Die Wahl zum Europäischen Parlament – Rückschau, Analyse und Ausblick

von | 14. Jul. 2024 | Deutschland und die Welt

Dominik Schwarzenberger analysiert die Wahlen zum Europäischen Parlament und betont deren Dynamik im Vergleich zu nationalen Wahlen. Er beschreibt die Wahl 2024 als „Schicksalswahl“, geprägt durch starke Polarisierung und eine Hysterie gegen rechte Parteien. Er konstatiert ein Erstarken nationalistischer Parteien und eine zunehmende Fragmentierung der politischen Landschaft in Europa.

 

Mit besonderer Leidenschaft verfolge ich seit jeher die Wahlen zum Europäischen Parlament – nicht wegen dieser Institution, sondern wegen der gleichzeitig stattfindenden Wahlen aller EU-Staaten. Es sind die so völlig anderen Bedingungen, die sie von nationalen Abstimmungen unterscheiden: Wegen der offensichtlichen mangelnden Bedeutung des Parlaments, trauen sich die Wähler verstärkt alternativ zu wählen, d.h. EU-Wahlen können ein Spiegelbild nationaler Entscheidungen sein, sind aber vielmehr eine Abrechnung mit der eigenen Regierung, ohne dass man taktische Momente berücksichtigen muss[1]. Kleinparteien und Außenseiter können wegen der in vielen Staaten fehlenden Sperrklausel ins Parlament einziehen. Hier ist dann aufschlussreich, welcher Fraktion sie sich anschließen oder gar selbst initiieren. Diese Wahl fand unter anderen Bedingungen statt: ihre Brisanz kündigte sich schon Wochen vorher an.

„Schicksalswahl“

Der Wahl 2024 war im Vorfeld – wegen der für das Establishment einiger Staaten alarmierende Umfragewerte –, eine Hysterie gegen rechts mit den unvermeidlichen Bekenntnissen zu Weltoffenheit, Toleranz und Akzeptanz des Andersseins vorausgegangen. Von „Schicksalswahlen“, die gleich die ganze EU und nationale Demokratien bedrohen, war da die Rede. Prominente meldeten sich mit Statements gegen rechts und riefen zu einer hohen Wahlbeteiligung auf und die offiziellen Medien beschworen den Kampf zur Verteidigung der Demokratie[2]. Den Rechten wurde billiger Populismus, Hass und Hetze und die Spaltung der Gesellschaft vorgeworfen. Die Rechten selbst traten besonders in den älteren EU-Staaten betont gemäßigt auf, grenzten sich von rechten Verwandten national wie international ab – doch es nützte nichts: der Bannfluch des Extremismus traf sie alle und Brandmauern wurden beschworen.

Bemerkenswert war, dass Parteien mit starker Anti-Rechts-Hysterie gepaart mit einem penetranten antirussischen Ukraine-Standpunkt, durchaus einen verschleierten Patriotismus[3], Frieden und ein „Bollwerk Europa“ gegen Putin forderten. Die „Festung Europa“ ist ansonsten tabu und wird mit xenophober Abschottung in Verbindung gebracht.

Für taktisch geschickt hielt man außerdem das in einigen Staaten gesenkte Wahlalter, das den hippen Linksliberalen nutzen sollte. Alle Register wurden gezogen.

Innerstaatliche Polarisierung

Insgesamt bestätigte sich meine globale Diagnose, wonach alle Staaten in unterschiedlichem Grad polarisiert[4] sind: Zwei unversöhnlich wachsende Pole – Progressisten (für die Poppersche „Offene Gesellschaft“) und Traditionalisten – zerreiben die breiten ideologischen Zwischenpositionen[5]. Gemäßigte kompromissbereite Zwischenpositionen werden de-facto gedrängt, sich diesem oder jenem Extrem anzuschließen[6]. Jeder Pol wirft dem anderen Spaltung und Schwarz-Weiß-Denken[7] vor, wobei häufig eine Asymmetrie besteht: Ein offensiver Pol erzeugt eine Reaktion, was den Gegenpol wachsen lässt[8]. Die EU-Staaten gehören nach meiner Klassifizierung noch zu den gemäßigt polarisierten. Hier stehen sich maximal die europäischen AfDs und Grüne gegenüber (und nicht wie vorher die CDUs den SPDs), wobei die westlichen Christdemokraten von den Progressisten[9] getrieben werden und die ost- und südeuropäischen von den Traditionalisten.

