Das Phantom „Islamischer Staat“

von | 21. Sep. 2018 | Philosophie & Theorie

Kein Thema dominiert so hartnäckig das Nachrichtengeschehen wie der Nahostkonflikt. Mit der plötzlichen medialen Präsenz des „Islamischen Staats“ (IS) ab Mitte 2013 erhält dieser Konflikt eine neue Qualität. Besonders die rasante Ausbreitung und die Grausamkeiten dieser völlig unbekannten Organisation sorgen für Schrecken. Islamfeindliche Strömungen aller Couleur in Europa fühlen sich in ihrer Propaganda bestätigt, während zumeist jugendliche muslimische Einwanderer Sympathien entwickeln. Es ist gegenwärtig kaum möglich, das Phantom „Islamischer Staat“ genau zu bestimmen. Denn an ein unbestimmtes Phantom erinnert diese Organisation. Zu den Undurchsichtigkeiten des „Islamischen Staates“ tragen dessen wechselnde Namen und die personelle, ideologische und organisatorische Herkunft bei. So führen manche Spekulationen den IS auf eine al-Qaida nahe Abspaltung des Irak 2003 zurück, andere auf eine Abspaltung der extremistischen Nusra-Front Syriens 2012. Überhaupt kann die unübersichtliche Entwicklung nur vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts, der Bürgerkriege in Syrien und Irak, der bunten Völkerschau Vorderasiens, regionalen Hegemonialstrebens Irans, Saudi-Arabiens und der Türkei, konfessionellen Spaltungen, Wirtschaftsproblemen und globalen geopolitischen Frontstellungen beurteilt werden. Diese Komplexität wird weiterhin durch die sich ständig ändernden militärischen Frontverläufe, die Dynamik der Bürgerkriege in Irak und Syrien (zunehmend auch in Jemen und Libyen) sowie eine unberechenbare Bündnispolitik vergrößert.

Um sich dem IS-Phantom zu nähern, sollen in dieser Darstellung folgende Fragen beantwortet werden: Weshalb ist der IS momentan so erfolgreich und so schnell wachsend? Wie lässt sich der IS in die islamische (politische) Ideengeschichte einordnen? Welche Perspektive hat der IS?

Erfolgsfaktoren des „Islamischen Staats“

Das Erstarken des sunnitischen Extremismus und die Gründungswelle solcher Organisationen seit 2003 stellt eine Reaktion auf die Benachteiligung der sunnitischen Konfession in Syrien[1] und Irak[2] dar. Diese Organisationen stoßen in ein machtpolitisches und ideologisches Vakuum infolge der Bürgerkriege in Syrien, Irak, Jemen und Libyen. Durch den Sturz bzw. die Schwächung der Baath-Systeme (Assad, Saddam) und der libyschen Basisdemokratie gingen ideologische Alternativen verloren und die Regionalmächte Syrien und Irak können ihre regionale Ordnungsfunktion nicht mehr erfüllen. Die allgemeine Unsicherheit, ökonomische Engpässe, Perspektivlosigkeit, Übervölkerung (v. a. „youth bulge“) und Protestmentalität wirken als Katalysator. Von diesen Faktoren profitieren alle sunnitischen Extremisten. Beim „Islamischen Staat“ kommen weitere Vorteile hinzu, manche werden sich jedoch als nur vorhaltig und später als nachteilig erweisen (Siehe Perspektive):

*der Name: „Islamischer Staat“ ohne geographisches Attribut suggeriert DEN Islamischen Staat schlechthin, d.h. es ist propagandistisch schwer, sich dagegen zu positionieren. Außerdem erklärte sich der IS im Juni 2014 zum Kalifat, was ein attraktives utopisches Element bedeutet. Der Kalifats-Gedanke als Vision wurde wieder möglich, seit dem das real existierende Kalifat im Zuge der Abwicklung des Osmanischen Reichs und der Gründung Türkei 1924 frei wurde und nicht mehr zwischen loyalen Anhängern und Gegnern polarisieren kann.

*die Führung: Im Gegensatz zu vielen anderen Organisationen (nicht al-Qaida) wird der IS von einem Direktorium geführt, das eben nicht von einer Einzelperson abhängt. Nur als Aushängeschild wurde der charismatische Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri als Kalif bestimmt.

*die Taktik: Der IS setzte sich nachweislich ab 2013 als einzige Organisation in einem unwirtlichen und vernachlässigten „Niemandsland“ im syrisch-irakischen Grenzgebiet fest und konnte sukzessiv Terrain gewinnen. Das Kerngebiet war für andere Akteure einfach belanglos, weshalb man den IS solange unbehelligt ließ. Beim IS handelt es sich entgegen des Namens nur um eine Organisation, es fehlt an staatlichen Institutionen. Deshalb kann sich der IS so schnell auf sich ändernde (militärische) Bedingungen einstellen. IS erinnert stark an die flexible FARC in Kolumbien oder an die Weltkriegspartisanen der UdSSR und Jugoslawiens. IS ist spontaner und profitiert von Ermüdungserscheinungen seiner sunnitischen Rivalen. Von großer Bedeutung erweist sich sein unerwarteter Pragmatismus: die Kombination aus Politik, Religion und organisierter Kriminalität (Siehe Finanzierung).

*Bündnispolitik: Der IS ist bei der Suche nach Verbündeten nicht wählerisch, die Allianz mit unpolitischen lokalen Kriegsherren und gedemütigten laizistischen Baath-Politikern im Irak (nicht Syrien) verschaffte dem IS eine sozioökonomische Basis.

*Versprechungen und Praxis: Der IS erscheint egalitär und bietet seinen multiethnischen Anhängern Chancengleichheit und Bewährungsmöglichkeiten. Seine antifeudale und antihierarchische Praxis gegen lokale Honoratioren in Syrien (eben nicht Irak) stellen eine Alternative zum Modell Saudi-Arabien und al-Qaida dar.

