Dugin und Lévy: Wenn Welten aufeinanderprallen

von | 07. Jan. 2020 | Philosophie & Theorie

Die Rückkehr von Settembrini und Naphta im 21. Jahrhundert

Alexander Dugin & Bernard-Henri Lévy

„Fünf Könige gegen das Reich – du stehst auf der Seite des Reiches, also kannst du alle fünf Könige anklagen. Wir sind die Könige.“

Am 21.09.2019 hat das Nexus Institut – eine der prestigereichste intellektuellen Organisationen welche den humanistischen Geist Europas am Leben erhält – den 25. Jahrestag ihres Bestehens mit einem Symposium unter dem Titel „Der Zauberberg von neuem betrachtet: Den Geist des Humanismus in geistlosen Zeiten kultivieren.“ nach der grundlegenden Novelle für das Institut aus der Feder von Thomas Mann „Der Zauberberg“ gefeiert. Das Nexus Symposium wurde mit einem intellektuellen Duell zwischen den beiden Philosophen Bernard-Henri Lévy und Alexander Dugin eröffnet, einer Reprise auf die berühmte Debatte zwischen Settembrini und Naphta in Manns’ Novelle. Der folgende Text stellt ein Transkript dieses Duells dar. Für weitere Informationen besuchen sie bitte die Seite www.nexus-instituut.nl oder kontaktieren sie info@nexus-instituut.nl.
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Übersetzt aus dem Englischen von Alexander Markovics und Marian Penkö, zuerst erschienen auf www.alexandermarkovics.at am 06. Januar 2020

Rob Riemen: Der Zauberberg dreht sich um ein Duell zwischen zwei widerstreitenden Weltanschauungen, welche um die Seele Europas kämpfen. Mit genau diesem Duell werden wir das heutige Nexus Symposium starten. Ich bin hoch erfreut, dass zwei tapfere Philosophen unserer Einladung gefolgt sind, um die Voraussetzungen und Konsequenzen ihrer jeweils komplett gegensätzlichen und einander widersprechenden Weltanschauungen zu diskutieren. Ich nenne sie deswegen tapfer, weil es extrem selten geworden ist, dass sich zwei philosophische Gegenspieler Auge in Auge gegenüberstehen. Jene, welche die Novelle gelesen haben, wissen, dass an ihrem Ende in der Tat ein physisches Duell steht. Naphta fordert Settembrini, Settembrini weigert sich zu schießen und dann tötet Naphta sich selbst. Das wird glücklicherweise heute nicht passieren. Ich bitte um einen großen Applaus für Leo Naphta, auch bekannt als Alexander Dugin und Ludovico Settembrini, auch bekannt als Bernard-Henri Lévy.

Dugin: Zunächst sei gesagt, dass ich den Krieg der Ideen immer dem physischen Krieg vorziehe. Und ich bin sehr froh darüber, dass ich mich mit Herrn Bernard-Henri Lévy, welcher weltberühmt ist, nicht in einem physischen Duell austauschen kann – weil wir uns manchmal an derselben Front befinden, normalerweise auf unterschiedlichen Seiten –, daher ziehe ich es vor Ideen auszutauschen, anstatt uns physisch zu duellieren. Vielleicht ist dies der einzige Weg das zu vermeiden, oder es zumindest zu versuchen. Zu allererst möchte ich erwähnen, dass Präsident Macron vor kurzem meinte, dass die Hegemonie des Westens vorbei sei. Unser Präsident, Herr Putin, hat dasselbe über den Liberalismus oder globalen Liberalismus gesagt.
Vor kurzem erschien eine neue Ausgabe der Foreign Affairs mit einem Artikel von Fareed Zakaria, der sich mit dem Niedergang der westlichen Macht beschäftigte. Und ich denke, dass es offensichtlich ist, dass dieser Niedergang gerade stattfindet. In ihrem Buch „The Empire and the Five Kings“ (Das Reich und die fünf Könige, AM) haben Sie eine sehr interessante Feststellung gemacht, nämlich, dass die amerikanische Präsenz im Nahen Osten schwindet, was Sie am Fall der Kurden festmachen. Ich denke, dass wir ein Ende erreichen, nicht das Ende der Geschichte wie es Herr Fukuyama sagte, sondern das Ende der politischen Moderne. Und das ist das Ende von etwas sehr, sehr Wichtigem, über das wir nachdenken sollten, nämlich das Ende der westlichen Hegemonie oder der amerikanischen Dominanz oder des globalen Liberalismus. Das ist etwas Historisches an sich, nicht etwas Technisches.
Ich interpretiere es – um es mit den Worten von Friedrich Nietzsche auszudrücken – in dem Sinne, dass am Anbeginn der Moderne die Menschen Gott getötet haben, um sich selbst zu befreien. Aber das war Selbstmord. Indem wir Gott getötet haben, haben wir uns selbst getötet. Und nun befinden wir uns in der letzten Phase des Nihilismus.
interessant ist, dass Sie in Ihrem Buch das Amerikanische Empire bzw. das globale Liberale System als das System des Nichts definieren, das auf Nichts aufbaut. Das ist eine sehr interessante Idee und ich möchte Sie fragen, ob Sie noch immer dieses immer mehr offen nihilistische System verteidigen, warum Sie für diese niedergehende Moderne kämpfen und warum Sie all Ihre intellektuelle Kraft aufbringen um sie zu verteidigen?