Mentalität der ideologischen Lager

Ich bin davon überzeugt, dass sich alle politischen Lager Westeuropas in Blasen befinden und sich weitgehend von der Realität abgekoppelt haben. Wenn ich die gängigen Narrative der ideologischen heterogenen und zerstrittenen Lager beobachte, kann ich feststellen:

  • Die Rechten sind gespalten in hoffnungslose Defätisten, wonach die hohe Resonanz bei rechten Wahlergebnissen ein letztes Aufbäumen vor dem Großen Austausch sei, während Euphoriker eine baldige Wende[10] erwarten. Linksliberale Werte werden als etabliert betrachtet.
  • Die Progressisten glauben an einen gesellschaftlichen Rechtsruck und erwarten in Teilen allen Ernstes eine mögliche Diktatur. Die Panik vor einem Rechtsruck nehme ich ihnen tatsächlich ab. Demnach gehören die Unionsparteien nicht zum antifaschistischen Block, sondern betreiben Mimikry: sie benutzen die AfD als Eisbrecher[11]. Linkliberale Werte sind also nur oberflächlich akzeptiert und reichen noch nicht aus.
  • Die westeuropäischen CDUs erscheinen mir als besonders naiv, unterschätzen wie schon in den 1970ern die linksliberale Subversion. Sie lassen sich treiben und scheinen in ihrer Selbstgefälligkeit auf Zeit zu spielen, warten, bis der linksliberale Spuk als momentane Mode einer kleinen Minderheit wieder einschläft und spielen mit. Einige innerparteiliche Fraktionen sind jedoch schon längst vom Progressismus erfasst[12]. Drohende sozioökonomische Verwerfungen im Zuge wirtschaftlicher Krisen werden unterschätzt.

Wer sind die kandidierenden Rechten?

Geht man nach den offiziellen Medien, den Linken und „Extremismusexperten“ handelt es sich bei den kandidierenden rechten Parteien um eine einheitliche miteinander verschworene ideologische Familie[13]. Tatsächlich zeigen sich die rechten Parteien vielgestaltig und gegensätzlich, auch in ihren Ländern. Wir finden überall eine organisatorisch und ideologisch uneinige Rechte – wie es ja auch für die anderen Lager typisch ist. Neben persönlichen Rivalitäten, die zu gern ideologisch verschleiert werden, gibt es wirkliche inhaltliche Unterschiede: Haltung zu Nationalstaat und EU, Haltung zu Russland, USA und NATO, Haltung zu Israel und Palästinensern, Haltung zum Islam allgemein, Haltung zu traditionellen Werten. In Osteuropa spielen zudem Grenzstreitigkeiten und der Umgang mit autochthonen Minderheiten eine Rolle. Die Qualitäts- und Quantitätsunterschiede spielen ebenfalls eine Rolle: Wir haben mitgliederstarke und Kleinstparteien, elektoral erfolgreiche Parteien, hoffnungslose Fälle und unbekannte Neugründungen, Parteien mit Regierungserfahrung und unerfahrene Parteien. Intellektuelles Niveau und Sozialstruktur differieren gleichfalls zwischen den Staaten und innerhalb derselben[14]. Ideologisch reicht die Bandbreite von Weltanschauungsparteien mit profilierten Inhalten und klarer ideologischer Traditionslinie über heterogene Sammlungsparteien (mit einem Minimalkonsens und innerparteilicher ideologischer Vielheit) bis zu überideologischen populistischen Parteien mit bloßer Anti-Programmatik. Manche Parteien sind auf ihren Vorsitzenden ausgerichtet, andere betonen das Programmatische. Kurz gesagt: in den meisten Staaten Europas existieren alle aufgezählten Varianten. Die Einteilung in gemäßigte, radikale oder extremistische Parteien ist irreführend, da man Parteien nicht nach ihren momentanen Vorsitzenden, Programmatik und Aussagen offizieller Kommunikationsorgane beurteilen darf, sondern nach der mittleren Funktionärs- und Aktivistenebene, dem Milieu und Subkultur, den Verlautbarungen regionaler und untergeordneter Kommunikationsorgane sowie nach Ausrichtung der Neben- und Sonderorganisationen.

