Hiermit veröffentlichen wir dankend eine Zuschrift eines Gegenstrom-Lesers. Dennis Sturm befasst sich mit der Deutschen Frage des Reiches und zieht indirekt einen Vergleich zwischen Akteuren der damaligen und der heutigen Zeit. Die Redaktion
Wenn im Jahre 2021 ein Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland zu einem geschichtlichen Ereignis der deutschen Geschichte von vor 1945 Stellung bezieht, geschieht das meist nie ohne Ausdruck der eigenen Schuld an irgendetwas und nicht ohne mitschwingende Selbstverachtung der eigenen Geschichte. Schließlich hält dieses Staatsoberhaupt ausschließlich seinen Staat für den besten und bekanntlich auch freiesten, den es je auf deutschem Boden gab. In Anbetracht tausend Jahre deutscher Geschichte erscheinen die 72 Jahre, die dieser Staat auf dem Buckel hat, allenfalls wie ein „Vogelschiss“. Doch nun erstmal Schluss mit Wortklauberei…
Das Salz in der Suppe
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier macht in seiner Rede[1] zum 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches vom 18.01.1871 gleich zu Beginn deutlich, dass solche Gedenktage für ihn nicht nur ungerufen, sondern auch ungelegen kommen. Die sogenannte Pandemie muss auch hier als Universalausrede herhalten, um seine Abneigung zum Erinnern an ein wichtiges Ereignis der deutschen Geschichte nicht zu offen durchscheinen zu lassen. Dieser Dysphemismus zieht sich durch die gesamte Rede. Es ist mühsam sich Frank-Walters Auswürfe zu Gemüte zu führen. Steinmeier kollektiviert seine Meinung, als wenn er im Namen aller Deutschen spricht („wir Deutsche stehen dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber…“, „Nach einer nationalen Feier der Reichsgründung verlangt heute niemand“, usw.).
Spätestens als er eine Heerstraße der Kriege von 1871 bis 1945 baut entsteht beim geneigten Zuhörer im Geiste ein Bild Steinmeiers als dicker singender Koch, der in Schürze und Haube vorm Herd steht und einen riesigen Eintopf für das ganze Publikum zubereitet und nach und nach freudig die gesamte Gewürzpalette darin entleert, um es allen ganz besonders schmackhaft machen zu wollen. Doch wenn zu viel in einen Topf geworfen wird, dann wird es schnell ungenießbar. Dafür gibt es anschließend noch etwas Popcorn zur leichten Unterhaltung als Parallelen von Kaiser Wilhelm II. zu Donald Trump gezogen werden. Als an späterer Stelle vom Kaiserstaat und seinen Eliten geredet wird wachen auch die mittlerweile eingeschlafenen „Verschwörungstheoretiker“ kurz auf: „War das ein Zugeständnis für die Existenz von Eliten? Gibt es etwa auch Eliten in der Bundesrepublik und wenn ja, wer zählt dazu? Welche Eliten ziehen die Fäden?“ Der Eintopf liegt schwer im Magen, die Augen fallen wieder zu. Die Fragen bleiben unbeantwortet.
Zum Ende sollte man aber doch nochmal zuhören. Steinmeier stellt die Frage, ob es eine geschichtspolitische Intervention braucht in Hinsicht auf eine eher unkritische Bezugnahme auf das Reich. Weiter fragt er: Müssen wir uns aktueller neonationalistischer Tendenzen erwehren, möglicherweise anders erwehren als wir es tun? „Eine Milliarde Euro gegen rechts“[2] gibt die Antwort auf seine Frage, auf die nicht näher eingegangen werden braucht. An dieser Stelle lassen wir es auch schon gut sein mit der Rede des Bundespräsidenten, zumindest vorerst. Ein bitterer Nachgeschmack ist schon vorhanden. Sodbrennen auch.
Nach so viel negativer Konnotation zum Deutschen Reich wird im weiteren Verlauf dieses Artikels auf einige positive Aspekte und Errungenschaften des ersten Deutschen Nationalstaates eingegangen. Es mag zu den geschichtlichen Vorgängen ausreichend und umfassende Werke und Doktorarbeiten geben. Daher liegt die Perspektive des Autors auf der weltanschaulichen Sicht einiger Sachverhalte, ohne hierbei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Um zu verdeutlichen wie negativ behaftet sich der Bundespräsident zu diesem wichtigen Ereignis der eigenen Geschichte äußert, werden dazu Beispiele aus seiner Rede herangezogen und aus rechtem Blickwinkel beleuchtet.
Die erzwungene Einheit oder die herbeigesehnte? Eine Deutsche Frage!