*vielseitige Finanzierung: Vermutlich finanziert sich der IS durch Spenden, Raub, Erpressung, Schutzgeld, Entführungen, Handel mit Kunstschätzen aus Museen und Rohöl aus eroberten Quellen /Pipelines. Das Distributions- und Logistiknetz wird durch lokale Honoratioren garantiert.

*günstige geopolitische Konstellation (Siehe unten)

Zur Attraktivität des Politischen Islam

Der IS profitiert wie seine Rivalen von einem ideologischen Vakuum und einer Sinnkrise. Man kann den Vormarsch politisch-islamischer Organisationen in drei Wellen festmachen: Auflösungserscheinungen des Osmanischen Reichs und Kolonialisierung des arabischen Asien und Nordafrika (1900-1940), der verheerende Sechs-Tage-Krieg gegen Israel und die Iranische Revolution (1967-1980) sowie der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus 1990. Die zunehmende Schwäche und schließlich das Ende des Osmanischen Reichs als Nachfolger der arabischen Kalifate und die Aufteilung der arabischen Welt unter Frankreich, Großbritannien und Italien diskreditierten den herkömmlichen islamischen Traditionalismus als unfähig und verkrustet. Als Reaktion wurden Forderungen nach einem reinen und unverfälschten Islam laut, aber auch säkulare nationalistische und sozialistische Ideen. Diese von Europa übernommenen Ideen erschienen nach der demütigenden Niederlage des Sechs-Tage-Kriegs 1967 und dem Tod Nassers 1970, dem unbestrittenen Führer des säkularen sozialistischen Panarabismus, als ebenso gescheitert und unpassend. Mit dem Ende der Sowjetunion 1990 verschwand auch diese Alternative. Seit dem kann eine Reislamisierung politischer Alternativen beobachtet werden.[3] Letztlich stellt der Politische Islam eine Antwort auf Moderne, Werteverfall und kapitalistischen Globalismus dar.[4] Es greift aber zu kurz, den Politischen Islam als reine Verlegenheitslösung anzusehen, da alles andere vermeintlich scheiterte und nur dieser übrig blieb. Tatsächlich bietet der theoretische Islam eine ganzheitliche Alternative, da er allumfassend (in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Religion, Rechtsprechung) und damit alltagstauglich ist. Außerdem wirkt er identitätsstiftend. Dem theoretischen Islam wohnt ein egalitärer Charakter inne, der sich in der starken Ausrichtung auf die Gemeinschaft zeigt.[5] Individualität gilt als „westlicher“ (besser liberaler) Import. Zu den Fünf Säulen des Islam gehört die „Zakat“: die verpflichtende Abgabe eines festgelegten Teils des persönlichen Besitzes an Bedürftige. Darin zeigt sich das Bestreben, einen materiellen Ausgleich unter den Gläubigen herzustellen.[6]

Grundlagen des Politische Islam

Nachfolgend eine Darstellung, was der theoretische Islam grob bedeutet und welche politischen Strömungen existieren. Es ist nicht der Raum, auf theologische Besonderheiten und Details einzugehen.

Die islamische „Ummah“

Alle islamischen Konfessionen bekennen sich zur „Ummah“, der universellen übervölkischen Gemeinschaft aller Gläubigen. Ethnische Grenzen spielen keine Rolle. Da sich der Prophet Mohammed bereits gegen das arabische Stammesbewusstsein wandte, schlossen islamische Rechtsgelehrte („Ulemas“) mit Aufkommen des Nationalstaatsgedanken[7] auf dessen Unvereinbarkeit mit „Ummah“. Die islamische Dreiteilung der Welt in die Zonen „Dar al-Islam“ (Haus des Islam: wo Muslime die Mehrheit haben und Macht besitzen), „Dar al-Harb“ (Haus des Krieges: Muslime müssen um ihren Glauben kämpfen) und „Dar as-Sulh“ oder auch „Dar al-Ahd“ (Haus des Waffenstillstands /der Versöhnung: Muslime dürfen frei glauben, haben aber keine Macht) entstammt der frühislamischen Expansionszeit als Muslime zu einer bedrohten Spezies gehörten. „Dar al-Islam“ ist nicht identisch mit der „Ummah“, da diese ausdrücklich alle Muslime unabhängig ihrer Umgebung einschließt. So gehört ein muslimischer Forscher in der Antarktis im Kreise norwegischer Protestanten gleichsam dazu. Nach der Flucht des Propheten Mohammed aus Mekka nach Medina wurde diese Stadt die erste „Islamische Nation“, die multiethnische Bevölkerung derselben zum „Volk der Überlieferung und der Gemeinschaft“ („ahl al-Sunna wa al-Jama`a“). Die „Ummah“ wäre im Falle einer weitgehenden Islamisierung die einzige „Nation“ auf Erden und politischer Nationalismus folgerichtig ein Grundübel, welches die allumfassende „Ummah“ in Staaten zerspaltet. Außerdem stehen Ethnozentrismus und möglicher Rassismus für einen „Materialismus des Blutes“ (Evola), der sich nicht mit transzendenter Universalität vereinbart.

Die islamische „Djama`a“

Ursprünglich waren „Djama’a“ und „Ummah“ identisch, mit zunehmender islamischer Expansion wurde jedoch eine Differenzierung notwendig. So bedeutet „Djama`a“ die lokale Gesamtheit der als Autoritäten angesehenen Muslime, deren Glaube und religiöse Praxis den Forderungen des Islam entsprechen. Teilweise wird auch jede Gruppe von Muslimen, die sich zum gemeinsamen Gebet zusammenfindet als „Djama`a“ bezeichnet.

„Djama`a“ ist heute die lokale Gemeinschaft der Gläubigen und zeichnet sich durch personelle Übersichtlichkeit aus und nimmt die Rolle der untersten lokalen Verwaltungseinheit ein. Zwischen ihr und „Ummah“ gibt es keine weiteren Ebenen! Der Nationalstaat stellt keine Zwischeninstanz dar, stellt er doch Volkssouveränität vor Gottesherrschaft („hakimiyat allah“) und gilt als Kind der freimaurerischen Französischen Revolution.