Mythos Osteuropa

In Bezug auf Osteuropa, Balkan und Baltikum geistert unter westeuropäischen Rechten, Liberalen und Linken ein Mythos – ein Mythos, wonach die dortigen Staaten konservativ bis reaktionär[15] ausgerichtet seien, Einwanderung nicht passiert und traditionelle Werte fortbestehen. Im Kontrast zum Westen mag das zwar stimmen, doch empfiehlt sich ein Vergleich osteuropäischer Realitäten heute, denen vor fünfzehn Jahren und denen von 1990: Der Osten holt im Zeitraffer auf, genau wie andere Kontinente auch. Die unversöhnliche kompromisslose sich zuspitzende innergesellschaftliche Polarisierung finden wir überall, das Erodieren des Traditionellen ebenso und auch eine zunehmende außereuropäische Einwanderung. Letztere allerdings wesentlich gemäßigter und vorerst in die Hauptstädte. Demographisch steht Osteuropa noch schlechter da als der Westen: die ohnehin niedrigere Bevölkerungszahl (außer Polen und Rumänien) ist ethnisch und religiös durch autochthone Minderheiten fragmentiert, die Geburtenraten niedrig und die Auswanderungsrate junger potenzieller Eltern hoch. Die höchste Geburtenrate haben die Roma, die die Bevölkerungsstruktur prägen werden.

Dem Mythos Osteuropa nähern wir uns, wenn wir nach politischem Konformismus fragen – und da gibt es einen fundamentalen Unterschied: Der in einigen westlichen Ländern inzwischen konforme radikale Linksliberalismus mit Postnationalismus, multikultureller Gesellschaft, fortschrittlichen Werten, Szientismus, Atheismus und Identitätsideologie sind im Osten und Süden Europas noch nonkonform. Doch er verbreitet sich sukzessiv, stößt aber auf erbitterten Widerstand. Kurz: Im Westen sind die Rechten inzwischen in der Offensive bei starken linksliberalen Bastionen und im Osten die Linksliberalen bei starken konservativen Bastionen. Folgerichtig sind die osteuropäischen CDUs immer noch weitgehend konservativ und patriotisch, müssen sich aber aufgrund der zunehmenden Polarisierung und der wachsenden Unmöglichkeit einer Mittelposition für eine Seite entscheiden – meist zugunsten einer Rechtsentwicklung, während die Zögerer marginalisiert und zerrieben werden[16]. Alle Jahre wieder tauchen smarte, jugendliche, rebellische NGOs und Parteien auf, die von aus den USA und Westeuropa geschulten Entertainern geführt werden, manchmal radikal im links-grünen Gewand, andermal im bürgerlich-liberalen oder populistischem gegen angebliche Korruption. In Westeuropa finden wir auch zunehmend dieses Phänomen[17]. Die osteuropäischen SPDs sind weitgehend noch sozialdemokratisch und auf die Ökonomie ausgerichtet, oft jedoch schon Träger des Linksliberalismus. Der Osten ist nicht mehr ursprünglich und der Westen noch nicht verloren.

Der Wahlausgang

Ganz nüchtern lässt sich ein deutliches Erstarken nationalistischer Parteien konstatieren, die einige traditionelle Werte (das eigentlich rechte Element) propagieren. Das Thema Einwanderung stand bei ihnen im Fokus, Alternativen gegen die sozioökonomischen Krisen und Degenerationserscheinungen fehlten.

