das prodeutsche Kollaborationsregime, da die deutschen Besatzer die vom Russentum getrennte umstrittene weißrussische Identität propagierten. Die Weißrussische Sowjetrepublik entwickelte sich dann auch zu einem der wichtigsten Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges und des antideutschen Partisanenwiderstands – schon aufgrund der dünnbesiedelten Landschaft aus Wäldern und Sümpfen. Nach Ende des Kriegs verblieb der ehemals polnische Westen bei Moskau und ein Großteil der Polen wurde umgesiedelt. Von einem West-Ost-Gegensatz wie in der Ukraine kann jedoch keine Rede sein. Es wurden dennoch nach 1945 gezielt Bewohner des Ostens in den angeschlossenen Westen angesiedelt, da der Westen als ideologisch unzuverlässig galt, weil immer noch religiös und von einer polnischen Minderheit bewohnt. Die vergrößerte Weißrussische SSR erhielt neben der Ukrainischen SSR ebenfalls ihren Sitz in der UNO. Auch nach dem Entstalinisierungsprozess und Gorbatschows Reformen blieb das weißrussische Identitätsstreben Angelegenheit intellektueller Schichten. Antisowjetische Einstellung verbreiteten sich dann auch weniger aus völkisch-nationalen Gründen als vielmehr ökologischen: wegen Naturzerstörung und Tschernobyl. Immerhin war die Weißrussische SSR von jener Reaktorkatastrophe besonders schlimm betroffen und eine Fläche von 23% des Territoriums verseucht (in der Ukraine 7%), was sich an weit verbreiteten Krankheiten, hoher Sterblichkeitsrate und Umweltproblemen äußert. Inzwischen sind mehrere Zonen nach Grad ihrer Belastung zur Umsiedlung vorgesehen, was unorganisierte Wanderungsbewegungen in illegale wilde Siedlungen auslöste. Bei einer Gesamtbevölkerung von 9,5 Mio. sind bis zu 3,2 Mio. Bürger betroffen. Mehr um dem sozialen Abstieg der UdSSR zu entgehen, schlitterte Minsk in die Unabhängigkeit, was sich als ebensolcher Abstieg erwies. Erst Lukaschenkos Präsidentschaft brachte anfangs Stabilität und relative soziale Sicherheit.

 

Rivalisierende Geschichtsinterpretationen und Mythen

Die identitäre und ideologische Spaltung weißrussischer Intellektueller zeigt sich in ihrer entgegengesetzten Geschichtsinterpretation, die sich panrussisch, weißrussisch-nationalistisch oder liberal-westlich manifestiert.

Die Panrussen sehen Weißrussland als integralen Bestandteil des russländischen Raums und seiner Geschichte. Die „Belaja Rus“ waren folglich nur eine lokale Erscheinung des Kiewer Rus-Verbandes und das heutige Territorium bis zur Heimholung 1795 ständig fremdbesetzt.

Die Nationalisten dagegen betonen, die „Belaja Rus“ waren nicht immer das vernachlässigte Randgebiet im russischen Block, sondern erkennen im polyzentrischen Verband der Rus eine eigene völkisch-territoriale Sonderentwicklung. Man habe zwar gemeinsame Ahnen, ging dann aber getrennte Wege, die zur eignen Ethnogenese führte. Bemerkenswert ist die These einiger Nationalisten, das Großfürstentum Litauen wäre weißrussisch verfasst gewesen und die authentischen Litauer Slawen, während sich baltische Stämme diesen Namen später angeeignet hätten. Gebietsansprüche sind die logische Folge („Litwinismus“). Die Nationalisten heben die antisowjetische Tradition des polnischen Westteils (bis 1939) hervor, was ihnen von panrussischen Nationalisten den Vorwurf der Komplizenschaft mit Polen einbringt. Die prodeutsche Kollaboration wird nur von neonationalsozialistischen Sekten instrumentalisiert und sonst ignoriert, weil tabuisiert.