Da eine effektive gesellschaftliche Verwaltung unmöglich ist, gibt es inzwischen Strömungen, die den Nationalstaat integrieren wollen. Sie argumentieren, dass „Ummah“ nur eine geistige Einheit sei und deren Schaffung erst am „Ende aller Zeiten“ einsetzen würde. Demnach sollen Nationen friedlich zur Ehre Allahs konkurrieren, schließlich schaffen sie auch Vielfalt.

Alle islamischen Konfessionen zeichnen sich durch eine regelrechte Institutionsfeindlichkeit aus, das schließt Staatsgebilde mit ein. Der Nationalstaat ist also doppelt abzulehnen.

Der Sunnitische Islam

Idealerweise herrscht der Kalif global über die Gläubigen. Der Kalif ist der irdische Stellvertreter Allahs und Nachfolger des Propheten Mohammed, jedoch hat er eher symbolische Bedeutung, da er kaum Gestaltungsmöglichkeiten besitzt – die höchste Autorität bleibt die „Ummah“[8]. Im sunnitischen Islam gilt die Koraninterpretation nämlich als abgeschlossen, die koranische Deutung findet sich in der „Sunna“ (=Richtschnur) der vier Nachfolger des Propheten Mohammed und „Hadith“ (=Erzählungen). Neue Rechtsfestlegungen etwa kann nur der allgemeine Konsens „Idschma“ der Religionsgelehrten („Ulemas“) beschließen, niemals aber der Kalif. Für die wahrhaftige Auslegung besagter Schriften gibt es vier verschiedene Rechtsschulen[9] mit regionalen Schwerpunkten. Ein islamischer Klerus existiert auch nicht. Das Kalifat stellt vielmehr eine geistige und moralische Institution dar, eben kein festes Staatsgefüge. Ebenso wie die nationenlose „Ummah“ wird zunehmend auch das Kalifat als visionäre Utopie gesehen. Wer sollte auch heute das würdevolle Amt desselben bekleiden? Das stark verklärte „Kalifat Arabischer Nation“ endete 1258 mit der mongolischen Invasion und seine Usurpation durch den osmanischen Sultan (kein religiöser Titel) offiziell 1924 mit der republikanischen Türkei. Häufig kämpften mehrere Kalifenanwärter um die Macht, zeitweise gab es derer sogar mehrere gleichzeitig. Um solche Peinlichkeiten erneut auszuschließen, streben die wenigsten muslimischen Würdenträger heute das Kalifat an. Der Kalif muss von der Ummah gewählt werden, eine Anleitung dafür gibt es freilich nicht. Die haschemitischen Nachkommen des Propheten Mohammed  (Scharif und Sayyid genannt)[10] haben kein automatisches Anrecht, sondern sind Treuhänder der heiligen Stätten im Hedschas, Mekka und Medina, die heute allerdings von der Familie Saud kontrolliert werden.

Der Shiitische Islam

Im Gegensatz zum sunnitischen Islam kennt der shiitische durchaus geistige Ämter und damit zumindest rudimentäre Institutionen. Als Shiiten bezeichnet man die Anhänger des Propheten-Schwiegersohns Ali (Shia = Partei Alis). Die große Spaltung („Fitna“) des Islam 657 hat aber nicht nur personelle Folgen: Im Shiismus ist die persönliche Koraninterpretation durch ehrliches Bemühen („Idschtihad“) weiterhin möglich. Anstelle des Kalifen tritt im Shiismus der Imam (nicht mit dem Vorbeter zu verwechseln): dieser gilt als vollkommen und unfehlbar, nur die Nachkommen des Prophetenschwiegersohns Ali konnten diese höchste Würde erlangen. Das Imamat[11] mit den zwölf anerkannten Imamen (bei manchen shiitischen Strömungen werden nur der sechste oder siebte anerkannt) wurde 874 urplötzlich unterbrochen, als der zwölfte Imam spurlos verschwand. Seitdem warten die Zwölfer-Shiiten auf den entschwundenen „Mahdi“ (=der Verborgene). Dieser kommt am Ende aller Zeiten wieder, um die Gottesherrschaft zu errichten. Bis zu seiner Wiederkehr ist folgerichtig keine politische Macht legitim, jedes System darf in Frage gestellt werden, da ja die Auslegung des Koran bei Shiiten niemals endet.

Weitere Merkmale des Politischen Islam

*allen Strömungen gemeinsam (Auswahl): Orientierung auf die frühislamische Praxis und bestimmte kanonische Schriften (daher treffend Fundamentalismus genannt), Ablehnung jeglicher demokratischer Formen wegen der alleinigen Souveränität Gottes[12], Einführung der Scharia[13], religiöse Durchdringung aller Lebensbereiche, Koran als authentisches (arabisches) Wort Allahs und Wiedererrichtung des Kalifats /Imamats, wenigstens als Fernziel.

*Streitpunkte zwischen den Strömungen (Auswahl):

-Was umfasst das urislamische Fundament der Altvorderen? Wie weit reicht die Ahnenreihe der Altvorderen?

-Gehören die vier Rechtsschulen zum Fundament oder sind sie später dazugekommen?

-Stellen Volksislam und mystische Sufi-Bruderschaften eine Verfälschung dar?

-Wie sieht eine islamkonforme Wirtschaft aus (Zinsverbot, Eigentumsfrage)?

-Wo beginnt Aberglaube[14], erlaubte („ruqya“) und unerlaubte („aihr“) Magie?

-Was gehört zu Gewohnheit („adat“) und Tradition („taqlit“)? Was ist verfälschende Neuerung („bid“)?