  • In einigen Staaten sind rechte Parteien, alles Sammlungsparteien, stärkste Kraft: Frankreich (31,5%)[18], Italien (28,8%)[19], Österreich (25,3%) und Belgien (14,5%).
  • In Osteuropa mit Balkan und Baltikum sowie Spanien, Zypern, Malta und Griechenland waren Parteien erfolgreich oder gar stärkste Kraft, die wir als noch ursprüngliche konservative CDUs bezeichnen dürfen (allerdings mit bürgerlich-liberalen Flügeln). Deren rechte Flügel kann man nach bundesdeutschem Verständnis mit AfD und LePen vergleichen.
  • Radikalere rechte Weltanschauungsparteien erlangten in Rumänien (zusammen 20%), Polen (12%), Ungarn (6,7%), Slowakei (12,5%) und Zypern (11,3%) teils spektakuläre Ergebnisse[20].
  • Rechtspopulisten als vorherrschender rechter Parteientypus mit Stimmengewinnen finden wir in Spanien (zusammen 14,1%), Portugal (9,8%), Dänemark (zusammen 14%[21]) und Luxemburg (11,7%). Nur in Finnland (7,6%) und Schweden (13,2%) büßten sie an Stimmen ein.
  • Auf Irland haben wir seit Jahrzehnten wieder überhaupt wahrnehmbare rechte Parteien (zusammen 11%), von denen sogar eine populistische ins Parlament gelang.
  • Das progressistische Lager mit sozialdemokratischen, linksliberalen, klassisch liberalen und populistischen Vertretern büßte im Westen stark ein[22], reüssierte jedoch im östlichen Europa (mit Ausnahme Estlands und Lettlands), wo es den nonkonformen Protest zu nutzen verstand. Besonders die herkömmliche sozialdemokratische Familie verlor mit einigen Ausnahmen wie Spanien und Portugal an Boden[23]. Die Sozialdemokraten des Westens sind weitgehend linksliberalisiert und vom Ökonomischen abgelöst. In den Niederlanden, Dänemark, Schweden, Slowakei und Slowenien wurden progressistische Parteien und Wahlbündnisse stärkste Kraft, während sie in Finnland die Proteststimmung geschickt ausbeuten konnten.
  • Ein von mir erwartetes Szenario hat sich noch nicht bewahrheitet: die Renaissance kommunistischer Parteien, die sich allmählich vom radikal Linksliberalen lösen oder zumindest zusätzlich das Ökonomische wiederentdecken. Meist handelt es sich um Parteien mit linksliberalen, marxistischen und linkssozialdemokratischen Flügeln. Beachtung verdienen hier vorerst die belgischen Kommunisten und die österreichischen. Letztere KPÖ schaffte den Parlamentseinzug zwar nicht, zog dafür in zwei österreichische Landtage ein.
  • *Mit besonderem Interesse beobachte ich linksnationale oder linke souveränistische Parteien. In Westeuropa bleibt das Phänomen Linksnationalismus die seltene Ausnahme[24], im östlichen Europa und anderen Kontinenten sind sie häufig anzutreffen. Der linksnationalistische Typus würde auch aufgrund seiner traditionellen Werte und des Nationalismus nach bundesdeutscher Diktion das Etikett rechts verdienen. Das linke Prinzip betrifft die Wirtschaftsform und die Haltung zur Kirche. Die Bandbreite ist erheblich. Sie reicht von den klar nationalradikalen „Sozialdemokraten“ Rumäniens über die defensiv nationalistischen slowakischen Sozialdemokraten Robert Ficos zu souveränistischen[25] Parteien. Zu diesen Typen gehören das deutsche „Bündnis Sahra Wagenknecht“, die Mehrheit der tschechischen „Kommunistischen Partei“, die Mehrheit der zypriotischen Kommunisten, die „Sozialistische Volkspartei“ Dänemarks, die „Fünf-Stern-Bewegung“ Italiens, die irische „Sinn Féin“, die KP Griechenlands und „Das unbeugsame Frankreich“[26]. Diese Parteien stehen Brüssel und der NATO skeptisch bis ablehnend gegenüber und streben eine Verständigung mit Moskau an. Die Heterogenität dieser Parteien zeigt sich daran, dass sie unterschiedlichen EU-Fraktionen angehören.
  • *Wie bei vorhergegangenen EU-Wahlen üblich, schafften auch Ein-Themen-, und Spaß-Parteien aller Couleur den Einzug oder wenigstens Achtungserfolge. Protest, Schelmerei und Überzeugung halten sich die Waage. Hierzu gehören die Satireparteien „Die Partei“ aus Deutschland sowie die „Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes“[27]. Zypern lieferte mit der Wahl des YouTubers Fidias Panagiotou (19,3%) eine Sensation, wahrscheinlich darf man ihn bald im progressistischen Lager suchen.

