Seit dem Untergang des sogenannten Ostblocks gilt der Kapitalismus als unumstößliche Wahrheit unseres Wirtschaftslebens. Tatsächlich gab es bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in gewissen akademischen Kreisen die Überzeugung, dass der aus dem Utilitarismus[1] stammende kapitalistische Gedanke eine allgemeine Wahrheit inne hätte.
Liberal bzw. libertär ausgerichtete Ökonomen wie Ludwig von Mises (1881-1973) oder seinem Schüler Friedrich August von Hayek (1899-1992) postulierten ihrer Zeit eine kapitalistische Ordnung, die als einziges wirklich funktionierendes Wirtschaftssystem fungiere. Es gab jedoch auch kritische Stimmen. Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) leiteten aus dieser allgemeinen Wahrheit des Kapitalismus die Theorie des historischen Materialismus ab, wonach der Besitz an den Produktionsmitteln den entscheidenden Aspekt der gesellschaftlichen Ordnung ausmacht. Die in der modernen kapitalistischen Marktwirtschaft vorherrschende Dominanz des Privateigentums an Produktionsmitteln wie z.B. Immobilien, Maschinen, Arbeit und Boden, wurden von Marx und Engels als entscheidende Triebfeder für die Spaltung von Gesellschaften ausfindig gemacht. Der historische Materialismus bzw. die historische Schule geht davon aus, dass „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften“ eine „Geschichte von Klassenkämpfen“ ist[2].
Nach Werner Sombart (1863-1941) begründet sich der Kapitalismus nicht nur durch das Bestehen einer dominanten Privatwirtschaft hinsichtlich der Produktionsmittel. Auch der kapitalistische Unternehmergeist, dem auch Joseph Schumpeter (1883-1950)[3] etwas „Schöpferisches“ unterstellte, war für Sombart eine logische Folge europäischer Entwicklungen. Ähnlich den Überlegungen Max Weber’s (1864-1920) wird dem „modernen kapitalistischen Geist“ eine bestimmte „eigentümliche Ethik der Geschäftigkeit“, der „Geschäftsklugheit“ zugewiesen[4].
Halten wir also fest: Sowohl die Herrschaft über die Produktionsmittel durch dominierendes Privateigentum als auch das Vorhandensein einer individualistischen, rein auf Gewinn abgerichteten Geisteshaltung sowie das hegemoniale Vorhandensein von Großindustrie und Großbetrieben[5] sind die wichtigsten Indikatoren für den Kapitalismus, sind die Eigenschaften einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung.
Das Kapital
Oft wird der Begriff „Kapital“ mit Geld als Zahlungsmittel gleichgesetzt. Im betriebswirtschaftlichen Sinn handelt es sich um sämtliche Vermögensansprüche auf der Passivseite einer Unternehmensbilanz. Tatsächlich kann jedoch unter „Kapital“ im volkswirtschaftlichen Sinne sämtliche Produktionsausrüstung, die der Güter- und Dienstleistungsproduktion dient, verstanden werden. Das „Kapital“ ist demnach neben Arbeit und Boden ein Produktionsfaktor.
Karl Marx definiert in seinem berühmten gleichnamigen Werk das „Kapital“ als eine bestimmte Geldmenge[6], die dazu dient eine höhere Geldsumme zu erzielen. Allgemein wird in der Betriebswirtschaftslehre hierbei von einer Investition gesprochen. In seiner Arbeitswertlehre sprach Marxens von dem sogenannten Mehrwert, der die Ausbeutungsrate bei der Beschäftigung von Arbeitern bestimme.
Der Zins als Kapital
Laut einer Definition aus dem Brockhaus von 2002 handelt es sich bei dem Begriff „Kapital“ um eine „zinsbringende angelegte Geldsumme“. Auf dem ersten Blick mag diese Definition etwas zu kurz kommen, da im Zins allgemein ein reiner Geldbetrag gesehen wird. Schließlich versteht man in der allgemeinen Volkswirtschaftslehre darunter einen Preis für einen überlassenen Leihbetrag bzw. für das befristete Überlassen von Kapital.
Wenn jedoch Kapital als Produktionsfaktor angesehen wird, handelt es sich – wie in Marx‘ Definition – um eine Anlage, die einen Mehrwert erzeugen soll. Dieser Mehrwert – ungeachtet der Wertung, die ihm Marx zukommen ließ – ist eine Vermehrung des Geldes durch den Zinsmechanismus. D.h., es wird Geld in einen Sachwert, ein Wertpapier, in Form eines Kredites oder ganz abstrakt eben in eine Anlage investiert, um nach einer bestimmten Zeit einen Mehrwert, den Zins bzw. die Rendite zu erhalten. Das Kapital als Produktionsfaktor ist demnach tatsächlich eine zinsbringend angelegte Geldsumme.