-Mahdi-Erwartung und Charakter des Mahdi[15]

-Umgang mit anderen Konfessionen

-Rolle der Frau (einzubeziehendes Subjekt oder nur Objekt)

-theologische Fragen nach dem Charakter von „Zwischenwesen“ (Engel, Geister, Dämonen)

-Verehrungsgrad des Propheten Mohammed

-Ist „Idschtihad“ – die persönliche Koraninterpretation und Rechtsauslegung -, möglich (wie bei Shiiten) oder tatsächlich abgeschlossen? Sind „Ulemas“ (Rechtsgelehrte) im Falle von „Idschtihad“ überhaupt nötig?

-Was umfasst „Scharia“? Was deckt z. B. das Bilderverbot ab?

-Akzeptanz ethno-kultureller und regionaler Besonderheiten

-Arrangement mit Staat und Nation

Strömungen im politischen sunnitischen Islam

Die nachfolgende Darstellung charakterisiert die im politikwissenschaftlichen und medialen Diskurs etablierten (ungenauen) Strömungen /Organisationen. Zusätzlich soll der Begriff „Islamischer Integralismus“ eingeführt werden.

*Wahabiten: hanbalitische Rechtsschule; große Bedeutung der „Ulemas“ – kein „Idschtihad“; gegen Nationen; de facto antisozialistisch; saudische Monarchie als Keimzelle eines neuen Kalifats; benutzen v. a. in Zentralasien und Europa Salafisten als Wegbereiter; evolutionäre Machtübernahme; gegen mystische Sufi-Bruderschaften

*al-Qaida und Taliban: wie Wahabiten, aber hanafitische Rechtsschule; keine einheitliche Aussage zum Kalifen; Taliban inzwischen de facto paschtunisch-nationalistisch; revolutionäre Machtübernahme; für „Ulemas“; Tendenz beider zum Islamischen Integralismus; zunehmende Tendenz gegen Wahabiten; gegen mystische Sufi-Bruderschaften

*Muslimbruderschaft: Nationen als Zwischenschritt akzeptiert, universelles Kalifat („Ummah“) wird am „Ende aller Zeiten“ errichtet; stark genossenschaftlich orientiert; Ordensstruktur; gegen saudische Dominanz; alle vier Rechtsschulen je nach regionaler Tradition akzeptiert; starke Bedeutung der „Ulemas“, kein „Idschtihad“; v. a. ein arabisches und pakistanisches Phänomen; Tendenz zum Islamischen Integralismus; je nach Sektion Akzeptanz mystischer Sufi-Bruderschaften

*Salafisten: inflationär benutze unklare Sammelbezeichnung; keine klaren Aussagen zu Wirtschaft und Verwaltung; „Idschtihad“ möglich und sogar notwendig, daher gegen „Ulemas“; gegen saudische Dominanz, Wahabiten als Heuchler; egalitär; de facto antimonarchisch; gegen alle vier Rechtsschulen; gegen Nationen; für revolutionäre Machtübernahme; gegen mystische Sufi-Bruderschaften

*Neosalafisten: wie Salafisten, aber evolutionär über Islam konforme Parallelgesellschaften; eher theologisch denn politisch; v. a. unter muslimischen Einwanderern in Europa, Nordamerika und Australien sowie Konvertiten verbreitet

*Islamischer Traditionalismus: von Großgrundbesitzern getragen, daher de facto antisozialistisch; Akzeptanz von (monarchischen) Nationen als momentane Erscheinung; zur Tradition gehört das „Goldene Zeitalter“ des arabischen Kalifats, nicht aber das osmanische; Akzeptanz der mystischen Sufi-Bruderschaften

*Islamischer Integralismus[16]: größte Strömung im Politischen Islam; wichtige Rolle der „Ulemas“ – kein Idschtihad mehr möglich; Akzeptanz der mystischen Sufi-Bruderschaften,  häufig mit diesen verwoben; Arrangement mit Nationen (Islamisch-Nationalistische Synthese); Nationen spiegeln die Allah gewollte Vielfalt wieder, monarchische wie republikanische Nationen zum friedlichen Wettstreit aufgerufen; unbestimmtes antikapitalistisches Element; nahezu alle politischen shiitischen Gruppen und der Iran seit Khomeinis Tod können als integralistisch gelten; zunehmende Tarnung als „Islamische Demokratie“

*Islamischer Staat: kann noch keiner Strömung zugeordnet werden; höchste Bedeutung genießt die verwirklichte Scharia; IS als einzige mögliche Nation; bereits das Kalifat UND Kalifen ausgerufen; keine programmatischen Aussagen zu Rechtsschulen und Wirtschaft; gegen mystische Sufi-Bruderschaften; gegen „Ulemas“

In der machiavellistischen Realität dient auch die islamische Religion dem politischen Machtstreben. Das zeigt sich auch an den merkwürdigen Allianzen zwischen unterschiedlichen Strömungen und Feindschaften innerhalb einer Strömung.

Günstige geopolitische Konstellation: Akteure im Konflikt

Es ist sinnvoll, den gesamten Nahen Osten in seiner staatlichen, ethnischen und konfessionellen Vielfalt zu betrachten. Die Komplexität und Wechselwirkungen machten es bisher dem IS einfach: Einmal waren die IS-Feinde untereinander beschäftigt, andermal ließ man den IS absichtlich frei gewähren. Bei den widersprüchlichen und unberechenbaren Allianzen dominiert das Motto „Der Feind meines Feindes ist mein potentieller Verbündeter“. Häufig widersprechen sich bei der Partnerwahl Innen- und Außenpolitik, was der gründliche Deutsche nur schwer nachvollziehen kann. Nachfolgend eine vereinfachte Charakterisierung der wichtigsten Akteure und Schauplätze:

*Baath-Aktivisten: Anhänger der in der gesamten arabischen Welt verbreiteten Ideologie der arabischen Wiedergeburt (=Baath) in einem vereinten laizistischen sozialistischen Arabien; Staatsideologie in Irak (bis 2003) und Syrien; seit 1966 in zwei unversöhnliche Flügel, proirakisch und prosyrisch, gespalten; Iraks Baathisten kooperieren mit IS, syrische Baathisten bekämpfen IS[17]

