„Der linksliberale Staat tötet sich selbst“ – Dominik Schwarzenberger im Gespräch

von | 14. Okt. 2020 | Im Gespräch

Am 11. September 2020 veröffentlichten wir auf unserem Blog ein Interview mit dem Historiker und Politikwissenschaftler Dominik Schwarzenberger, in dem es um eine möglicherweise bevorstehende Revolution ging. Schwarzenberger machte in diesem Gespräch deutlich, dass er im Sicherheitsapparat einen wichtigen und zugleich volatilen Komplex sieht, dem innerhalb von Krisenzeiten eine Schlüsselposition zukommt. Peter Steinborn fasst daher noch einmal gesondert nach und möchte in diesem zweiten Interview mehr dazu wissen.

P.S.: Herr Schwarzenberger, in unserem letzten Interview hinterfragten Sie das Mantra vom staatstreuen Polizeiapparat. Dabei sprachen Sie davon, dass, wenn der Mangel groß genug wird, dieses Credo nicht mehr halten wird. Nun haben wir einige Zuschriften erhalten, in denen unsere Leser genau diese These von Ihnen in Frage stellen. Die weitverbreitete Meinung unter den Rechten lautet, dass insbesondere die Exekutive ihren Dienst am Staat macht, solange diese Hand sie füttert. Was erwidern Sie unseren Lesern darauf?

D.S.: Ich widerspreche nicht. Alles steht und fällt mit unserem Wohlstand. Der sozioökonomische Mangel ist noch nicht groß genug, aber er wächst. Das registrieren die Sicherheitsorgane wegen ihres Wissensvorsprungs besonders schnell. Es sei darauf hingewiesen, dass niemals der gesamte Sicherheitsapparat umschwenkt: es gibt zu unterschiedliche und gegensätzliche Fraktionen, Charaktere und Befindlichkeiten sowie regionale Unterschiede. Der bayerische Apparat ist tendenziell stark etatistisch und strukturkonservativ und sieht in Rechts wie Links gleichermaßen den Feind. Zeichnet sich ein Systemwechsel ab, so ist andererseits der bayerische Apparat mit von der Partie – aber nicht aus billigem Opportunismus, sondern weil der neue Staat umgewidmet wird. Es gibt folglich eine Kontinuität.

Überhaupt verhält es sich beim Sicherheitsapparat wie mit allen Revolutionen: Es bedarf nicht der Mehrheit des Volkes, sondern nur einer entschlossenen großen Minderheit. Wichtiger ist die Gewissheit, dass sich die Masse passiv verhält – und das gilt eben auch für die Sicherheitsorgane.

P.S.: Können Sie uns dazu Beispiele geben? Wo lohnt es sich, genauer hinzuschauen? Haben wir vergleichbare Fälle in der Geschichte, die Sie für wahrscheinlich halten?

D.S.: Ich habe eine umfangreiche Liste mit Beispielen aus Vergangenheit und Gegenwart.

*Da gibt es die „Feierabendpolizisten“, die nach Dienstschluss Rechnungen mit Kriminellen, Minderheiten oder Linken begleichen, weil während der Dienstzeit die Mittel des Rechtsstaats nicht reichen oder politische Korrektheit im Weg stehen (verpöntes jedoch effizientes Racial Profiling). Dazu gehören die professionellen Todesschwadron Lateinamerikas wie die Triple A (Argentinische Antikommunistische Allianz) oder lose organisierte Gruppen in Frankreich und Italien, vielleicht auch schon bei uns.

*Geheimdienste und Militärs, selten Polizei, initiieren die Gründung nationalradikaler Gruppen. So in Rumänien durch die Reste der Securitate geschehen, die mindestens drei solcher Orgas gründete, um eine nationalradikale Opposition gegen die Reformen ab 1990 aufzubauen.

*Dann gibt es das Phänomen „Tiefer Staat“ (auch Parakratos): Hier agieren Teile der Sicherheitsorgane, Rechtsradikale, Unternehmer und organisierte Kriminalität. Dieses Zweckbündnis basiert auf Technokratie, materiellen Vorteilen, Ideologie, Männerbund und traditionellen Werten. Passende Beispiele finden wir in der Türkei (Ergenekon-Projekt), Serbien (Rote Barette) oder Italien (Gladio und Loge P2).

*Schließlich gibt es in sehr fortgeschrittener Form das Phänomen, dass sich die Sicherheitsapparate soweit verselbständigt haben, dass sie die herrschende Klasse bestimmen (Militärdiktaturen, Janitscharen, altrömische Militärkaiser).

P.S.: Sprechen wir über Gladio und Janitscharen.