Die liberal-westliche Geschichtsselektion stellt demgegenüber den multiethnischen und multikulturellen Charakter der vergangenen weißrussischen rudimentären Staatlichkeit heraus, das gilt für die frühen Fürstentümer wie für die polnisch-litauische Phase. Besonders gern wird das tolerante Klima gegenüber den zahlreichen Juden betont, die hier ihre wahre Heimstatt gefunden hätten. Diese multikulturelle Eintracht manifestierte sich dann in der frühen Sowjetphase, als Weißrussisch, Russisch, Polnisch und Jiddisch zu gleichberechtigten Amtssprachen erhoben wurden. Gern wird auf die weißrussische Herkunft polonisierter pseudodemokratischer Freiheitskämpfer hingewiesen wie Adam Mickiewitz oder Andrzej Kościuszko. Der Mythos der „Partisanen-Republik“ in Folge der Ereignisse im Zweiten Weltkrieg wird gleichermaßen von panrussischen Nationalisten, Kommunisten, Liberalen und Sozialdemokraten kultiviert – auch Lukaschenko nutzt diese populäre Darstellung.

Sowohl Nationalisten wie Liberale betrachten ihr Land als ewiges Opfer fremder Begehrlichkeiten oder als verheertes Durchzugsgebiet: Livländischer Krieg, Nordischer Krieg, Napoleon, Erster Weltkrieg, Polnisch-Sowjetischer Krieg und Zweiter Weltkrieg. Tatsächlich waren Zerstörung und Bevölkerungsverluste hier besonders stark. Ebenso gehört der jährlich stattfindende Tschernobyl-Marsch zur zentralen Identitätsbildung.

 

Weißrusslands ungeklärte Flagge und Wappen

Der Streit um die Nationalsymbole spiegelt die rivalisierenden Identitäten des Landes wider (siehe unten). Seit der Unabhängigkeit bis 1995 galten Flagge (weiß-rot-weiß) und Wappen („Pahonja“: schwertschwingender Ritter auf Pferd) des ersten selbständigen Weißrusslands von 1918 als offizielle Nationalflagge. Sie knüpfen an eine mittelalterliche Variante an. Unter der Präsidentschaft Lukaschenkos wurden Flagge und Wappen abgeschafft und durch eine der Weißrussischen Sowjetrepublik vergleichbare ersetzt, um sich nicht vollends von Moskau zu entfremden. Speziell das aktuelle Wappen (Symbole des Wohlstands und des Optimismus mit den Landesgrenzen im Hintergrund) erinnern an die künstlichen Nationalsymbole Kosovos, Nordmazedoniens und Bosnien-Herzegowinas. Die Symbolik bis 1995 wurde nicht nur wegen des mangelnden weißrussischen Bewusstseins so kampflos aufgegeben, sondern weil sie als Symbole für sozialen Niedergang erschienen, der tatsächlich 1991 einsetzte. „Pahonja“ wie die weiß-rot-weiße Flagge waren nie im Volk verankert und 1991 ohne große Inszenierung eingeführt worden. Obwohl beide Symbole für nationale Eigenständigkeit stehen, diskreditieren prorussische Kräfte diese als fremden Ursprungs: die Farben seien an Polen orientiert und „Pahonja“ ähnelt tatsächlich dem litauischen Wappen.

 

Sprachenstreit

Als besonders hinderlich für die Nationalisierung der Weißrussen erweist sich die ungeklärte Sprachenfrage. Seit 1994 wurde Russisch als weitere Amtssprache eingeführt (88,3% der Bevölkerung dafür), weil Weißrussisch nicht praktikabel war. Weißrusslands Nationalisten werten das Weißrussische auf, indem sie die altostslawische Herkunft und den Umstand betonen, das Weißrussische war bis Anfang des 17. Jhs. Kanzleisprache im Großfürstentum Litauen mit entsprechend hohem sozialen Status. Erst nach der Vereinigung mit Polen 1569 polonisierte sich der heimische Adel und degradierte das Weißrussische zur Sprache der Bauern. Erst Ende des 19. Jhs. setzte die unvollständige Standardisierung der vielfältigen Bauerndialekte ein. Auf Betreiben nationalrussischer Kräfte in der Sowjetunion kam es zu einer Orthographiereform, die das Weißrussische dem Russischen annähern sollte, weshalb zwei orthographische Varianten miteinander streiten. Weißrusslands Nationalisten sind sich uneins, welche Varietät ihrer favorisierten Sprache sich durchsetzen soll – und mit welchen Buchstaben: Kyrillisch oder Latein. Letztere würde die Distanz zu Moskau verstärken. Im Alltag wird das fragile Weißrussisch nur von 5% gesprochen, auch wenn es von 80% verstanden wird.