Lévy: Natürlich kämpfe ich bestimmt nicht für den Nihilismus. Im Gegenteil, ich bekämpfe den Nihilismus. Ich kämpfe für die politische Moderne, weil sie Demokratie, Freiheit, Gleichheit zwischen Frauen und Männern, Säkularismus und so weiter bedeutet. Und obwohl sich die politische Moderne vielleicht in einer Krise befindet, weise ich die Vorstellung von ihrem unabwendbaren Niedergang und sogar noch schlimmer, ihrem Verschwinden, zurück. Und ich weise sie zurück, weil ich stark davon überzeugt bin, dass das Überleben der liberalen Demokratie ein Vorteil für die ganze Welt ist. Nun lassen Sie uns über den Nihilismus sprechen: Ich habe auch Ihr Werk gelesen. Sie sind mein Gegenspieler. Wir haben in Bezug auf die meisten Themen gegenteilige Ansichten. Aber ich erkenne Ihre Bedeutung an, zumindest in Russland. Aus diesem Grund las ich Sie sorgfältig. Und für mich sind Sie die Verkörperung des Nihilismus – und Ihre Kollegen, und die eurasische Strömung. Und die morbide Atmosphäre, welche Ihre Bücher ausfüllt. Und die Art und Weise, wie sie die eigentliche Idee der Menschenrechte, der persönlichen Freiheiten, der Singularitäten in einigen großen Blöcken, großen Glaubensvorstellungen, heiligen Ursprüngen und so weiter auflösen. Es mag eine Krise der Demokratie geben. Aber über all dem liegt mit Sicherheit ein Hauch des Nihilismus, der mich wirklich peinlich berührt, wenn ich Ihre Konservative Revolution und all Ihre Werke über Eurasien seit Beginn der 90er Jahre lese.

Dugin: Interessant. Wenn sie eine Art Identität zwischen dem Nihilismus und der Zurückweisung der westlichen Interpretation der Menschenrechte, Freiheit und liberaler Demokratie vorschlagen, dann stimme ich in diesem Sinne zu. Ich bin dagegen, weil das für mich keine universalen Werte sind. Ich denke, dass sich die Demokratie und der Inhalt der Demokratie im Wandel befinden. Ich habe einmal mit Fukuyama gesprochen und er definiert das moderne Verständnis von liberaler Demokratie als Herrschaft der Minderheiten gegen die Mehrheiten, weil sich die Mehrheit immer in eine Form des Populismus, Faschismus und Kommunismus verwandeln kann. Ich denke, dass wir es hier mit einer komplett neuen Idee zu tun haben. Und ich teile dieses neue Verständnis der liberalen Demokratie, ich stelle in Frage, dass das Subjekt der Freiheit das Individuum sein soll – und eben dieses stellt die Essenz und Achse der Menschenrechtsideologie dar. Ich betrachte die Identität des Menschen, der menschlichen Kultur, der Gesellschaft nicht als Etwas auf die Individualität reduzierbares. Zum Beispiel ist in unserer russischen Tradition das Subjekt der Freiheit oder das menschliche Subjekt nicht das Individuum, sondern das Kollektiv. Und das war in der Zeit der Zaren, das wurde durch die Kirche definiert und danach durch den Kommunismus. Aber die kollektive Identität war immer dominant in unserer Kultur, genauso wie in der chinesischen Kultur, in der indischen Kultur und bis zu einem gewissen Punkt in der islamischen Kultur. Ich denke, dass ich in dem Sinne ein Nihilist bin, als dass ich die Universalität der westlichen Werte ablehne. Ich glaube nicht, dass sie universell sind. Ich glaube, dass sie westlich und modern sind. Ich denke, dass der Westen noch immer sehr stark ist und diese Konzepte mit aller Macht verteidigt. Aber ich stelle die Vorstellung in Frage, dass man die Demokratie nur als eine Herrschaft der Minderheiten gegen die Mehrheiten interpretieren kann und dass man die Freiheit nur als individuelle Freiheit interpretieren kann und die Menschenrechte nur als Projektion einer modernen, westlichen, individualistischen Version dessen was menschlich an anderen Kulturen sein soll zu interpretieren sind.