In seiner Rede nennt der Bundespräsident die Ausrufung Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser im Schloss von Versailles ein Ereignis, welches eine triumphale Geste darstellte und den unterlegenen Kriegsgegner Frankreich demütigen sollte. An dieser Stelle sei anzumerken, dass aufgrund der militärischen Lage zu dem Zeitpunkt (der Krieg war noch nicht beendet) die Zeremonie in Frankreich stattfinden musste.[3] Der Spiegelsaal des Schlosses diente tags zuvor noch als Lazarett. Als Datum wurde der Jahrestag der Krönung Friedrich I. zum König in Preußen von 1701 gewählt.[4] Hiermit wurde das Augenmerk verstärkt auf die eigenen Angelegenheiten als auf eine Demütigung des Kriegsgegners gelegt. Weiter wird von der Einheit gesprochen, die durch Kriege erzwungen wurde. Unerwähnt bleibt hingegen, dass es ein durch Befindlichkeiten gekränktes Frankreich war, dass Preußen den Krieg erklärte.[5]
Die Reichsgründung von 1871 war die Antwort auf die „Deutsche Frage“. Der Einigkeitsgedanke stand nicht erst seit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 im Raum. Während der napoleonischen Besetzung kamen viele Deutsche in Berührung mit Ideen von nationaler Einheit und Freiheit, was die Mobilisierung zu den Befreiungskriegen 1813 befeuerte und nach dem Sieg über Napoleon große politische Erwartungen schürte. Diese Erwartungen sollten erst 58 Jahre später erfüllt werden. Drei weitere Kriege waren dazu nötig, die sogenannten „Einigungskriege“. Der Begriff ist diskutabel, zumindest der große Krieg gegen Frankreich 1870/71 war bzw. ist im deutschen Sprachgebrauch als Nationalkrieg zu verstehen.[6] Dennoch schufen diese Kriege die Voraussetzungen und 25 Einzelstaaten wurden unter preußischer Führung zum ersten Deutschen Nationalstaat vereint. Das Bekenntnis zu einem nationalen Gemeinwesen hat die jahrhundertelange Kleinstaaterei überwunden. Die Deutsche Schicksalsgemeinschaft stellte sich unter das einigende Dach der Nation. Was die „Einigung von unten“ 1848 nicht zu vollbringen im Stande war leistete 1871 „die Einigung von oben“. In der Folge wurden klare Verhältnisse sowohl nach innen als nach außen geschaffen. Nur die Habsburger Monarchie entschied sich gegen das Deutsche Reich. In Österreich waren viele Deutsche mit der kleindeutschen Lösung und der Abspaltung vom deutschen Vaterland nicht zufrieden. Infolgedessen bildeten sich in Österreich nach 1871 immer mehr Deutschnationale Bewegungen.
Mit der seinerzeit fortschrittlichsten Sozialstaatlichkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit im Rücken formte sich ein Staat, dessen Erfolge sich auch in der Wirtschaft widerspiegelten. Durch die Hochindustrialisierung und den Wandel vom Agrar- hin zum modernen Industriestaat wurde das Deutsche Reich wirtschaftlich zum mitentscheidenden Faktor in Europa und der Welt. Bismarcks Politik der Saturiertheit sowie seine einzigartige Außen- und Bündnispolitik sorgte für Frieden und Sicherheit sowohl im Reich als auch auf dem europäischen Kontinent. Nach dem Ableben von Kaiser Wilhelm I. im Dreikaiserjahr 1888 und der Entlassung des Reichskanzlers durch Kaiser Wilhelm II. 1890 änderten sich diese Verhältnisse bald wieder.
Das bekannte Bild „Der Schmied der deutschen Einheit“ von Guido Philipp Schmitt stellt Bismarck als eben jenen Schmied dar, der das Reichsschwert an Germania überreicht. Mehr pragmatisch als pathetisch lässt sich auch sagen: der 18.01.1871 stellt die Geburt einer Nation dar, dessen Vater als auch Mutter Bismarck verkörpert. Die Rolle der Hebamme übernahm er auch noch; schließlich leistete er die meiste Arbeit. Dem Kaiser fiel die Rolle des geliebten Großvaters zu, der nach Begutachtung des Neugeborenen die Glückwünsche für den Wonneproppen in Empfang nahm, sich in den Schaukelstuhl setzte und zufrieden der neuen Familie bei der Arbeit zusah.