 

Keine Nationalreligion

Im Gegensatz zur Ukraine ist Weißrussland religiös relativ homogen, allerdings bekennt sich die Mehrheit der Gläubigen zur „Weißrussisch-Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats“, was den Nationalisierungsprozess deutlich erschwert. Im ukrainischen Fall existieren mit der „Griechisch-Katholischen Kirche“ (auch „Unierte Kirche“), der „Ukrainisch Orthodoxen Kirche Kiewer Patriarchats“ und der „Ukrainischen Autokephalen Kirche“ mehrere Nationalreligionen. Die römische Unierte Kirchenvariante gab es auch in Weißrussland zur Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft als Folge von Katholizierungsbestrebungen. Die Eroberung durch Moskau im Zuge der Polnischen Teilungen ließ die „Unierte Kirche“ nach deren Verbot auf eine Minderheit schrumpfen, während der ukrainische Westen bei Österreich verblieb, wo sich die religiöse von Moskau unabhängige Sonderentwicklung erhalten konnte. Folgerichtig wird die Mehrheitskirche auch von Lukaschenko gefördert. Die katholische Minorität ist fast mit der polnischen Volksgruppe identisch und taugt deshalb nicht als Keimzelle einer neuen Nationalreligion. Als überraschende Alternative können sich jene protestantischen Gemeinden evangelikaler Prägung erweisen, die momentan 5% der Gläubigen ausmachen, aber besonders schnell expandieren. Man findet ihre Anhänger überproportional unter antirussischen rechtskonservativen Oppositionellen und prowestlichen Intellektuellen. Das Regime behindert deshalb die protestantische Missionierung.

 

Weißrusslands Identitäten

Genau wie beim ukrainischen Nachbarn lassen sich drei Hauptidentitäten plus Subidentitäten ausmachen, doch unterscheiden sich die Größenverhältnisse gegenüber der Ukraine erheblich:

1) Panrussen: Diese Weißrussen haben nur ein regionales Bewusstsein und fühlen sich als authentische Russen. Sie streben die Vereinigung mit Russland an. Man kann sie mit den Bayern und großdeutschen Österreichern vergleichen.

Verbreitung: das gesamte Land und die Großstädte, am schwächsten im äußersten Westen

Religion: Weißrussisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchat

Sprache: Russisch

Ideologie: ganz Links bis ganz Rechts

Symbole: russische Nationalsymbole

Staatsbezeichnung: Weißrussland mit Betonung auf Russentum

2) Kulturrussen: Wachsende Gruppe mit dem Bewusstsein, einst Bestandteil des russischen Volkes gewesen zu sein. Weißrussisch stellt nur einen Dialekt dar. Sie favorisieren eine enge wirtschaftliche und kulturelle Bindung an Russland. Der slawophile Teil sympathisiert mit der staatlichen Vereinigung, wenn das materiellen Vorteil bringt. Der nationalistische Teil stellt die Eigenstaatlichkeit dagegen nicht in Frage. Man kann sie mit den deutschnationalen Österreichern vergleichen.

Verbreitung: alle Regionen ohne die Großstädte

Religion: Weißrussisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchat

Sprache: Russisch

Ideologie: von ganz Links bis gemäßigt Rechts

Symbole: russische Nationalsymbole oder weiß-rot-weiße Farben mit Pahonia oder Lukaschenkos Symbole

Staatsbezeichnung: Weißrussland oder Belarus mit Betonung „Weiß“ zur Unterscheidung

3) Nationalweißrussen: Bestreiten jegliche Verbindung mit den Russen, sehen diese als asiatisch-rassisch verfälscht und sich als reine Nachkommen der Altrussen.

Verbreitung: Westen und die Großstädte

Religion: Katholizismus, Protestantische Kirchen, „Unierte Kirche“

Sprache: Weißrussisch

Eine Untergruppe sieht sich als rein germanisch an, das führen sie auf die Waräger und die antiken Skythen zurück.