*Saudi-Arabien und Katar: wahabitisch; Zweckbündnis mit USA, Feindschaft gegen Israel, Iran (wegen Shiismus), Türkei (wegen staatlichem Laizismus), Syrien (wegen Baathismus) und Jordanien (wegen der Haschimiten-Dynastie, die ihre Rechte auf Mekka und Medina wahrt); im Inneren werden Salafisten und Muslimbrüder bekämpft, im Ausland aber gelegentlich über Stiftungen offen unterstützt; Beide Monarchien dulden die Finanzierung solcher Bewegungen – und des IS – durch eigene Staatsbürger und private Stiftungen; IS wird jedoch zum neuen Feind

*Syrien: Bürgerkrieg zwischen Assad-Anhängern (Baathisten, Alawiten, Kurden, Christen, Drusen), laizistischen Assad-Feinden (Sunniten und Kurden) und zersplitterten sunnitischen Extremisten[18]; Allianz Assads mit Iran und libanesischer shiitischer Hizbullah

*Pakistan: instabiler Staat mit großer shiitischer Minderheit; Bürgerkriegsschauplatz der Zukunft; enges Bündnis mit Saudi-Arabien; Zweckbündnis mit USA; Gegnerschaft zum Iran; rivalisiert mit diesem um Einfluss in Afghanistan; duldete lange das Erstarken der Taliban

*Iran: einziger Staat mit shiitischer Staatsreligion; traditioneller ethnischer und religiöser Gegensatz zu Türkentum und Arabertum; Intimfeindschaft zu Saudi-Arabien und Pakistan; unterstützt shiitische Gemeinschaften in arabischen Staaten, v. a. die Hizbullah-Familie (Libanon, Bahrain, Saudi-Arabien); unterstützt shiitische Zaiditen in jemenitischen Bürgerkrieg; enges Bündnis mit Syrien

*Türkei: innenpolitisch stark polarisiert: Laizisten gegen regierende Islamische Integralisten; große shiitisch-alevitische Minderheit, starke kurdische Minderheit mit separatistischen Bestrebungen; kaum türkische Salafisten; traditioneller Gegensatz zum Iran und Arabertum; Intimfeindschaft zu Syrien[19] wegen dessen Gebietsforderungen; Transitland für IS-Zulauf; Zunächst keine Unterstützung im Kampf gegen IS, inzwischen möglicher Kurswechsel

*Kuwait, Bahrain und Vereinigte Emiraten: Vertreter des Islamischen Traditionalismus; enges Bündnis mit USA und Saudi-Arabien; Feindschaft zu Baathisten im In- und Ausland; Intimfeindschaft zu Syrien und Iran; erkennen tendenziell den jordanisch-hashemitischen Anspruch auf die Verwaltung Mekkas und Medinas an; bekämpfen Salafisten, al-Qaida und Muslimbruderschaft im Inneren, dulden aber deren Unterstützung im Ausland durch Staatsbürger und private Stiftungen

*Ägypten: instabiler Staat mit ausgeprägtem Nationalismus; starke Stellung der Muslimbruderschaft, zunehmend auch der Salafisten; große christlich-koptische Minderheit; nach einem kurzen Intermezzo einer Regierung der Muslimbruderschaft[20] steht Ägypten heute wieder im Zustand VOR dem „Arabischen Frühling“ 2011; Zweckbündnis mit USA; wechselnde Nähe zu Saudi-Arabien UND  Assad-Syrien; Hier reift der nächste Bürgerkrieg.

*Irak: Failed State; de facto in drei Einheiten gespalten (Kurden, arabische Sunniten und arabische Shiiten); zersplitterte sunnitische Extremisten

*Jemen: Failed State; starke sozialistische Separatisten im Südjemen; große shiitisch-zaiditische Minderheit (35%), diese wird von Saudi-Arabien bekämpft, in den 1960ern aber unterstützt; zersplitterte sunnitische Extremisten

*Jordanien: instabiler Staat mit kaum ausgeprägter Identität: palästinensischer Bevölkerungsanteil bis 60%; einziger Staat unter haschemitischer Herrschaft; große Kontingente an syrischen und irakischen Flüchtlingen; Durch die Bürgerkriege in Irak und Syrien wurde Jordanien zur unfreiwilligen überforderten Ordnungsmacht; enges Bündnis mit USA, Israel und Türkei; Feindschaft mit Saudi-Arabien (wegen Gebietsforderungen) und Syrien; im Inneren starke prosyrische republikanische Opposition und eine angeblich gezähmte Sektion der Muslimbruderschaft

*Israel: bis auf die Palästinenser-Problematik die bequemste Position; enges Bündnis mit USA und Jordanien; profitiert vom Bürgerkriegsklima in Irak, Syrien und Libanon

*Libanon: komplexe Nahoststruktur en miniature; shiitische Mehrheit mit starker Hizbullah und politisch zersplitterten Christen und Sunniten; viele syrische Flüchtlinge; Ein neuer Bürgerkrieg scheint unvermeidlich.

*Oman: Sonderfall: weder sunnitisch noch shiitisch, sondern ibaditische; Verteter des Islamischen Traditionalismus; auffallende Zurückhaltung; wird als „ehrlicher Makler“ betrachtet; wegen seiner einmaligen ibaditischen Mehrheit resistent gegen Extremisten