Die Reichsgründung, die Ausformung des Sozialstaates und die Industrialisierung sind nur wenige von vielen Begriffen, die das deutsche Volk unabdingbar mit Bismarck verknüpft. Sie ließen ihn auch weit nach seinem Tode zu einem der beliebtesten und bekanntesten deutschen Politiker werden. Der posthum entstandene Bismarckkult mit Errichtungen von tausenden Denkmalen, Türmen und Säulen, Namensgebungen von Straßen und Plätzen sowie für Essensgerichte, usw. zeugen von dieser außergewöhnlich hohen Beliebtheit.
Wenn Herr Steinmeier diesen Denkmalen in seiner Rede nachsagt, dass sie zwar im Stadtbild präsent seien aber keine prägende Kraft entfalten, dann ist er wohl noch nie die paar Meter aus seinem Prunkschloss Bellevue Richtung Großem Stern gegangen und hat die Architektur der Siegessäule sowie des danebenstehenden Bismarck-Nationaldenkmals und die dazugehörigen von Roon und Moltke auf sich wirken lassen. Oder er ist sich der Geschichte seiner Nation einfach nicht bewusst oder will es nicht sein, was man von einem souveränen Staatsoberhaupt aber zu erwarten hätte. Die mächtige Imposanz solcher Bauwerke sollte bei ihm normalerweise ein gewisses Gefühl von Stolz und Demut hervorrufen. In der Bundesdeutschen Republik aber sind solche Gefühle nicht erwünscht. Wie er weiter aus seiner Rede verlauten lässt, ist Steinmeier der Meinung, dass eine Nation nicht auf ethnischer und religiöser Homogenität basiert. Da wundert es nicht mehr, wenn ein Betrachter, der dem deutschen Wesen fremd ist, beziehungslos vor diesen Denkmalen aus dieser Epoche steht.
An dieser Stelle ein Hinweis des Autors an Herrn Steinmeier: Ein Volk ist die größte organisch gewachsene Gemeinschaft von Menschen gleicher Art, gleichen Blutes, gleicher Geschichte, gleicher Kultur und Sprache, die sich als Schicksalsgemeinschaft versteht. Ein Nationalbewusstsein oder Nationalgefühl kann nur ein homogenes Volk entwickeln.
Bundespräsident Steinmeier bekennt sich demnach weder zu seinem Volk noch zu seiner Nation.
Somit bleibt ihm in seiner Funktion als Bundespräsident nur die Rolle des Grüßaugusts und Redenschwingers anstelle die des Repräsentanten einer Deutschen Nation.
Die List der Geschichte als Antwort auf die soziale Frage
Steinmeiers Darstellung zum Begriff „List der Geschichte“ ist, wen wundert’s, einseitig gehalten und beinhaltet durchweg einen negativen Unterton. Laut ihm hatte die Entstehung des seinerzeit fortschrittlichsten Wahlrechts der Welt, für Bismarck vor allem eigennützigen Zwecken zu dienen. Eine Wahlbeteiligung von bis zu 85 % zeugt aber von Zufriedenheit im Volk mit dem ihm gegebenen Instrument des Wahlrechts.[7] Statt dieses positiv zu bewerten hebt Steinmeier die Herausbildung und Stärkung einer Opposition hervor, die Größe in Opposition zur Regierung gewann. Die Tatsache, dass überhaupt erst politische Errungenschaften wie Wahlen, Parlament und Parteienbildung durch die Verfassungsgebung von 1867/1871 (Die Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde weitestgehend im Deutschen Reich übernommen) möglich gemacht wurden, wird zwar erwähnt, ihr aber kein Gewicht beigemessen.
Andere Errungenschaften finden in seiner Rede dagegen in nur 3 knappen Sätzen Erwähnung. Auf die Frage, warum so kurz, dürften diese Sätze die Antwort geben: „In der Gesetzgebung und Rechtsprechung steht auch die Bundesrepublik Deutschland noch in der Tradition des Kaiserreichs. Das Bürgerliche Gesetzbuch ebenso wie die Anfänge der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder Bismarck’schen Sozialgesetzgebung begründeten deutsche Rechtsgeschichte. Sie wirkt in den Grundstrukturen bis in die Gegenwart fort, …“. Hier konnten auch die Redenschreiber des Bundespräsidenten kein Haar in die Suppe legen, da sie heute auch selbst gerne davon löffeln.
Die gesamte Sozialpolitik Bismarcks prägte das Land dauerhaft. Mit Einführung der Plicht-Krankenversicherung 1883, der ersten Säule des Sozialversicherungssystems, erhielten auch arme Arbeiterfamilien Zugang zu ärztlicher Versorgung. Die Sterblichkeit im Deutschen Reich sank um ca. 9%.[8] Dazu wuchs die Bevölkerung von 1871 – 1917 um etwa 50%.[9] Unfall-, Alters- und Invalidenversicherungen entstanden, Klassen- und Einkommensunterschiede wurden gemildert, eine Arbeitsschutzgesetzgebung wurde eingeführt und vieles mehr. Eine soziale Gerechtigkeit entstand.