Ideologie: von gemäßigt Links bis ganz Rechts

Symbole: weiß-rot-weiße Farben mit Pahonia

Staatsbezeichnung: Belarus mit Betonung der warägischen Rus

 

Diese drei Identitäten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Kommt es zur Polarisierung zwischen Eigenstaatlichkeit oder Vereinigung mit Russland bzw. Westorientierung und Bruch mit Russland, muss es zu folgender Frontstellung kommen: Nationalweißrussen und nationale Kulturrussen gegen Panrussen und slawophile Kulturrussen. Das Kräfteverhältnis hängt von materiellen Vorteilen und attraktivem Moskauer Staatsideal ab. Sollte die EU als vermeintlicher Hort des Wohlstandes an Prestige einbüßen, kann Putins „Eurasische Wirtschaftsunion“ den Ausschlag für einen Gesinnungswandel der Kulturrussen bringen.

 

Lukaschenko

Der autoritäre Präsident Lukaschenko vollzieht einen identitären Drahtseilakt: Bis Ende der 1990er folgte er einer panrussischen bis slawophil-kulturrussischen Orientierung, danach einer eigenstaatlich-kulturrussischen. Die nationalweißrussische bleibt sein Hauptfeind. Außenpolitisch korreliert dies mit Nähe und Distanz zu Moskau ohne jemals pro EU und pro NATO gewesen zu sein. Seinem System fehlt eine integrierende Ideologie und Symbolik, wird jedoch durch moralischen Konservatismus, nichtethnischen Territorial-Patriotismus und relativen Wohlstand erhalten. Lukaschenko erinnert an lateinamerikanische Caudillos und das personalistische Regime Zentralasiens. Seine Nachfolge ist ungesichert. Sein Schlingerkurs gegenüber Moskau spiegelt sich im nationalen Einheitsstreben mit Russland und der Ukraine auf staatssozialistischer Grundlage wider (frühe 1990er), das von einer vorübergehenden Zollunion und dem Unionsvertrag von 1995 ihren Höhepunkt erreichte. Seit der Jahrtausendwende orientiert sich der Präsident verstärkt an China und einzelnen westlichen Staaten. Seitdem stellt er die nationale Eigenstaatlichkeit nicht mehr in Frage, was sich an der Ablehnung der russischen Annexion der Krim und der Nichtanerkennung prorussischer Staaten wie Abchasien und Südossetien (beide nominell georgische Territorien) äußert. Zur Forcierung seiner gelegentlichen Westorientierung (speziell nach Italien) fördert er die Katholische Kirche, die er gesetzlich schützt und als traditionelle einheimische Konfession anerkennt. Höhepunkt war das Treffen mit dem Papst 2009. Ein weiterer Grund seiner prokatholischen Haltung ist im Nationalisierungsstreben des heimischen Katholizismus zu suchen, um die polnisch-nationalistische Dominanz zu brechen. Eine Annäherung an NATO, EU und USA lässt sich bisher nicht feststellen, im Gegenteil: Das in Europa isolierte Regime unterhält herzliche Kontakte zu betont US-feindlichen Staaten wie Iran, Kuba oder Venezuela. Im Gegensatz zu vergleichbaren Regimes in Zentralasien oder auch Putin-Russland existiert keine privilegierte Systempartei. Eine „Patriotische Partei“ und die sehr heterogene Partei „Belaja Rus“ bekennen sich zu Lukaschenko genauso wie die „Republikanische Jugendunion“. Als von oben gesteuerte Organisationen kann man sie kaum bezeichnen, führen sie doch ein ideologisch unberechenbares Eigenleben.

 

Faktor Militär

Das Militär gehörte zu den wichtigsten Säulen des Regimes, spaltete sich jedoch seit den 2000ern zunehmend auf in prorussisch und von Moskau emanzipiert ohne pro NATO und pro EU zu werden. Das geht mit einer eigenen von Moskau unabhängigen Offiziersausbildung und dem eher mäßigen Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie einher. Führende Militärs verübeln Putin mangelndes Interesse an eine mögliche Vereinigung und Weißrusslands militärstrategische Reduzierung zur bloßen Luftraumverteidigung.