Auswertung und Ausblick

Wie lässt sich diese Wahl beurteilen? Vom Gesamtergebnis her für die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments und als nationales Ergebnis der einzelnen Staaten? Was steht zu erwarten?

  • Die Fragmentierung nationaler Parteiensysteme[28] und der Bedeutungsverlust alter Volksparteien erreichen immer neue Höhepunkte, Mehrheiten werden schwieriger, Regierungskoalitionen fragiler und nachhaltiges Gestalten zur Krisenbewältigung immer weniger möglich. Traditionelle politische Milieus erodieren und die Deklassierten wachsen – die Basis aller Radikalen. Die Entfremdung zwischen Politischer Klasse und Volk verschärft sich.
  • Erfolgreich waren meist nur die lauen Rechten und das selten aus eigener Stärke – immerhin ein Anfang und vom symbolischen Wert nicht zu unterschätzen. Die Rechte ist wieder wer. Sie stellen eine Störung des eingeschliffenen Politbetriebs dar und können zur Entschärfung einiger politischer Minen beitragen. Ansonsten gehen ihre Erfolge auf Kosten echter rechter Formationen und wirken auf das europaweite Heer der Unzufriedenen als Beruhigungsmittel. Häufig wird ins Feld geführt, mit den neuerworbenen Ressourcen und Einflussmöglichkeiten, könne man eine Trendwende erzwingen. Das ist eine Illusion: erfolgreiche Rechtsparteien fördern wie alle zu schnell gewachsenen Parteien die innere Oligarchisierung. Sie sind wegen der Pfründeverteilung anfällig für innerparteiliche Intrigen und locken Karriereritter. Programmatische Verwässerung, Opportunismus und Distanzeritis sind die Folge[29]. Rechte Regierungsbeteiligungen hatten bisher selbst beim Kernthema Einwanderung keine Besserung erzielt.
  • Aufschlussreich wird sein, welche Rechtsparteien sich miteinander im EU-Parlament verbinden. Mehrere solcher Fraktionen sind wegen des Konkurrenzdrucks und wahrscheinlicher personeller Übertritte begrüßenswert, garantieren Dynamik und gegenseitigen Druck.
  • Die von den offiziellen Medien als Gewinner gefeierten CDUs der EVP-Familie sind nur noch Kolosse auf tönernen Füßen: hoffnungslos überaltert, technokratisch, pragmatisch, apathisch und selbstgefällig. Die CDUs profitierten bisher von dem Umstand, dass sie im Zweifelsfall von allen als geringstes Übel gewählt werden: als bürgerliche (für Rechte) wie antirechte (für Linke) Kraft. Gestalterische Impulse gehen von denen nicht mehr aus.
  • Mit den sich potenzierenden Krisen werden auch Kommunisten als neuer Extrempol erstarken. Sie werden einen Teil der Deklassierten, darunter Einwanderer, bündeln. Gegen diese neu-alten ideologischen Fanatiker kann sich die Rechte neu profilieren. Ein weiterer Brückenkopf kann besetzt werden.
  • Das drängende Problem Einwanderung bleibt bestehen. Daran ändern auch die aktuellen vollmundigen Versprechungen so vieler Altparteien nach dem Rechtsruck in den einzelnen Staaten nichts. Wie oft gab es Asyl- und Integrationsdebatten ohne Konsequenzen[30]! Folglich bleibt auch das Kernthema der Rechten erhalten.
  • Die heutige Rechte profitiert von günstigeren Voraussetzungen als ihre Ahnen: heute brauchen sie nicht mehr Klassen, Milieus und Konfessionen berücksichtigen – alles befindet sich in Auflösung. Konventionelle Bindungen lösen sich und die atomisierten Massemenschen suchen nach neuen Bindungen. Die Rechte besitzt zur Erschließung dieser Massen ein Monopol auf die Themen Einwanderung, Antiglobalismus und Verteidigung traditioneller Werte. Aufgrund der Polarisierung können diese Themen nicht mehr von Akteuren der Mitte instrumentalisiert werden, sie würden dann automatisch einem Pol zugeordnet.
  • Die Antagonismen innerhalb der Politischen Klasse nimmt zu, Verunsicherung und Selbstzweifel steigen. Brandmauern werden von Zweiflern als Sackgasse erkannt. Die Politische Klasse spaltet sich auf und ein Teil wird sich mit der Opposition von links und rechts verbünden.
  • Es steht zu erwarten, dass nun schnelle Einbürgerungen folgen, um neue verlässliche Wähler zu sichern und den nationalen Selbstbehauptungswillen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Neben Resignation rechter Wähler führt das auch zur weiteren Ernüchterung und Entfremdung. Neue Türen für neue Wege können sich öffnen.