*Libyen: Failed State. Die große ethnische, kulturelle, theologische und mentale Teilung Arabiens in Maghreb (Westen) und  Mashreq (Osten) durchschneidet Libyen. Die traditionellen Regionen Tripolitanien und Fezzan gehören zum Maghreb und die Kyrenaika zum Mashreq. Deren Zwangsvereinigung zum Kunstprodukt Libyen durch die einstige italienische Kolonialmacht wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg beibehalten und 1951 als „Vereinigtes Königreich Libyen“ in die Unabhängigkeit entlassen. Ethnisch dominieren arabisierte und einige rein hamitische Berber die maghrebinischen Regionen Tripolitanien und Fezzan, während arabisierte Altägypter den Osten (Kyrenaika) bewohnen. Eine zusätzliche religiöse Spaltung wie in Syrien oder Irak blieb diesem Konstrukt erspart. Seit der Unabhängigkeit wurde Libyen zunächst von der östlichen Kyrenaika (als Königreich) dominiert, seit Ghadaffis Revolution folgte eine sukzessive Tripolitanisierung und Hamitisierung der Politik. Der Bürgerkrieg von 2011 gegen Ghadaffi war also auch ein Aufstand des benachteiligten Ostens. Nach Ende des Bürgerkriegs – und von der westlichen Staatenwelt unerwünschten Wahlergebnissen -, stehen sich seit 2014 zwei regionale Blöcke unversöhnlich gegenüber: Kyrenaika vs. Tripolitanien/Fezzan. Beide Blöcke sind ideologisch heterogen, in beiden wirken politisch islamische Bewegungen. Zusätzlich agieren lokale unpolitische Warlords und einige völkisch motivierte Minderheiten (nichtarabisierte Berber und nilotisch-saharische Tubu). Genau wie in Syrien und Irak existieren unklare Bündnisse und sich ständig ändernde Frontverläufe. Diese ethno-regionale Unübersichtlichkeit wird sowohl von al-Qaida als auch IS ausgenutzt, wobei sich beide feindlich gegenüberstehen. Das syrische und irakische Trauerspiel wiederholt sich einmal mehr. Eine Besonderheit besteht darin, dass beide verwandte Bewegungen wenigsten eine ansatzweise autochthone Basis im Land besitzen.

*Kurden: Neben Israel gehören die Kurden zu den Nutznießern des entflammten Nahen Ostens. Momentan verteilen sich die Kurden auf die Türkei, Irak, Iran und Syrien, wobei es wegen des jahrhundertelangen Assimilierungsdrucks starke regionale Unterschiede in Sprache, Religion und Kultur gibt. Trotz des historischen Gegensatzes zu Türken und Arabern und einer relativen Nähe zu den verwandten Persern des Iran, dominieren innerkurdische Rivalitäten. In der Türkei neigen die alevitischen Kurden zur Sezession, die Sunniten zu einer begrenzten Autonomie innerhalb einer reislamisierten Türkei. Im Nordirak herrschten bis in die 1990er gemäßigt nationalistische Organisationen feudalen Charakters, in Nordsyrien gemäßigt linke Organisationen, die sich mit dem Baath-System trotz dessen Arabisierungspolitik arrangierten und auch im Iran schwächte sich der gemäßigte linke Nationalismus dank Khomeinis versöhnender Nationalitätenpolitik ab. Mit dem Irak-Krieg der USA 1991 und dem endgültigen Sturz des irakischen Baath-Systems Saddams konnte sich ein kurdischer Parallelstaat im erdölreichen Nordirak entwickeln. Dieser bleibt weitgehend zwischen den zwei US-freundlichen feudalen Klans aufgeteilt. Inzwischen stören PKK und radikalisierte kurdische Sunniten diese Vetternwirtschaft. Die irakischen Kurden werden von den USA besonders stark umworben: Washington braucht sie als Helfer gegen die sunnitischen Araber Iraks und gegen den IS, provoziert aber damit den treuen NATO-Partner Türkei, die eine solche Aufwertung wegen ihrer eigenen Kurden fürchten muss. Die mehrheitlich linksgerichteten US-feindlichen Kurden Nordsyriens stehen im syrischen Bürgerkrieg allein, d.h. sie kämpfen gegen den IS und weitere sunnitische Extremisten, aber auch gegen das arabisch-nationalistische Baath-System. Nachdem die vom IS bedrängten Kurden halbherzig von den USA mit Luftschlägen unterstützt wurden, konnten sie nach dem Nordirak einen zweiten Kurden-Staat in Syrien errichten: Die „Föderation Nordsyrien – Rojava“. Dieses Zufallskonstrukt sieht sich dem „Demokratischen Konföderalismus“ verpflichtet, einer Propagandavision Öcalans, wonach alle Völker zunächst Nordsyriens (Kurden, Araber und Turkmenen) gleichberechtigt in einem säkularen und basisdemokratischen System mit verordneter Frauenquote leben dürfen. Es darf bezweifelt werden, dass sich aus dem syrischen und irakischen „Kurdistanen“ – geschweige denn dem türkischen -, jemals ein vereintes Großkurdistan entwickeln wird. Zur Vereinigung fehlen zudem ein kurdisches Preußen und eine protegierende Großmacht. Wie 1918 fällt diesem großen Volk die Rolle des internationalen Spielballs zu: mit einer großen Diaspora und wieder ohne wirkungsmächtige Lobby.

*Sufi-Bruderschaften: einflussreiche, elitäre, miteinander verbundene Orden auf mystisch-spiritueller Grundlage mit Massenanhang; starkes soziales Engagement; häufig mit politischen Organisationen verbunden; in der gesamten islamischen Welt beheimatet; widersprüchliches Verhältnis zur Orthodoxie

*Die Bürgerkriegsstaaten Syrien, Irak, Libyen, Jemen, (Sudan) und Somalia entwickeln sich zum Tummelplatz für Salafisten, al-Qaida und IS.