Eine weitaus charmantere Darstellung zum Begriff „List der Geschichte“ nennt die Leiterin der Otto-von-Bismarck-Stiftung Schönhausen, Dr. phil. Andrea Hopp, in ihrem Artikel „Warum Bismarck?“ zum 200. Geburtstag des Eisernen Kanzlers. Im Kapitel „unfreiwillig fortschrittlich“ heißt es: „Eine List der Geschichte ist es indessen, dass er mit eben diesen Maßnahmen konsequent das Ziel verfolgte, das hergebrachte Gesellschaftsideal einer vergangenen Epoche zu bewahren, stattdessen aber – einem Zauberlehrling gleich – unbeabsichtigt in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der Moderne zum Durchbruch verhalf.“ [10]
Diese und weitere Ausführungen zum Thema Bismarck hätte der Herr Bundespräsident sogar (man ahnt es nicht) von der Bundeszentrale für politische Bildung bekommen können, die diesen Artikel veröffentlichte. Das gewohnt hohe Maß an Selbstverachtung wäre dabei allerdings auf der Strecke geblieben. Das Risiko konnte bei einer so (un)wichtigen Rede zur Reichsgründung wohl nicht eingegangen werden.
Es bleibt zweifelsfrei festzustellen, dass ab der Reichsgründung wahrhaft Politik für das deutsche Volk gemacht wurde. Ein so dichtes soziales Netz etwa, das seit Bismarcks Zeiten in Deutschland herrscht und heutzutage zunehmend ausgehöhlt wird, mit allen Vor- und Nachteilen, würde anderen Völkern so wohl niemals in den Sinn kommen. Diese Sozialpolitik ist zugeschnitten auf das Deutsche Wesen, seine Anforderungen und Ansichten. In Ausschnitten war es beispielgebend für andere Nationen aber niemals eine Blaupause. Das machte den Unterschied zu den damaligen Sozialisten, deren Ansichten international und marxistisch geprägt waren. Bismarck war ihr entschiedener Gegner. Die soziale Frage hatte er für alle spürbar beantwortet.
Ein Reiches Erbe?
Trotz vieler lobenswerter Reformen, die einen modernen, sozialen und wirtschaftlich potenten Staat entstehen ließen, war ein grundlegender weltanschaulicher Gedanke, der allumfassend Perspektiven bot, nicht vorhanden. Das robuste Gerüst und das schwere Dach standen auf zu schwachem Fundament. Dennoch sind einige Teile aus diesem Bauwerk bis heute erhalten geblieben und werden weiterhin gepflegt und genutzt. Alles ist längst nicht verloren gegangen aus Bismarcks Nachlass und ist in Teilen fester Bestandteil unseres Alltags. Vieles gilt heute noch als vorbildhaft, vor allem das Sozial- und Verwaltungswesen, sofern diese Werkzeuge im Sinne des Erfinders genutzt und nicht von unwissenden Händen, welche die Gebrauchsanweisung nicht gelesen haben, missbraucht werden. Das ist aus nationalistischer Sicht jedoch in der Bundesrepublik zum Großteil der Fall. Deshalb gehört das Erbe des Reiches dringend wieder in Hände, die Wissen wie sie richtig mit diesem Werkzeug umzugehen haben.
Literaturhinweise
[1] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/01/210113-150Jahre-Reichsgruendung.html
[2] https://www.br.de/nachrichten/meldung/bund-gibt-eine-milliarde-euro-fuer-kampf-gegen-rechtsextremismus,3003427b1
[3] https://www.bpb.de/apuz/reichsgruendung-2021/325047/versailles-und-der-deutsch-franzoesische-krieg-von-1870-71
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Königskrönung_Friedrichs_III._von_Brandenburg#Gedenken_und_Erinnerung
[5] https://www.bpb.de/apuz/reichsgruendung-2021/325039/eine-moeglichkeit-von-vielen
[6] https://www.bpb.de/apuz/reichsgruendung-2021/325039/eine-moeglichkeit-von-vielen
[7]Siehe „Im Gespräch“ mit Prof. Dr. R. F. Schmidt, Junge Freiheit Nr. 3/21, S. 5
[8] https://www.digital.uni-passau.de/beitraege/2020/bismarcks-krankenversicherung
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Hochindustrialisierung_in_Deutschland#Bevölkerungsentwicklung