Lévy: Sie kennen Ihre Tradition, die russische Tradition, besser als ich es tue. Aber ich kenne mich mit Russland gut genug aus, um zu wissen, dass das was Sie über den Platz der Subjektivität in der russischen Tradition sagen nicht wahr ist. Es gibt auch die Tradition von Herzen, Pushkin, Turgenevs und zu einem Teil auch von Sacharow; die ganze glorreiche Tradition der Dissidenten, welche den Totalitarismus in der Sowjetunion bekämpften und diese im Namen der Individualität, der Rechte des Subjektes und der Menschenrechte befehdeten. Und Sie können über dieses Element nicht sagen, dass es kein Teil der russischen Tradition ist. Und nochmals, ich habe einen großen Teil meines Lebens in den Dienst der Verteidigung Russlands gegen Sklaverei, Totalitarismus und vielem mehr gestellt, dass ich dazu autorisiert bin, das zu sagen. Was ist also Demokratie? Ich war bei Ihrer Debatte mit Fukuyama nicht anwesend. Aber ich selbst würde sagen, dass die Demokratie ein komplexes Konzept und ein komplexer Prozess ist. Sie ist sowohl die Herrschaft der Mehrheit als auch die Herrschaft der Minderheit. Sie ist die Herrschaft des Volkes und die Herrschaft des Parlaments. Sie stellt eine sehr komplexe Architektur dar, die sich mit der Zeit entwickelt, sich selbst bereichert und der Unterschied zwischen der Demokratie und allen Arten des Totalitarismus, einschließlich jenen von Putin heute in Russland, ist, dass die Demokratie immer offen ist, immer offen ist für Wandel, immer offen ist für Fortschritt, immer offen ist für Bereicherungen, Rückzüge und all dem. Zum Nihilismus: Sie sprechen von Nietzsche, aber die beste Definition des Nihilismus ist eine andere, lassen Sie uns ernst bleiben! Wir halten es in unserer Erinnerung. Es ist Russland, mit seinen 24 Millionen Toten während des Großen Vaterländischen Krieges. Es ist Europa, das durch den Nazismus besetzt wurde. Und es sind die Juden, mein Volk, das beinahe ausgelöscht, bis zum Nichts reduziert wurde von den schrecklichsten Nihilisten aller Zeiten. Ja, es gibt eine wahre Definition des Nihilismus, welche lautet: Jene, welche diese Verbrechen begangen haben. Und diese Menschen, diese Nazis die das getan haben, sind nicht vom Himmel gefallen. Sie entstanden aus Ideologen. Aus Carl Schmitt. Aus Spengler. Aus Steward Chamberlain. Aus Karl Haushofer. Alles Menschen bei denen es mir leid tut zu sehen, dass Sie sie mögen und zitieren und dass Sie ihre Worte als Inspiration heranziehen. Für mich aber, wenn ich sage, dass Sie ein Nihilist sind, wenn ich sage, dass Putin ein Nihilist ist, wenn ich sage, dass in Moskau eine morbide Atmosphäre des Nihilismus herrscht, welche übrigens auch zu echten Toten führt – Anna Polikovskaya, Boris Nemtsov und so viele andere, die in Moskau oder London getötet wurden – dann meine ich das so. Und ich meine, dass das leider auf diese große Russische Zivilisation von heute zutrifft, dort weht ein dunkler Wind des Nihilismus im eigentlichen Sinne, also ein nazistischer und faschistischer.

Dugin: Ich stimme zu; ich denke, dass das Phänomen des Faschismus und Nationalsozialismus, ein nihilistisches ist und ich verteidige es nicht, da es ein modernes Phänomen ist. In meinen Augen ist die gesamte Moderne reiner Nihilismus. Liberalismus ist Nihilismus, Kommunismus ist Nihilismus und der Faschismus ebenso. Und ich denke, wir stimmen auch überein, was die Verbrechen angeht, die von Hitler begangen wurden, weil auch mein Volk sehr unter ihnen gelitten hat. Wir haben viele, viele Millionen Menschen verloren, die umgebracht wurden, weil sie Slawen waren, im selben Ausmaß wie die Juden. Unser Volk, das sowjetische Volk, das russische Volk focht in diesem Patriotischen Krieg, um den Faschismus in Europa aufzuhalten, aber auch in Russland und um alle Menschen zu retten, die unter dieser Situation litten. Und ich verurteile alle Arten von Rassismus aufs Schärfste. Daher finde ich etwas interessantes in Heidegger und Schmitt, an der Konservativen Revolution in Deutschland; es sind dies bestimmte Aspekte des politischen Realismus oder des geopolitischen Denkens oder des Traditionalismus und seiner Kritik der Moderne, welche der konservativen Bewegung eigentümlich war, aber nicht der Rassismus. Ich wäre frech genug es zuzugeben, wenn ich Faschismus oder Rassismus propagieren würde – ich tätige viele freche und dreiste Aussagen, dafür werde ich verurteilt, ich bin gegen den Liberalismus, gegen den Individualismus, gegen die Menschenrechte als Ideologie, aber ich bin auch gegen Rassismus. Und das ist offensichtlich. Ich muss mich da nicht verteidigen. Denn der Rassismus ist eine angelsächsisch-liberale Konstruktion, die auf einer Hierarchie zwischen den Völkern aufbaut. Ich denke, dass das kriminell ist. Und ich denke, dass jetzt der Globalismus dasselbe Verbrechen wiederholt, weil die Globalisten, die Liberalen, wie Sie und Menschen die Ihre Ideen unterstützen, diese Ideen versuchen als universelle Werte umzusetzen, aber diese Werte nichts anderes als einfach moderne, westliche, liberale Werte sind – und damit nicht universell. Und das ist eine neue Art von Rassismus, ein kultureller und zivilisatorischer Rassismus. Sie sagen: Jeder der die Offene Gesellschaft annimmt gehört zu den Guten. All jene, welche die Offene Gesellschaft in Frage stellen sind – wie es Popper im Untertitel seines Buches sagt – Feinde der Offenen Gesellschaft. Es gibt hier also eine manichäische Teilung, einen neuen Rassismus. Jene die für die westlichen Werte sind, sind gut. Jeder der sie in Frage stellt, egal ob in der islamischen Tradition, der russischen Tradition, der chinesischen Tradition, der indischen Tradition, überall, wird als Populist oder Faschist klassifiziert. Ich denke, dass dies eine neue Form von Rassismus ist.