*USA: Unterstützen oder dulden alle Kräfte, die Assad-Syrien und Iran destabilisieren; Bündnis mit Saudi-Arabien, Pakistan, Ägypten, Jordanien, Israel und den Golf-Monarchien. Der IS ist nur der „nützliche Idiot“.[21] Die USA profitiert wie Israel von einer latenten Bürgerkriegssituation in der gesamten Region mit nicht zu starken regionalen Hegemonialkräften (Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten)

*Russland /China: Bündnis mit Assad-Syrien und Iran aufgrund deren Gegnerschaft zur USA; Feindschaft zu Saudi-Arabien und Pakistan, da beide die Finanzierung islamischer Terroristen in Zentralasien, Russland und China dulden

*Europa: Die EU ist wie üblich gespalten, die nationalen Interessen überwiegen. In Europa selbst breiten sich derweil IS und Salafisten aus. Neben einem noch überschaubaren entwurzelten Immigrantenmilieu und einer autochthonen Konvertitenszene gedeihen IS, al-Qaida und Wahabiten in Bosnien-Herzegowina. Neben den albanischen Siedlungsgebieten beherbergt die ehemalige jugoslawische Teilrepublik einen historisch gewachsenen nativistischen Islam auf sunnitisch-osmanisch-sufistischer Grundlage. Die Vorfahren der bosnischen Muslime gehörten jener häretischen christlichen Sekte der Bogomilen an, die von ihren katholischen wie orthodoxen Brüdern gleichermaßen verfolgt wurden und in der osmanisch-islamischen Landnahme einen Befreiungsakt sahen. Wegen des bedeutsamen mystizistischen Sufismus im osmanischen Islam traten die Bogomilen sukzessiv zum sunnitischen Islam über. Bis 1945 definierten sich die südslawischen Muslime religiös, bis sie von Tito zur Nation erhoben wurden. Seitdem bevorzugen sie die Bezeichnung „Bosniaken“ in Abgrenzung zu „Bosniern“, die alle Bewohner (auch katholische Kroaten und orthodoxe Serben) umfassen. Der gemäßigte tolerante Kulturislam des erwachten bosniakischen Nationalismus nach 1990 verlor auch wegen der prekären Staatlichkeit Bosniens made by UNO/NATO/EU an Integrationskraft. Der Vergleich Bosnien-Herzegowinas mit solchen Konstrukten wie Libyen, Libanon oder Irak drängt sich dem Beobachter auf: Es stehen sich unversöhnlich zwei Defacto-Staaten im Inneren gegenüber, wobei die muslimisch-kroatische Föderation alles andere als harmonisch anmutet. Wegen des Versagens des vormals identitätsstiftenden gemäßigten Islams füllen zunehmend saudisch-wahabitische Vereine, Investoren und Prediger das Vakuum – und in deren Gefolge noch radikalere Kräfte. Als günstig erweist sich die komplizierte ohnmächtige staatliche Struktur, die Flut an Waffen als Folge des Bürgerkriegs und das europäische Desinteresse an der Balkanregion. IS, al-Qaida und Wahabiten können ungestört unter den orientierungs- und arbeitslosen bosniakischen Jugendlichen mittels arabischer, afghanischer und pakistanischer Instrukteure rekrutieren und lokale Stützpunkte in verlassenen Dörfern bilden. Man kann damit rechnen, dass die albanischen Siedlungsgebiete aus ähnlichen Gründen folgen werden, wobei sich der säkulare albanische Nationalismus bisher resistent zeigte.

Perspektive des „Islamischen Staats“

Der IS kann programmatisch momentan nicht eingeordnet werden. Er erinnert an die Experimentierphase des frühen „Bewegungsfaschismus“ 1919-1922. Einige Erfolgsfaktoren (siehe oben) werden sich als Nachteile erweisen. Einen Bärendienst hat sich der IS mit der Ausrufung des Kalifats und eines Kalifen (Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri) geleistet. Diese Anmaßung isoliert den IS zusehend. Es rächt sich jetzt auch die so vorteilhaft erschienene Programmlosigkeit: Es fehlt jegliche konstruktive Vision. IS gleicht damit solchen zerstörerischen Tsunamis à la Alexander der Große oder Dschingis Khan.

Von einer zentralen, straff geführten Organisation kann schwer gesprochen werden, es gibt zahlreiche autonome Untergliederungen, die sich schnell verselbständigen können. Wohl existiert ein Führungsdirektorium ohne feste Basis. Es gibt zu viele Kriegstouristen, Abenteurer und Desperados.

Die Fluktuation der multiethnischen Anhänger ist wegen Enttäuschung und Desillusionierung sehr hoch. Gerade im multiethnischen Charakter liegt auch die langfristige Schwäche: Es gibt keinen reinen „islamischen Menschen“, nur ethno-kulturell geprägte, weshalb die Gegensätze untereinander zunehmen. Alle panislamischen Versuche der Vergangenheit scheiterten an Nationalismus, Ethnozentrismus und sogar Rassismus. Nicht zufällig dominiert deutlich der vorgestellte Islamische Integralismus mit seiner Synthese aus Nation und Religion. Ähnlichkeiten gibt es am ehesten mit den ursprünglichen Taliban, al-Shabaab und Boko Haram, aber gerade diese mussten sich ethnisieren. Taliban sind inzwischen paschtunisch, Boko Haram eine fast reine Nationalbewegung der nordnigerianischen Hausa und al-Shabaab großsomalisch. Das gilt auch für die islamische Diaspora außerhalb des traditionellen islamischen Raums. Multiethnische Gruppen sind die Ausnahme und werden es auch bleiben. Die einzigen „islamischen Menschen“ sind entwurzelte Einwanderer und autochthone Konvertiten, dadurch aber fehlt es an Nachhaltigkeit. Wer Europa islamisieren will, muss den Islam entorientalisieren und ethnisieren – wie seinerzeit das Christentum. DEN Islam gibt es eben nur theologisch.[22]

Ein so praktizierte rigorose Islam-Interpretation wie beim IS wird den Widerwillen der muslimischen Mehrheit wecken, besonders der nicht zu unterschätzenden Frauen, aber auch der in ihrer Ehre gekränkten „Ulemas“, die schon jetzt nicht mit Bannsprüchen sparen.

Der IS kann sich noch behaupten und sogar expandieren, weil sich seine Feinde gegenseitig lähmen, d. h. der IS lebt ausschließlich von der Schwäche seiner Feinde, nicht von eigener Stärke. Zunehmend wird der IS aber zum Ärgernis, schon richten sich seine Angriffe gegen Saudi-Arabien und Türkei. Mit zunehmendem Engagement in Jemen und Libyen betritt der IS auch von Salafisten und al-Quaida „beanspruchtes“ Terrain. Die flexible Bündnispolitik sogar mit laizistischen Baath-Veteranen im Irak macht den IS unberechenbar und nicht gerade vertrauenswürdig.