D.S.: Gladio war ein NATO-Programm, um zur Hochzeit des Kalten Krieges antikommunistische Partisanen im Falle einer sowjetischen Invasion parat zu haben. Diese Stay-Behind-Formationen rekrutierten sich aus Rechtsradikalen und wurden von Militärs, Geheimdiensten und Unternehmern ausgebildet und mit Ressourcen versorgt. Wie komplex ein solches Zweckbündnis ist, zeigte das globale Netzwerk „Antikommunistische Weltliga“, die vom messianischen christlichen Fanatiker Sun Myung Moon und seiner „Vereinigungskirche“ gegründet wurde und aus staatlichen Institutionen sowie rechtsradikalen Gruppen bestand. An Ressourcen hatte es denen nicht gefehlt, nur blieb die sowjetische Invasion aus. Zu Gladio empfehle ich die sehr ausgewogene Doku „Das Schwarze Orchester“ (hier geht es zum 1. von 7 Teilen der deutschsprachigen Version der Dokumentation.)

Die Janitscharen waren die osmanische Waffen-SS, sie rekrutierten vornehmlich geraubte christliche Jungen des Balkan („Knabenlese“). Jetzt folgt das fantastische: der Sultan und gleichzeitige sunnitische Kalif übergab die Knaben zur Erziehung seinen religiösen Feinden, dem alevitischen Bektaschi-Orden zur Erziehung, um die Knaben dem Einfluss sunnitischer Militärs zu entziehen. Nach Jahrhunderten verselbständigten sich schließlich die Janitscharen und bestimmten fortan den Sultan, bis sie Mahmud II 1826 vernichtete. Dieses Paradoxon erklärt sich aus dem Korpsgeist der Janitscharen.

P.S.: Das hört sich sehr abenteuerlich an.

D.S.: Stimmt, ist aber folgerichtig, wenn man sich mit Systemtheorie und Dialektik beschäftigt und in komplexen Zusammenhängen denkt. Ich werde einmal einen eigenen Beitrag dazu verfassen.

P.S.: Der Polizeiapparat ist ja nur ein Teil eines großen Komplexes innerhalb des Systems. Im Grunde genommen handelt es sich ja dabei wiederum um einen Komplex, der also keinen monolithen Block darstellt. Kann man diesen Komplex in diverse Gruppen zerlegen?

D.S.: Ja, natürlich. Besonders anfällig sind Spezialkräfte und Bereitschaftspolizei, die stehen an vorderster Front.

P.S.: Welche Zielgruppen sind für die Rechte besonders interessant und warum?

D.S.: Erster Adressat ist die mittlere Führungsebene, die beherrscht den Apparat, das gilt für Geheimdienste, Polizei, Militär und die zahlreichen Mischformen. Hier wirkt das Prinzip des Männerbunds ganz besonders. Die oberste Führungsebene ist unerreichbar und damit uninteressant. Die Mannschaftsgrade sind unorganisierte Schwungmasse. Sie folgen von allein, hier wirkt Spontaneität.

Einer besonderen Agitation bedarf es gar nicht, da altrechte Werte und die Prinzipien der Sicherheitsapparate korrelieren. Deren Interessen stimmen zudem mit rechter Zielsetzung überein: Stärkung des Wehrwillens, Effizienzsteigerung der Sicherheitsorgane, gesunder leistungsstarker Nachwuchs, Traditionspflege usw. Bedingung ist, dass die Rechte seriös und nachhaltig auftritt und sich mit ideologischen Absurditäten zurückhält. Vertreter der Sicherheitsorgane kommen auf die Rechte zu, nicht umgekehrt. Schließlich entwickeln sie aufgrund ihrer beiden ausgebildeten Perspektiven Verständnis für oppositionelle Gruppen.

P.S.: Welche Perspektiven?

D.S.: Anfangs ist die Relation zwischen Sicherheitsapparat und Opposition so, wie man sich das gemeinhin vorstellt: Die Dienste sowie die Polizei bekämpfen die Opposition und sind im Vorteil, weil sie über effizientere Ressourcen verfügen. Nachdem sich jedoch oppositionelle Kräfte immer wieder neubilden, muss deren Existenz irgendwie gerechtfertigt sein, so etwa durch eine treffende oppositionelle Analysefähigkeit und Problemerkennung – das Loch im Dach. Es folgt die zweite Perspektive: die nach oben zur Herrschenden Klasse, die offensichtlich Fehler macht und das Loch im Dach ignoriert. Irgendwann interessieren sich dann die Sicherheitsorgane auch für oppositionelle Lösungen. Der Geheimdienstchef oder Verteidigungsminister gehören nicht zum Sicherheitsapparat, sondern zur herrschenden Klasse.