Lévy: Es gibt zwischen uns wirklich drei große Punkte, in denen wir uns uneinig sind. Erstens haben Sie eine beschränkte Vorstellung von Globalisierung, wenn Sie über diese sprechen. Es gibt natürlich eine schlechte Globalisierung, welche eine Uniformisierung der Welt bedeutet. Aber die Globalisierung, so wie sie ich und viele westliche Denker begreifen, bedeutet nicht Vereinheitlichung, sondern eine Offenheit für das Andere, Brücken zwischen Zivilisationen, eine Verbindung zwischen den Kulturen, den Import und Export von Wörtern, Theoremen und so weiter. Auch das kann Globalisierung bedeuten. Und glauben Sie mir, im Westen gibt es viele die dafür kämpfen. Zweitens. Wenn Sie sagen, dass sie glauben, das universelle Werte eine neue Form des Totalitarismus sind und so weiter, dann tut es mir leid, aber das ist einfach kurzsichtig. Der springende Punkt ist, dass es in jeder Zivilisation großartige Dinge gibt, welche von ihr erfunden wurden. Ihre Zivilisation, die Russische, welcher ich großen Respekt erweise, erfand beispielsweise durch Alexander Solschenizyn die Idee des Kampfes gegen den Totalitarismus. Es ist gigantisch was Solschenizyn tat und niemand wird diese Größe der russischen Kultur nehmen können. So viele westliche Denker versuchten die Freiheit gegen den Totalitarismus zu denken, was das sein soll, wie sie gegen den Totalitarismus kämpfen sollten, was ein Konzentrationslager ist und so weiter. Es war die Leistung eines russischen Mannes das Meisterstück Archipel Gulag zu schreiben. Nichts und niemand kann das der russischen Zivilisation absprechen. Ebenso hat aber auch Europa ein paar Dinge eingeführt, welche ein Gewinn für die ganze Menschheit sind. Zum Beispiel gleiche Rechte für Frauen und Männer. Zum Beispiel das Recht weder gefoltert noch in Ketten gelegt oder versklavt zu werden. Dieses Recht ist universal. Es ist ein Fortschritt, eine Verbesserung, wenn sie korrekt angewendet wird, für das gesamte Universum. Aber es ist eine Tatsache, dass all dies erfunden und produziert wurde von einer Philosophie, die man Aufklärung nennt und deren Geburtsort Europa war. Die Idee ist also nicht dieses Muster anderen aufzuzwingen. Man muss aus jeder Zivilisation das Gute entnehmen, welches sie für den Rest der Menschheit erfunden hat. Und eines dieser Güter, in Europa, ist die Zivilisation der Menschenrechte, der Freiheit, der individuellen Würde und so weiter. All dies verdient es universalisiert zu werden. Dies sollte man als profitabel für die ganze Menschheit erachten, außer man ist Rassist. Also, sind Sie, sind Sie Herr Dugin, ein Rassist? Ich bin glücklich darüber, dass Sie vortäuschen kein Rassist zu sein. Aber ich glaube nicht daran, dass Sie dabei ehrlich sind. Ich las vor ein paar Tagen ein Buch von Ihnen namens „Die Konservative Revolution“. Seite 256. Dort sprachen sie über die Juden. Ich bin nicht nur besorgt über die Juden, ich bin besorgt über alles – aber das war über Juden. Und Sie sprechen, auf dieser Seite, über die metaphysische Rivalität und den Krieg zwischen Ariern und Juden. Und Sie sagen, dass das eine Herausforderung ist, dass das eine Debatte ist, nicht nur in diesem Jahrhundert, sondern für alle Zeit. Damit sind Sie ganz klar ein Antisemit. Und ich bin nicht überrascht, weil all die Männer, die sie zitieren und von welchen Sie Ihre Inspiration ziehen – Spengler, Heidegger, welche natürlich auch große Philosophen sind und andere – kontaminiert, korrumpiert und infiziert sind mit der Seuche des Antisemitismus. Und ja leider, sie auch. Und in Ihren Debatten mit Alain de Benoist in Frankreich mit Ihren Verbindungen zu Alain Soral, der ein Vorwort zu einem Ihrer Bücher schrieb und der einer der Führer des französischen Antisemitismus ist – all das spricht für sich. Wie können Sie also sagen, dass Rassismus für sie etwas Fremdes ist?