 

Faktor Minderheiten

Wichtigste und größte ethnische Minderheit sind die Russen, deren Anteil kontinuierlich sinkt. Das hat vorläufig noch reine sozioökonomische Gründe und keine politischen. Diese Russen sind nicht mit den Weißrussen zu verwechseln, die sich ebenfalls als Russen definieren. Außerdem stellen sie nicht automatisch eine Stütze Lukaschenkos dar, da dessen Schlingerkurs gegenüber Moskau abschreckt. Vielmehr schwelgen sie mehrheitlich in Sowjet-Nostalgie.

Die kompakt siedelnde polnische Minderheit im Westen, wo sie lokal die relative Mehrheit stellt, steht klar in Opposition zum Regime. Auch deren Anteil sinkt kontinuierlich aus sozioökonomischen und politischen Gründen. Die Lobbyorganisation „Union der Polen Weißrusslands“ wird großzügig von Warschau finanziert und propagiert neben Kulturautonomie auch eine vom Russentum unabhängige weißrussische Identität mit eigener Sprache, schon damit Polnisch zur effizienteren Verkehrssprache erhoben wird. Die Polen sind mehrheitlich nationalkonservativ-katholisch orientiert.

Das Judentum als ehemals starke Minderheit (1900 13,8%) und städtisches Phänomen (1900: Minsk 51% Juden bei nur 9% Weißrussen) mit herausragenden Exponenten (Chaim Weizmann, Shimon Peres, Marc Chagall) spielt nach den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, antizionistischer Kampagne der Sowjetära und massiver Abwanderung keine Rolle mehr. Lukaschenko bemüht sich um die kleinen Reste, um die Diaspora-Juden günstig zu stimmen.

 

Welche Konfliktebenen gibt es?

Die Frontstellung Opposition versus Lukaschenko-Regime korreliert eben nicht mit weißrussischer Eigenstaatlichkeit oder Nähe zu Russland, nicht mit Markt- oder Staatswirtschaft und auch nicht mit West- oder Ostorientierung. All diese Konfliktlinien existieren seit den 2000ern in beiden Lagern. Aber nicht nur Lukaschenkos Positionen haben sich gewandelt, auch die Opposition wandelte sich: Die national-demokratische prowestliche Dominanz wurde durch eine linksliberale Offensive ersetzt, die ein gegendertes anationales Weißrussland anstrebt, das sich offen für Einwanderung zeigt. Selbstredend erfreuen sich solche Aktivisten großer Unterstützung aus dem Soros-Lager. Eine bescheidene national-radikale antirussische Strömung (vergleichbar den ukrainischen Ultras) und eine eurasische pro Putin-Strömung vervollständigt die heterogene Opposition. Einzige oppositionelle Kontinuität stellt die sehr aktive polnische Minderheit dar. Polnische Minderheit und Nationalradikale sehen sich aber naturgemäß als Feinde. Ein Kuriosum bildet eine lautstarke katholisch-monarchistische Strömung, die sich an jenem Großfürstentum Litauen orientiert. Von einer geeinten wirkungsmächtigen Opposition kann also keine Rede sein.

 

Ausblick

Aufgrund der mäßigen ideologischen Legitimierung Lukaschenkos und seines Personalismus wird das System in dieser Form nicht überleben. Wichtigste Stützen sind Militär, Staatswirtschaft und Staatsverwaltung, doch gerade die Sicherheitskräfte sind für eine Radikalisierung nach Rechts offen – egal ob russisch oder nationalweißrussisch. Eine politische Demokratisierung wird mit drastischen Wirtschaftsreformen einhergehen, die zu neuen sozialen Verwerfungen führen und Lukaschenko-oder Sowjet-Nostalgie wecken müssen. Momentan lebt die Minsker Republik von ihrer Funktion als Puffer und Drehscheibe, die externe Akteure noch dulden. Weißrussland überlebt also nicht aus eigener Stärke, sondern weil man es momentan braucht. Eine Wiedervereinigung mit einem regenerierten Russland ist genauso wahrscheinlich wie die Integration eines von außen abgespaltenen westlichen Weißrusslands in einen osteuropäischen Großraum à la Intermarium.