P.S.: Kann man dem Sicherheitsapparat überhaupt trauen?

D.S.: Diese Frage lässt sich nicht beantworten, da das Verhältnis dem zu anderen politischen oder wirtschaftlichen Verbündeten entspricht. Es ist ein ständiges Austarieren und Verhandeln. Es gibt auch nicht nur zwei Seiten, sondern mehrere Fraktionen und Einzelpersonen des Sicherheitsapparats können Interesse zeigen und sich wieder distanzieren. Natürlich besteht auch die Gefahr des Übervorteilens, das kann aber auch dem Sicherheitsapparat passieren. So manche rechte Orga hat sich im Kalten Krieg gesundgestoßen.

Speziell Geheimdienste haben den Ruch von James Bond und Hinterlist, aber das ist nur Kino. Man sollte das Verhältnis eher mit Geschäftspartnern vergleichen, die auch immer wieder nachverhandeln und sich nach Alternativen umsehen. Alle Beteiligten kochen nur mit Wasser.

P.S.: Einer unserer Leser hat auf den Umstand hingewiesen, dass die Polizei immer multikultureller, also ethnisch pluralistischer wird. Um sich einer möglichen Revolution anzuschließen, bedarf es doch eines gewissen Patriotismus. Sehen Sie hier keine Gefahr, dass eine multiethnische Polizei gar kein Motiv mehr für einen Übertritt hat?

D.S.: Ein sehr guter Einwand! Dieser Trend ist gefährlich, doch lässt er sich dialektisch relativieren. Bis auf regionale Schwerpunkte läuft die Entdeutschung schleppend voran. Der Sicherheitsapparat zieht automatisch eine bestimmte Klientel an: irgendwie patriotisch und altrechten Werten verpflichtet (Ordnung, Autorität, Korpsgeist). Am stärksten sind momentan bestimmte Polizeigattungen betroffen, Militär und Geheimdienste weit weniger. Außerdem wird eine Entdeutschung (über eine Art Quotensystem) als Bedrohung und Konkurrenz wahrgenommen, hier entsteht ein Mangel an Aufstiegschancen. Es bilden sich intern bereits ethnisch homogene Männerbünde, wie sie in angeblichen „Rassischen Demokratien“ wie USA, Brasilien, Indien, Kanada oder Mexiko die Regel sind. Der Entdeutschungsprozess ist aus revolutionärer Sicht willkommen, weil er verschärfend wirkt.

Noch eine Klarstellung: auch so mancher Nichtdeutscher wird umschwenken, es kommt auf seine Verwurzelung und kulturelle Nähe an.

P.S.: Trotz Corona reißen die Schlagzeilen über den angeblichen Rechtsextremismus in der deutschen Polizei oder der Bundeswehr nicht ab. Der Vorsitzende des gewerkschaftlichen Berufsverbandes „Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK)“ fordert jetzt sogar eine Art Denunziationsplattform, die es sogenannten Hinweisgebern innerhalb der Polizei ermögliche, anonym die Kollegen anzuschwärzen. U. a. wird immer wieder betont, dass man nicht zulassen dürfe, dass sich die Rechten hier als diejenigen positionieren, die als einzige den Rechtsstaat durchsetzen können. Zeichnet man hier eine Chimäre aus irrationaler Panik heraus oder handelt es sich um ein aus Sicht des Staates nachvollziehbares Vorgehen gegen störende Elemente im Sicherheitsapparat?

D.S.: Die Herrschende Klasse kann gar nicht anders reagieren, die Luft wird dünner und der Kontrollverlust stärker. Eine „Denunziationsplattform“ bewirkt das Gegenteil, eine Trotzreaktion, weil sie den männerbündlerischen Korpsgeist stört – und, was bedeutender ist: die sozioökonomischen Mangelerscheinungen werden weiter ignoriert. Ich erinnere an das sich stetig vergrößernde Loch im Dach.

P.S.: Im Sommer dieses Jahres wurde die 2. Kompanie der Kommando Spezialkräfte (KSK), also der Elite-Einheit in der Bundeswehr schlechthin, wegen einer Party aufgelöst. In diesem Monat will man zudem entscheiden, ob auch der Rest der Elitetruppe aufgelöst werden soll. Es ist allgemein bekannt, dass die Bundeswehr schon lange nicht mehr als besondere Einsatz- oder Verteidigungsarmee in Europa herausragt. Die KSK waren dabei immer noch neben einzelnen Kampftruppen die Vorzeige-Kompanie. Nun soll dem wegen angeblicher rechtsradikaler Umtriebe innerhalb des Korps ein Ende bereitet werden. Macht die Verteidigungsministerin damit nicht einen gravierenden Fehler? Wie erklären Sie sich solche en Verhalten?