Dugin: Er ist mir absolut fremd. Ich denke, dass die Menschen ihre Engel und Archetypen haben. Völker sind nicht nur kollektive Körper, welche physisch präsent sind, sondern Völker haben auch eine Seele. Und da gibt es die Seele des jüdischen Volkes, die ich bewundere und respektiere. Ich habe viele Freunde in Israel, in den traditionalistischen Zirkeln Israels, die meine Meinung teilen. Sie sind Juden, die an Gott glauben. Im Gegensatz zu Ihnen, Sie definieren sich als Jude der nicht an den jüdischen Gott glaubt. Für meine Freunde wäre dies absolut antisemitisch, weil die Juden das Volk Gottes sind und das ihre Essenz ist. Ohne Gott verlieren die Juden also ihre Essenz, ihre religiöse Mission, ihren Platz in der Geschichte. Was wichtig ist, dass es Unterschiede zwischen den Völkern gibt und ich bestehe auf dem Unterschied zwischen den Seelen der Völker, zwischen den Engeln der Völker. Aber ich bin gegen jede Art der Hierarchie oder des Rassismus. Ich sage nicht, dass die indoeuropäische oder griechische, europäische oder deutsche, indische oder iranische Zivilisation besser ist, dass die islamische oder jüdische Tradition besser ist – ich denke, dass sie anders sind.

Und was den Prozess der Globalisierung angeht, den Sie beschrieben haben. Wenn es so wäre, wie sie gesagt haben, hätte ich nichts dagegen. Wenn es einen Dialog gäbe, an dem jeder teilnimmt – Christen, Muslime, Chinesen – in welchem diese die Gesamtheit ihrer Werte verteidigen, wenn die Globalisierung ein offener und gerechter und wirklich demokratischer Dialog wäre, um das Beste in all diesen Zivilisationen zu finden, denke ich, hätte niemand etwas dagegen. Zumindest würde ich mich dem nicht entgegenstellen. Aber heute besteht all dies in der westlichen Projektion westlicher Ideen darüber was gut und was schlecht ist als universale Werte. Kapitalismus, Marktwirtschaft, Menschenrechtsideologie, individuelle Freiheit, Hedonismus, Technokratie. All diese Elemente der westlichen historischen und sozialen Erfahrung werden auf eine globale Ebene projiziert und das nennt man Universalismus. Dagegen bin ich.
Betreffend Solschenizyn bin ich auch einer seiner Anhänger, weil er ein Slawophiler war. Und er kämpfte gegen den kommunistischen Autoritarismus, genau weil er sich für das russische Volk als kollektive Identität einsetzte. Ich bin gegen den sowjetischen Totalitarismus, ich verteidige nicht den Kommunismus. Ich war ein Dissident in den Achtzigern. Aber genauso wie Solschenizyn war ich kein liberaler Dissident – ich war antiliberal, genau wie Solschenizyn.  Sie erwähnten auch Herzen. Sie nannten auch einige Namen aus der russischen Geschichte. Die meisten von ihnen waren Westler. Sie waren im ethnischen oder kulturellen Sinne Russen, jedoch nicht im ideologischen, da diese nicht unserer Tradition folgten. Unsere Tradition basiert auf einer völlig unterschiedlichen Anthropologie und Ontologie. Und interessanterweise wandte sich ja gerade Herzen, welcher in seinen Ansichten ein Westler war als er emigrierte, später zu sehr nationalistischen Positionen zu. Turgenev tat das nicht, aber Herzen. Der Anführer der russischen Westler erfuhr also in der Emigration die westliche Kultur am eigenen Leib und kehrte daraufhin, wie viele unserer Dissidenten, die aus dem Westen zurückkehrten, schließlich zu überaus nationalistischen Ideen zurück. Ich denke also, dass wir diese Identitäten – die jüdische, semitische, islamische, russische, europäische – in ihren unterschiedlichen Formen sorgsam erhalten und versuchen sollten den Nexus zwischen ihnen zu finden. Und diese vereinfachte Auffassung von Totalitarismus versus Demokratie hinter uns lassen. Hannah Arendt, die ich ebenfalls bewundere, sagte, dass der Totalitarismus ein modernes Phänomen und kein traditionelles ist. Wenn wir also Demokratie und Liberalismus zum faschistischen oder kommunistischen Totalitarismus in Opposition setzen, ist das eine banale Simplifizierung. Ich denke, dass wir nun anfangen sollten uns etwas anderes auszudenken, etwas das über die Moderne hinausreicht und das heißt über jene drei politischen Theorien – Liberalismus, Kommunismus und Faschismus –, die überwunden werden müssen, hinaus. Es gibt beispielsweise interessante Aspekte bei manchen kommunistischen Denkern wie Gramsci, oder manch französischen Kommunisten, wie Bataille oder Debord. Es gibt so viele interessante Denker – wir sollten uns hüten einen Bataille einfach mit dem Gulag zu verbinden oder Heidegger mit Ausschwitz oder zu behaupten, dass alle Liberalen Hiroshima bombardierende Kriminelle seien. Wir sollten versuchen entweder einzelne gesunde, vitale Aspekte in all diesen Traditionen zu finden oder sie zu überwinden.