Den größten Fehler machen aber alle Strömungen, die die mystischen Sufi-Bruderschaften als unislamisch (unerlaubte Neuerung) verdammen. Der Sufismus stellt gerade keine Sammelbezeichnung mystischer Bruderschaften dar, sondern ein dezentrales Netzwerk autonomer Orden und Schulen. Mindestens 130 Mio Mitglieder (ohne Anhänger) kann man nicht ignorieren. Den sufistischen Autoritäten gelang seit jeher die Symbiose aus Volksislam und elitären Orden. Volksislam und Orden mit ihrem sozialen Engagement und Bedienen spiritueller Bedürfnisse sind DIE Motoren der islamischen Missionierung und deren nachhaltiges Korsett – nicht die rein formalistische langweilige Orthodoxie, nicht das gefürchtete überbewertete „Schwert des Islam“. Die Rolle der Bruderschaften kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Sehr viele Vertreter des Islamischen Integralismus rekrutieren sich daraus.[23]

Der „Islamische Staat“ wird entweder nur ein belangloses, von niemandem beanspruchtes Territorium halten können oder unvermeidlich zur terroristischen zwergenhaften Politsekte herabsinken, die hochgefährlich bleibt. Zur Keimzelle eines wahrhaftigen Kalifats wird der IS nicht.


Anmerkungen

[1] Die syrischen Sunniten sind wirtschaftlich integriert, aber politisch marginalisiert. Von einem Assad-feindlichen sunnitischen Block kann natürlich nicht gesprochen werden. (Auch die kurdische Minderheit ist sunnitisch).

[2] Die arabisch-sunnitische Minderheit dominierte den Irak bis Saddams Sturz 2003, seit dem wird sie von Kurden und shiitischer Mehrheit marginalisiert.

[3] In der Praxis zeigt sich das an islamisch-nationalistischen Synthesen, hier de facto, dort auch offiziell (Milli Görüs).

[4] „Patriotische Muslime gegen die Liberalisierung des Morgenlandes“ hätten eine größere Berechtigung als die X-GIDAS.

[5] Zum Erfolgsrezept gehört „asabiyya“: die feste solidarische Wertegemeinschaft, die diesen Namen auch verdient.

[6] Sozialistische Strömungen  legitimieren daraus ihre Forderungen. Es gab auch Versuche einer islamisch-marxistischen Synthese.

[7] Bis heute gibt es im Arabischen, Persischen und Türkischen keine einheitliche Übersetzung für „Nation“, nur Umschreibungen und Hilfsbegriffe.

[8] Als Beratungsgremium für die Rechtsprechung ist die „Shura“ vorgesehen. Es ist unklar, wie sich „Shura“ legitimiert. Manche Muslime schließen auf eine Art Basisdemokratie.

[9] Hanbalyya (Saudi-Arabien), Hanafyya (Ägypten, Türkei, Zentralasien, Südasien), Malikyya (Nordafrika), Shafyya (Ostafrika, Türkei, Südostasien)

[10] Auch das marokkanische Königshaus leitet sich vom Propheten ab.

[11] Imamat und universelle Ummah sind im Idealfall identisch.

[12] Eine „islamische Demokratie“ ist ein Widerspruch in sich selbst. Wegen der starken Ausrichtung auf die Gemeinschaft sind Parteien und Interessenverbände besonders verhasst. Es fehlt im Islam ein Pendant der christlichen „Zwei-Reiche-Lehre“.

[13] Allein zu diesem vielseitigen Begriff wären Erläuterungen notwendig.

[14] Gebetsketten, Verehrung Heiliger, Amulette, Geisterglaube, Totenverehrung

[15] Die „Zwölfer-Shiiten“ erwarten den Mahdi am Ende aller Zeiten, bei den Sunniten gibt es verschiedene Vorstellungen vom Mahdi.

[16] Der Islamische Integralismus kann mit christlichen autoritär-konservativen und faschistischen Gruppen verglichen werden. Die türkische „Milli-Görüs-Bewegung“ und der islamische Flügel der „Grauen Wölfe“ können als Idealform angesehen werden.

[17] Die großarabische Baath-Ideologie ist klar antiiranisch und antitürkisch, gleichwohl syrische Baathisten mit dem Iran sympathisieren.

[18] Ausländer unter den Extremisten werden klar überbewertet. Man kann von außen nur dort erfolgreich sein, wo sich innere Widersprüche zuspitzen.

[19] Lange Zeit beherbergte Syrien die Führung der separatistischen kurdischen PKK.

[20] Die Muslimbruderschaft Ägyptens kann klar als Islamische Integralisten angesehen werden. Sie setzen sich für ein enges Bündnis mit der Türkei Erdogans ein und distanzieren sich von Saudi-Arabien.

[21] Ein wunderbares Indiz: Trotz permanenter US-Aufklärungsdrohnen „übersahen“ diese die sich konzentrierenden (mehrere tausend) IS-Kämpfer seit Mitte 2013 im Grenzgebiet Syrien-Irak, während eine jordanische Hochzeitsgesellschaft von rund 60 Personen von solchen Drohnen als vermeintliche Kombattanten angegriffen wurden.

[22] Zum Verhältnis von Islam und Nationalismus mit verschiedenen Bsp. Siehe Dominik Schwarzenberger: Islam und Nationalismus – Ein Widerspruch?, in: Neue Ordnung Nr. 4 2009

[23] Bsp. sind Milli Görüs und Gülen-Bewegung der Türkei, Ansar im Sudan, einige Sektionen der Muslimbrüder, die Senussi in Libyen oder nahezu alle politisch-islamischen Gruppen in Kaukasus, Indonesien, Zentralasien und Nordafrika.