D.S.: Einen größeren Fehler gibt es nicht! Das ist typisch blinder Aktionismus weltfremder Politiker. Gerade die KSK leben einen besonders elitären Korpsgeist und Traditionsbewusstsein. Was soll aus den Leuten werden, will man sie als Parkplatzwächter einsetzen? Verletzte Eitelkeit und Bloßstellung sind gefährlich.

Übrigens: Der desolate Zustand unseres Militärs (ein offensichtlicher Mangel) belastet dessen Angehörige, die automatisch auf bessere Zeiten der Vergangenheit schielen, als die Armee noch etwas galt.

P.S.: In unserem letzten Gespräch sprachen Sie davon, dass die Sicherkräfte global nach rechts tendieren würden. Dies komme u. a. aus ihrer technokratischen Natur, also der rein sachlich-objektiven Lösungsorientierung. Können Sie dies unseren Lesern näher erläutern?!

D.S.: Die Sicherheitsapparate basieren auf ausschließlich altrechten Werten (Ordnungsdenken, Disziplin, Leistung, Elite, Treue, Korpsgeist, Gehorsam, Autorität, Hierarchie, Militärstil), die in wachsendem Maß als archaisch und zu überwindend verunglimpft werden. Dieser Trend findet global statt, selbstverständlich in unterschiedlicher Intensität. In der westeuropäischen Staatenwelt ist das weit fortgeschritten. Hier findet eine Umkehrung solcher Werte statt („Soldaten sind Mörder“). Damit entzieht man ALLEN Sicherheitsorganen das Fundament. Fundament des Staates ist und bleibt der Männerbund. Der linksliberale Staat tötet sich folglich selbst.

Vereinfacht dargestellt: Der zu bewahrende Staat wird als Maschine/Organismus angesehen, dessen Funktion und Effizienz gewährleistet werden muss. Diese Maschine bedarf ständiger Pflege und wird folglich von Störungen aller Art bereinigt. Es ist dabei egal, welche Farbe die Maschine hat und wer sie gerade besitzt, de facto Eigentümer ist der Sicherheitsapparat. Es ist völlig uninteressant, wie der Kanzler heißt: Hitler oder Merkel. Die Maschine muss laufen – und jetzt gerät sie ins Stottern. Der momentane Besitzer scheint offensichtlich überfordert, ein möglicher neuer noch nicht in Sicht.

P.S.: Sie zählen den Verfassungsschutz nicht zu den Geheimdiensten. In unserem letzten Gespräch nannten sie ihn sogar eine politisch-ideologische Polizei. Glauben Sie, Hans-Georg Maaßen ist ein Einzelfall oder tendiert auch dieser heterogene Teil des Sicherheitsapparates zu rechten Lösungen? Schließlich gibt es Anlass, den Herrschenden an verschiedenen Stellen Verfassungsbruch vorzuwerfen. Oder sind tatsächlich verfassungstreue Patrioten im VS in der Minderheit?

D.S.: Grundsätzlich gibt es auch im VS die Möglichkeit einer Umorientierung, das Auswahlverfahren ist jedoch mehr ideologisch als sachlich, das unterscheidet ihn von anderen Apparaten. Maaßen ist kein Rechter im ideologischen Sinn, sondern im praktischen. Er hat einfach nur seine Arbeit gemacht.

P.S.: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist der durchschnittliche Geheimdienstler tatsächlich so etwas wie eine Zielgruppe für rechte Politik. Das wird wahrscheinlich dem einen oder anderen Rechten unwahrscheinlich vorkommen. Das Stichwort lautet hier „Tiefer Staat“ (Deep State), den wir immer wieder in Ländern wie dem Vereinigten Königreich oder den USA in Aktion sehen können. Obwohl Trump sicherlich herausragende Politik in Übersee geleistet hat, die sich gewaltig von denen seiner Amtsvorgänger abhebt, steht derselbe einem ihm feindlichen Geheimdienstapparat gegenüber. Denken wir z. B. an den Eklat um John O. Brennan (CIA-Chef von 2013-2017), den Trump seine Sicherheitsgenehmigung entziehen musste, nachdem dieser ihm Verrat vorwarf, weil er eine andere Russland-Politik zu pflegen weiß. Was sagen Sie unseren skeptischen Lesern dazu? Gibt es aktuelle Beispiele für eine solche offene Tendenz?