Diese Wahl war durchaus ein Erdbeben – für das europäische Gesamtergebnis wie für viele Staaten. Dennoch sollte man es nicht überbewerten, da sich die erfolgreichen Rechten ganz schnell entzaubern und selbst zerfleischen können. Ein Teil des Protestpotenzials kann dann schnell auch links ausgebeutet werden.

 

 

[1] Etwa: Das geringere Übel wählen in Ländern mit Mehrheitswahlrecht oder CDU-Anhänger stimmen mit ihrer Zweitstimme für den potenziellen Koalitionspartner FDP. Heuer fanden gleichzeitig die nationalen Parlamentswahlen in Bulgarien und Belgien statt, wobei sich die Ergebnisse mit denen zur EU ähnelten.

[2] Dazu exemplarisch: ein dystopisches Szenario vom Duo Joko + Klaas präsentiert, wie es primitiver nicht sein konnte. Im Kontrast dazu die clevere „#AfDNee“-Kampagne zur Rückgewinnung reiner Protestwähler.

[3] „Ein starkes Europa bedeutet ein sicheres Deutschland“ (Grüne) oder doppeldeutig: „Deutschlands stärkste Stimmen für Europa“ (SPD).

[4] Vgl. „The Great Reset“ – Die Völker am Scheideweg, in: Agora 1 Juni 2021.

[5] Die beiden Pole entsprechen nicht zwingend Links und Rechts, da auch Rechte (nach bundesdeutscher Festschreibung) progressive Ideen vertreten können, z.B. Verteidigung gleichgeschlechtlicher Ehen usw. gegen reaktionären Islam. Israel weist eine besondere Vielfalt an Polarisierung auf.

[6] Die klassische totalitäre Formel: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Bsp. Einwanderung: entweder ist man dafür oder dagegen. Wer für eine bedingte Einwanderung ist (wie Kanada oder Australien nach ökonomischer Verwertbarkeit) gilt in Westeuropa schon als xenophob. In Osteuropa ist es genau umgekehrt und nur die Mittelmeerländer erlauben noch eine Zwischenposition.

[7] Unterschwellig wurde dem slowakischen Linksnationalisten Robert Fico eine Mitschuld am Attentat gegen ihn unterstellt, weil er die Gesellschaft gespalten habe.

[8] Ist eine Symmetrie der Stärke erreicht, kann es ein Weiter so nicht mehr geben. Eine Totalität ist erreicht, Quantität schlägt um in Qualität – eine neue Entwicklungsphase beginnt: die klassische Bürgerkriegssituation (wie Spanien 1936) oder ein Putsch mit anschließenden Vernichtungsbemühung gegen den anderen Pol (wie Chile 1973).

[9] In Westdeutschland waren die Grünen Träger des radikalen Linksliberalismus und trieben zunächst die SPD, später auch Linkspartei und nun auch FDP und CDU vor sich her. Heute sind SPD, Linkspartei und teilweise FDP transformiert und die CDU erfasst.