Lévy: Was den Judaismus betrifft, müssen Sie ihren Wissensstand revidieren; das ist ein klein wenig komplizierter. Jude zu sein bedeutet natürlich eine Beziehung zu Gott zu haben. Aber dabei handelt es sich um eine Beziehung, welche mehr auf Studium fußt, denn auf einem Glaubensbekenntnis. Im Übrigen ist genau dies der zentrale Unterschied zum Christentum.
Was Herzen betrifft, und was Sie nicht zu verstehen scheinen, ist der Umstand, der seine Größe ausmachte, nämlich die Fähigkeit zurück und auch nach vorn zu gehen. Um die westliche Tradition mit der russischen zu bereichern und umgekehrt. Das war die Größe von Herzen, von Pushkin, von allen Anti-Eurasiern, den pro-europäischen Russen des 19. und 20. Jh. Zum Beispiel stand Sacharow, einer der größten Helden des 20. Jh. in meinen Augen, mit einem Fuß in Russland und mit dem anderen im Liberalismus und der Demokratie. Er glaubte an Beides und er widmete sein ganzes Leben der Aufgabe beide zu verbinden. Und was ich fürchte, wenn ich Sie lese und alle jene Autoren der Eurasischen Strömung – welchen man schließlich unterstellt einen gewissen Einfluss auf Putin zu haben – und was ich als derart morbid empfinde, so nach Tod und Nihilismus stinkend, ist der Umstand diese Zivilisationen als Blöcke zu konzipieren. Sie sagen, Sie respektieren den Islam, Sie respektieren die japanische Zivilisation, die türkische Zivilisation und vielleicht auch die Juden. Jedoch unter zwei Bedingungen, nämlich, dass jeder an seinem Platz bleibt und dass so wenig untereinander kommuniziert wird, wie möglich. Und das ist ein Kultur- oder Zivilisationskonzept, das in Blöcken denkt, die in sich geschlossen sind. Das teilen Sie übrigens mit einem amerikanischen Denker, den Sie gut kennen, und den Sie vor Guy Debord erwähnt hätten sollen: Samuel Huntington. Seine Idee des Kampfes der Kulturen stimmt mit jenen Konzepten der Denker überein, die Sie zurzeit in Russland repräsentieren, mit dieser Idee der geschlossenen Blöcke, die sich buchstäblich miteinander im Krieg befinden. Wenn wir uns heutzutage Wladimir Putin ansehen, wenn wir uns ansehen was er sagt, wenn er über Europa spricht, wenn er über Amerika spricht, was er über die Menschenrechte sagt und so weiter; wenn er zur Ukraine spricht – wenn er die Ukraine an der Krim bedroht, ist das ein Kriegsdiskurs. Eine Philosophie des Krieges also, eine Philosophie, die Zivilisationen als holistische Blöcke begreift, die sich im Krieg befinden, diese Philosophie evoziert als natürliches Ergebnis eine Kriegspraxis, die heute von Putin auch durchgesetzt wird. Und das meine ich so. Ich bin überzeugt, dass es eine Verbindung gibt von Ihrer und Huntingtons Weise zu denken auf der einen Seite und der Besetzung der Krim, der 30.000 Toten in der Ukraine und dem Krieg in Syrien, mit seinen tragischen und grauenhaften Blutbädern, auf der anderen.

Dugin: Da stimme ich zu. Ich schätze Huntington sehr, ich denke, seine Vision ist viel korrekter als jene Fukuyamas in Bezug auf den Liberalismus. Nämlich, dass Zivilisationen existieren und speziell nach dem Fall dieser beiden ideologischen Lager, im Kampf des Kommunismus gegen den Kapitalismus, werden Zivilisationen eine entscheidende Rolle in der Geschichte spielen. Ich stimme auch zu, dass sich Huntington einer vereinfachten Sichtweise von Zivilisation bedient. Ich habe meine letzten 24 Bücher dem Studium der Zivilisationen gewidmet und versucht, die Unterschiede zwischen ihnen zu finden. Ich versuche sie zu beschreiben.

Lévy: Ich spreche nicht von Unterschieden, ich spreche von Brücken. Unterschiede, die wir alle kennen, ja. Aber haben Sie so viele Bücher der Suche nach Brücken und Verbindungen gewidmet?

Dugin: Wenn wir versuchen, zu früh Brücken zu bauen, ohne die Struktur des Anderen zu kennen, wird der Andere zum Problem. Der Westen versteht den Anderen nicht als etwas Positives. Es ist alles gleich und wir versuchen sofort Brücken zu finden – dabei handelt es sich aber um Illusionen und nicht um Brücken, weil wir uns selbst auf andere projizieren. Der Andere ist derselbe, die Ideologie des Gleichen. Wir müssen zuerst das Anderssein verstehen. Ich habe 24 Bücher geschrieben, die sich dem Verständnis anderer, dem Verständnis des Westens, des islamischen, jüdischen, europäischen und russischen Denkens widmen als eben diesen und nicht als etwas, das bereits bekannt ist.
Ich denke, das bislang Zivilisationen eigentlich unbekannt waren, sie sind bislang unbekannte Akteure, die erst seit kurzem im Entstehen begriffen sind und wir sollten sie zunächst sorgfältig studieren und dann können wir Brücken bilden.