Der Kapitalismus und die Zinswirtschaft
Rainer Bischoff setzt den Kapitalismus mit der Zinswirtschaft gleich. Ihm nach sei „die Zinszahlungspflicht bzw. der Rentabilitätszwang (…) das hervorstechende Merkmal unserer Geldwirtschaft.“[7] Den Worten von Bischoff ist bereits zu entnehmen, dass er dem Kapitalismus kein gutes Zeugnis ausstellt. Dieser zwinge Unternehmen und Privatpersonen zu dem oben benannten individualistischen kapitalistischen Geist. Die amerikanische Marxistin Ellen Meiksins Wood (1942-2016) beschrieb in „The Origin of Capitalism: A longer View“, wie der Frühkapitalismus begann. Sie widersprach der Auffassung, dass die alleinige Dominanz von Privateigentum an den Produktionsmitteln und der Geist des Kapitalismus die entscheidenden Kriterien für selbiges seien. Vielmehr sei es der Zwang, dem sich Unternehmer und Individuen ausgesetzt sehen, der zum scharfen und sich auch negativ auswirkenden Wettbewerb führt. Die Entstehung des kapitalistischen Systems sah sie erstmalig im England des 16. Jahrhunderts, als Großgrundbesitzer zu der Praxis übergingen, ihren Landpächtern – meist mittellose Bauern, die selber keinen Grundbesitz hatten – so viel Miete bzw. Pacht abzunehmen, wie es die Märkte hergaben. Durch diese Praxis gerieten Bauern zunehmend unter Leistungsdruck und produzierten immer mehr Absatz, um die ständig steigenden Mieten bzw. Pachten begleichen zu können.
Auch im England des 16. Jahrhunderts war es also der Zwang nach immer mehr Wettbewerb, der zu den eigentlichen kapitalistischen Verhältnissen geführt hat.
Der Zins als Zwangswachstumsinstrument und Schuldenfalle
Wir haben bereits in einem anderen Artikel über die Finanzierungsmodelle im Kapitalismus berichtet. Der sich verdient gemachte Ökonom Hyman Minsky (1919-1996) fand heraus, dass in einem kapitalistischen System, insbesondere mit einer monetären Geldpolitik, immer dazu führe, dass viele der Kreditnehmer dazu neigen, ihre Anlagen „Ponzi“ zu finanzieren. Dies bedeutet, dass die Zinsschuld alter – im Grunde genommen bereits faulgewordener – Kredite mit neuen Schulden bedient werden. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass das Dollarfinanzsystem eine ausschließlich monetäre und nicht-metallistischen Geldphilosophie betreibt. Das bedeutet, dass das Geld keinen Gegenwert, wie z.B. den an Edelmetall gekoppelten, besitzt.
Die Aufnahme eines Kredites bei einer Geschäftsbank führt dazu, dass der Kreditnehmer einen Zins zu zahlen hat. Oben haben wir bereits die Definition von der befristeten Verleihung von Kapital bzw. Geld gehört. Sinn und Zweck ist die Vermehrung desselben, um einen Mehrwert zu generieren. Dies ist letztlich auch der Anreiz für jeden Kapitalgeber, sein Vermögen zu investieren.
Die Verschuldung nach dem Zinseffekt jedoch führt dazu, dass sich die Schulden irgendwann selbstständig machen. Dies ist im exponentiellen Wachstum des Zinseszinses begründet. Der Zinseszins ist die Verzinsung eines bereits verzinsten Betrages. Die folgende Formel verdeutlicht den Effekt des Zinseszinses:
Nach dieser Formel lässt sich z.B. ein Betrag Kn errechnen, den wir in n Jahren bei einer bestimmten jährlichen Verzinsung p erhalten, wenn wir zum Zeitpunkt 0 (also zu Beginn) einen bestimmten Betrag K0 anlegen.
Das folgende Beispiel zeigt die exponentielle Wirkung des Zinseszinses:
Nehmen wir an, dass wir 1000 EUR haben, die wir zu einem jährlichen Zinssatz von 5 Prozent – was durchaus als konservative Annahme gelten kann – über eine Laufzeit von 2 Jahren anlegen bzw. verleihen.
Wir bekämen, dieser Formel entsprechend, nach zwei Jahren 1.102,50 EUR.
Hier ist folgendes passiert:
- Im ersten Jahr haben wir die 1.000 EUR zu 5 Prozent verzinst. Herausgekommen sind dabei 1.050 EUR nach einem Jahr.
- Im zweiten Jahr haben wir allerdings nun die 1.050 EUR gehabt, die wir wiederum zu 5 Prozent verzinsen konnten. Somit erhalten wir nach 2 Jahren den Betrag von 1.102,50 EUR.
2. Beispiel
Bei zwei Jahren mögen die Spannen noch nicht so groß wirken. Daher schauen wir uns einmal an, wie sich dies verhält, wenn wir die 1.000 EUR zu denselben Konditionen über eine Laufzeit von n=10 Jahren anlegen. Heraus kommt dabei die Summe von 1.628,90 EUR. Nach weiteren 5 Jahren besitzen wir mehr als den doppelten Betrag, den wir ursprünglich anlegten: 2.078,93 EUR. Würden wir noch weitere 35 Jahre warten, kämen wir auf die Summe von unschlagbaren 11.467,40 EUR. Würden wir die 1.000 EUR nun insgesamt n=100 Jahre zu dem konservativ geschätzten jährlichen Zinssatz von 5 Prozent nicht anrühren, dann lägen auf unserem Habenkonto 131.501,26.