[10] In Deutschland hofft man wohl auf eine AfD-CDU-Koalition, die das Land in die 1970er oder 1980er befördern soll.

[11] So sollen die Bekenntnisse zu progressiven Werten und multikultureller Gesellschaft nur Lippenbekenntnisse sein. Das Hissen der Regenbogenfahne eine Pflichtkür.

[12] Die multikulturelle Gesellschaft scheint allen Fraktionen innerhalb der CDUs nicht mehr umkehrbar. Gerade hier zeigt sich der technokratische und pragmatische Charakter.

[13] Ideengeschichtlich korrekt kandidierte nicht eine echte rechte Partei, wie sie ursprünglich in religiöser gegenrevolutionärer und monarchischer Tradition entstanden. Vielmehr handelt es sich um nationalistische Parteien, die einige rechte Theoreme übernahmen.

[14] So gibt es Parteien mit hoher Akademikerrate, gut situierten Mitgliedern und prominenten Honoratioren bis zu Parteien mit Politabenteurern und gescheiterten Existenzen, die in ihren Formationen überwintern, weil sonst nur die Arbeitslosigkeit wartet.

[15] Tatsächlich lässt sich ein verbreitetes lebendiges Geschichtsbewusstsein feststellen.

[16] Orban als ernüchterter ehemaliger Soros-Stipendiat, der slowakische nationalistische Sozialdemokrat Robert Fico und der slowenische Populist Janez Janša sind Paradebeispiele.

[17] Dazu zählen die gesamteuropäischen Projekte „Piratenpartei“, „Volt“ und „MERA“. Es sollte nicht vergessen werden, dass auch Macrons Partei (besser Wahlverein) als solches Retortenkind entstand und sich radikal gegen das verkrustete Establishment richtete. Mit Gabriel Attal will man wohl eine linkere Neuausrichtung einleiten.

[18] plus 5,5% für die Rechtspartei Éric Zemmours

[19] plus 9% für die rechte Lega Salvinis

[20] In Griechenland errang die zersplitterte radikale Rechte 17% und in Tschechien kandidierten die meisten rechten Parteien, die gemeinsam 18% erhielten.

[21] Es kandidierten rechte Neugründungen, die zusammen immerhin 14% verbuchten. Zudem übernahmen die Sozialdemokraten glaubhaft nationalistische Positionen.

[22] Es braucht im Grunde solche Parteien gar nicht mehr, weil das von den offiziellen Medien verordnete Klima und die subventionierte „Zivilgesellschaft“ linksliberalen Narrativen folgt. Reminiszenzen mit dem als Wahlpartei abflauenden Liberalismus des späten 19. Jh. tun sich auf.

[23] In Portugal 32% und in Spanien nach einer langen Durststrecke 30%. Beide werden als antirechte Kraft taktisch gewählt.

[24] Ausnahmen stellen separatistische Parteien in Großbritannien und Belgien dar, während es in den Mittelmeerländern immer Linksnationale gab.

[25] Parteien, die den Staat als Schutz vor Globalismus würdigen und meist außenpolitische Blockfreiheit anstreben. Souveränisten bekennen sich häufig zu progressiven Werten und begrüßen eine geregelte Einwanderung.

[26] Eine besonders heterogene Sammlungspartei, das linke Pendant zur Partei LePens.

[27] Man beachte den ausgeprägt antirechten Charakter beider Satireparteien.

[28] Nur noch Malta bleibt wegen des extremen Klientelismus der beiden seit Jahrzehnten allein im Parlament vertretenden Parteien bisher verschont.

[29] Vgl. hierzu: Der Fall „Maximilian Krah“ zeigt, wie dringend es eines AfD-Korrektivs bedarf, auf Gegenstrom vom 17.06.2024.

[30] Man schaue sich die Äußerungen zum Thema aus den frühen 1990ern an oder von 2010: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ (Merkel 2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union). Aktuell hört man vom FOCUS ganz neue Töne.