Lévy: Kommen Sie häufig in die Vereinigten Staaten?

Dugin: Hin und wieder – zurzeit stehe ich jedoch auf der Sanktionsliste.

Lévy: Ich hoffe, Sie dürfen zurückkehren – Sie werden feststellen, dass an den amerikanischen Universitäten nichts aktiver ist als diese Fakultäten zum Studium des Andersseins. Amerika hat viele Mängel, viele Probleme, aber eines der guten Dinge an Amerika heute – seit langem, aber heute mehr denn je – ist diese Aufmerksamkeit für das Anderssein, dieser sehr aufschlussreiche Blick in den Körper und die Seele von fremden Kulturen. Sie können sich nicht vorstellen, wie lebendig und offen die amerikanischen Universitäten sind. Und manchmal auch die französischen Universitäten. Natürlich kann diese Aufmerksamkeit für das Anderssein auch eine Schattenseite haben, und manchmal ist dies eine hartnäckige politische Korrektheit. Aber eines kann man nicht leugnen: das Wissen um das Anderssein, das wir im Westen haben. Nicht genug! Das Öffnen unserer Arme, unseres Herzens kann immer verbessert werden – aber wir tun es wenigstens! Jetzt haben Sie gesagt, dass ich recht habe – ok, dann eine Frage: Was halten Sie von der Aggression Ihres Landes gegen die Krim? Als Frankreich Algerien angriff, war ich noch ein Junge, ich war vierzehn Jahre alt, aber ich war auf der Straße. Als Amerika Vietnam angriff, demonstrierte ich. Was halten Sie heute von der Besetzung der Krim? Und was halten Sie von der Aggression gegen die Ostukraine durch Paramilitärs oder das Militär Ihres Landes?

Dugin: In Ihrem Buch sagen Sie, dass Sie bedauern, dass Sie gegen die Amerikaner demonstriert haben. So können wir also unsere Meinung ändern. Jetzt verteidigen Sie das amerikanische Empire, das liberale Weltreich. Das ist Ihre Entscheidung, die ich respektiere. Ich verteidige die eurasische Zivilisation, nicht Russland als Land – ich bin nicht so sehr Patriot der Russischen Föderation und von allem, was unsere Regierungen tut. Ich unterstütze das alles nicht automatisch. Meiner Meinung nach ist die Ukraine ein Land mit zwei Völkern und zwei Zivilisationen, die sich ethnisch sehr nahestehen. Die Ukraine ist ein Teil und die Wiege der russischen Zivilisation. In gewisser Weise sind die Ukrainer in mehr direkter Linie unsere Vorfahren, sie sind reine Russen, reinere Russen als wir, weil sie immer noch in der Wiege unserer Tradition leben und wir hingegen in den Osten ausgewandert sind. Historisch gesehen wurde die Ukraine also durch zwei Aggressionstendenzen des russischen Reiches geschaffen: die Aggression gegen die Türkei auf der einen Seite, weil Neurussland aus türkischen Gebieten und der Krim und der heutigen Ostukraine bestand, und auf der anderen Seite der Teil der aus Polen genommen wurde, das von westlichen Russen besiedelt war, sogenannten Ukrainern. So hat Russland historisch durch Aggression gegen Nachbarländer die Ukraine geschaffen. Und das letzte Stück wurde von Stalin hinzugefügt, welches früher zur österreichisch-ungarischen Donaumonarchie gehörte: Lemberg oder Lwów.
So gesehen ist die Ukraine eine zusammengesetzte Entität, die nach dem Fall der Sowjetunion entstand. Und es gab die Möglichkeit, eine ukrainische Identität zu schaffen, wie es zum Beispiel die belgische Identität gibt, bei der zwei Völker in einem Land leben und sich gegenseitig tolerieren und respektieren. Es gibt zwei Völker, und wenn die Wallonen zum Beispiel sagen wollten, dass die Flamen aufgrund ihrer germanischen Herkunft nur zweitrangige Staatsbürger seien, dann wäre das genau das Gleiche wie es in der Ukraine geschah. Der neugeborene Staat, der historisch gar nicht existierte, hatte die Möglichkeit, eine nationale Struktur zu schaffen, die sowohl die dort lebenden Völker in der Ostukraine als auch in der Westukraine respektiert und zwischen ihnen ein Gleichgewicht findet. Ich habe das unterstützt, und es gibt andere – auch in der Westukraine – die diese Ansicht teilen. Aber schließlich war politisch nur der westliche Teil am Maidan vertreten, wo Sie versuchten, sie dazu zu bewegen, Russland loszuwerden, und der westliche Teil unterwarf den anderen Teil. Russland intervenierte, um diesen Teil der Ukraine zu retten. Danach haben wir einen Fehler begangen, wie ich denke. Wir hätten die Ostukraine mit der Krim befreien sollen, und wir hätten vorschlagen sollen, die Ukraine als eine unabhängige Brücke zwischen uns und Europa, auf der Grundlage der Achtung beider Identitäten wiederherzustellen. Das war der Fehler, dass wir nur die Krim und den Donbass eingenommen haben. Wir hätten die Ukraine als Ganzes restaurieren und aufbauen sollen.