D.S.: Ich sehe sogar einzelne Subsysteme der Geheimdienste als Zielgruppe, v. a. die geopolitischen Arbeitsgruppen, die besonders technokratisch vorgehen.

Geheimdienste sind auch keine Blöcke, sondern Komplexe mit sich selbst bildenden und verwaltenden Subsystemen und unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten, die in Konkurrenz zu einander stehen (Polykratie).

Den „Tiefen Staat“ (Parakratos) gibt es graduell verschieden in nahezu allen größeren Staaten.

Ich beobachte „Q“, da es sich dabei um ein gut organisiertes Projekt dissidenter Geheimdienstler und Militärs handeln KANN. Von „Q“ zu unterscheiden sind seine vielfältigen internationalen Anhänger, die eine wahre apokalyptische Endzeitreligion geschaffen haben. Hier heißt es: Hände weg!

P.S.: Nehme ich Ihren Vergleich zur Russischen Revolution zur Hand, den ich im übrigen absolut teile, dann müsste es schon bald zu einem einschneidenden Ereignis kommen, wie den Petersburger Blutsonntag von 1905. Dies führte damals zu einem kompletten Bruch zwischen dem Zaren und seinem Volk. Darauf folgten seichte Reformen und massive Zerwürfnisse. Damals gehörte der Terror sowohl von der Revolution wie auch vom Staatsapparat zum Alltag. Die Sicherheitskräfte gingen mit den Insurgenten nicht zimperlich um. Es kam zu Erschießungen, Verhaftungswellen und Zuchthausstrafen. Stehen uns ähnliche Entwicklungen bevor? Oder wird der deutsche Polizist seinen Helm demonstrativ beiseite packen, wie wir es vermehrt in Italien, den USA oder auch in Spanien gesehen haben?

D.S.: Es gab nur einen Bruch mit einer großen Minderheit im Volk, der Rest war ohnehin passiv (v. a. die Bauernschaft) oder hatte sich von den Scheinreformen domestizieren lassen. Richtig ist eine weitere Radikalisierung und Militarisierung dieser beachtlichen Minderheit.

Solch ein Szenario ist hier auch möglich, es kommt darauf an, welche Qualität herrschende Klasse und Revolutionäre erreichen. Stehen sich zwei Blöcke gegenüber, haben wir das typische Bürgerkriegsszenario; stehen sich ein Block und ein heterogenes Lager oder zwei Lager gegenüber, ändert sich schon die Brisanz. 1905 gab es einen erodierenden Regierungsblock und ein diffuses revolutionäres Lager aller Couleur, im Februar 1917 standen sich zwei Lager gegenüber, wobei die Revolutionäre bereits mehrere fanatische Blöcke (z. B. Bolschwiken) ausbildeten. Bei uns diagnostiziere ich momentan einen ebensolchen erodierenden Systemblock und ein völlig gespaltenes unorganisiertes Oppositionslager, weshalb ein „Blutsonntag“ hierzulande wahrscheinlich ist. Was sollen die Herrschenden auch anders machen?

P.S.: Zurecht, wie ich finde, beschreiben Sie unsere Situation wie die kurz vor dem Blutsonntag von Sankt Petersburg in 1905. Es dauerte danach noch weitere 12 Jahre, bis die Februarrevolution und später dann die Oktoberrevolution Erfolg hatten. Wird es in Deutschland auch 12 Jahre benötigen, bis es zu weitreichenden Umwälzungen kommt? (Bitte begründen!)

D.S.: Zeitliche Aussagen kann kein seriöser Analyst machen. Das hängt von der Intensität und Wahrnehmbarkeit des sozioökonomischen Mangels und der oppositionellen Leistungskraft ab. Der unvermeidbare wirtschaftliche Niedergang wird durch geschickte Taschenspielertricks gerade verzögert.

Die systemkritische Opposition teilt sich in zu viele Strömungen, nicht mal Organisationen. Es gehören auch liberale Erneuerer dazu wie Kommunisten, deren Erstarken ich prophezeie, gleichwohl die Rechte aufgrund objektiver Notwendigkeiten die besten Erfolgsaussichten hat. Selbstverständlich bedingt auch ein wachsender Kommunismus ein rechtes Wachstum und umgekehrt.

Ich vermute, der Systemblock degeneriert schneller zum heterogenen Lager, als sich rechte, liberale und linke Opposition zu organisierten – sich gegenseitig bekämpfenden – Blöcken gewandelt haben. Das bedeutet zunächst absolutes Chaos. Ein weiterer Faktor ist das Ausland: gibt es da Vorbilder, abschreckende Szenarien oder kommt es gar zu Interventionen? Darum immer Kontakte ins Ausland halten und dieses beobachten.