Dies verdeutlicht, wie schnell aus einem überschaubaren Betrag wie 1.000 EUR ein Vermögen werden kann. Es sei darauf hingewiesen, dass es in der freien Marktwirtschaft nicht selten Kreditvergaben zu weitaus höheren Zinssätzen gibt, was eine noch schnellere Vermehrung des Geldes oder der Verschuldung bedeutet.
Nun gingen wir in diesem Beispiel davon aus, dass wir die Zinsnehmer sind und ein anderer sich bei uns verschuldet hat. Daher möchte ich noch ein drittes Beispiel durchrechnen, um dem Leser die vernichtende Wirkung des Zinseszinseffektes zu illustrieren.
3. Beispiel:
Nehmen wir an, wir wollten eine Unternehmung gründen, weshalb wir 100.000 EUR Kredit von einer Geschäftsbank zu einem Zinssatz von p=10 Prozent für die Laufzeit von n=30 Jahren aufnehmen (Bitte nehmen Sie niemals so ein unmoralisches Angebot an!). Was für eine Summe müssten wir dem Zinsnehmer, sprich dem Kreditgeber nach Ablauf der 30 Jahre zahlen? Richtig, 1.744.940,23 EUR. Das ist eine Steigerung um mehr als 1600 Prozent.
Wenn wir jetzt annehmen, dass viele Unternehmen in der freien Wirtschaft sogar mehrere Kredite zu weitaus schlechteren Konditionen erhalten, als wir es in den ersten beiden Beispielen sahen, und nicht wenige darunter sich der „Ponzi“-Finanzierung bedienen, dann ist klar, dass hier etwas gewaltig aus dem Ruder läuft. Von einem Gleichgewicht des Marktes kann dann, angesichts solcher Verschuldungen, nicht mehr gesprochen werden.
Die exponentielle „Vermehrung“ des Geldes auf der Passivseite führt zum Zwang nach immer größer angestrebtem Wirtschaftswachstum auf der Aktivseite. D.h., die zunehmende Verschuldung zwingt den Unternehmer, nach dem Mehrwert zu streben. Es ist also nicht alleine nur der kapitalistische Geist des Individualismus, der den Unternehmer oder Kreditnehmer dazu bringt nach Profit zu streben, sondern auch der Zwang, seine Schuld bzw. seine Zinseszinsen zu bedienen. Daher ist es im Kapitalismus auch wichtiger Geld zu bekommen, statt tatsächlich welches zu haben. Die Liquidität, die sich letztlich auch aus dem Wachstum einer Unternehmung ergibt, ist dabei notwendiges Ziel. Es ist demnach so, wie einst im englischen Königreich des 16. Jahrhunderts, wo die Bauern dazu gezwungen waren, ihre Absätze zu erhöhen und mit anderen Berufsgenossen in teilweise existenzbedrohliche Konkurrenz zu treten.
Zumindest der Zinseszinseffekt ist demnach aus dem Kapitalismus nicht wegzudenken und eines der Grundübel für den krampfhaften Wachstumszwang der Unternehmen, der wiederum zu Lohndumping, Umweltverschmutzung, Masseneinwanderung und Rationalisierungsmaßnahmen mit gravierenden Folgen für ganze Familien führt.
Anmerkungen und Quellenangaben
[1] Der Utilitarismus ist eine Form der zweckorientierten Ethik, in der das Streben nach der Maximierung des Nutzens und Wohlbefindens der Antriebsmotor jeglicher Handlung des Menschen ist.
[2] Marx & Engels (1848, S. 3). „Das Manifest der kommunistischen Partei“
[3] Schumpeter unterschied hier jedoch zwischen dem Unternehmer und dem Kapitalisten. Den Kapitalismus hielt er zudem nicht für überlebensfähig, da er das Unternehmertum auf Dauer zerstöre und somit das schöpferische Moment des Entrepreneurs elemieiere.
[4] Weber beschrieb diesen Umstand in seinem 1904 und 1905 erschienenen Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. Der Autor sah hier einen Zusammenhang zwischen diesem modernen kapitalistischen Geist und dem Protestantismus, der calvinistische Elemente in sich trägt.
[5] Die Auffassung die Dominanz von Großbetrieben sei ein Indikator für das Vorhandensein einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung geht auf den Begründer des Chartalismus, Georg Friedrich Knapp (1842-1926) zurück.
[6] Marx unterschied jedoch trotzdem zwischen Geld-, Waren- und produktiven Kapital, war jedoch der Auffassung, dass hier ausschließlich von Geld die Rede sein kann, da es sich bei all diesen Formen nur um eine Metamorphose des Geldes handelt. Letztlich sei alles Kapital nichts weiter als eine Investitionssumme, die in Geld gemessen werden kann.
[7] Bischoff (2002, S. 399). Entmachtung der Hochfinanz. Fiedland-Verlag