Lévy: Momentan wurde nur eine Brücke gebaut, nämlich die zwischen der Krim und Russland. Im Moment ist das einzige Gebäude, das gebaut wurde, ein riesiger russischer Militärstützpunkt in Sebastopol, der sich gegen Feinde richtet, wie ich annehme, und ich habe in den letzten Jahren in den Reden Putins oder anderer keine Tendenz zum Wiederaufbau eines binationalen, großen Staates Ukraine gesehen. Ich sehe eine reine und krasse Aggression und einen Verstoß gegen internationales Recht. Ich sehe den Versuch, die Geschichte neu zu schreiben und zu revidieren. Wenn ich Sie richtig verstehe, verfolgen Sie dies gerade heute. Wenn Sie sagen, dass die Ukraine ein neuer Staat ist, so habe ich das verstanden – aber wie können Sie das behaupten? Die Ukraine existierte vor Russland.

Dugin: Ja, das ist landläufig unsere Geschichte.

Lévy: Prinz Volodymyr, der getauft und der Ursprung der Christianisierung der modernen Ukraine und des modernen Russlands wurde, war ein Prinz von Kiew, nicht von Moskau. Die Ukraine ist also ein altes Land, älter als Russland. Dies ist die Wahrheit, die revisionistische Historiker im Kreml und seiner Umgebung zu revidieren versuchen.

Dugin: Es ist Russland.

Lévy: Sie können, wenn Sie möchten Ihre „alternative Wahrheit“ auswählen, wie Herr Trump. Aber leider liegen die Fakten vor. Die Ukraine ist eine alte Nation. Die Krim auch. Und die Krim geriet nur wegen eines späten Kolonialprozesses unter russische Herrschaft. Wie auch immer – die Diskussionen zu diesem Thema sind so endlos, dass wir, Herr Dugin, zum Besten nur eines tun können, nämlich die internationalen Gesetze einzuhalten, die uns daran hindern sollten, in eine weitere Katastrophe zu geraten, wie beispielsweise jene, die Ihrem Volk 24 Millionen Tote gekostet hat – 24 Millionen tapfere Soldaten und Zivilisten, die von Hitler getötet wurden und Europa in den Ruin getrieben haben.
Es gibt eine Sicherheitsarchitektur, die nach dem Kalten Krieg in Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russland errichtet wurde, und wir müssen das Beste für unsere Kinder tun und diese unvollkommene, aber entscheidende Sicherheitsarchitektur aufrecht erhalten und sie retten. Und was Putin auf der Krim getan hat, was er gerade in der Ostukraine tut, was er tut, wenn er in Syrien mit Feuer, Massakern und Blutbädern spielt, widerspricht den Interessen unserer Kinder und Enkelkinder.

Dugin: Das glaube ich nicht. Ich stimme dem Grundsatz zu, dass wir internationales Recht in einem gewissen Maße benötigen. Aber das Gesetz spiegelt allein den Status Quo, das Kräfteverhältnis, wider. Das Recht ist niemals vollständig abstrakt. Zum Beispiel wird Recht nach einem Sieg festgelegt – als der Westen und die Sowjetunion gemeinsam Hitler besiegten, haben wir unser internationales Recht festgelegt. Als der Kommunismus zusammenbrach und die Sowjetunion kollabierte, wurde versucht, auf der Grundlage des Sieges im Kalten Krieg ein westlich ausgerichtetes Gesetz zu schaffen. Und jetzt, wo dieses Gesetz, dieses internationale Kräfteverhältnis im Verfall ist, fordern wir es heraus und versuchen, eine neue internationale Architektur zu schaffen, die auch die Zivilisationen respektieren würde. Ich denke, wir kommen zum Ende des unipolaren Weltsystems, auf Grundlage dieses ideologischen und geopolitischen Sieges, weil das Ende des unipolaren Moments gerade passiert, wie Charles Krauthammer gesagt hat. Zivilisationen tauchen wieder auf. Und wir können dieses Entstehen von Zivilisationen nicht im Sinne der alten Form des westfälischen Nationalstaats verstehen. Heute müssen wir es multipolar überarbeiten, um den Anderen zu respektieren, den Anderen zu akzeptieren und das nicht lediglich in kultureller Hinsicht.
In Bezug auf die amerikanischen Universitäten stimme ich Ihnen zu, da ich die Tradition von Franz Boas in der Anthropologie bewundere und jene von Claude Lévi-Strauss. Sie sind meine Lehrer. Dieser anthropologische Pluralismus, da stimme ich Ihnen zu, entspricht genau der amerikanischen und französischen Tradition. Aber er spiegelt sich nicht in der Politik wider, oder wenn dann nur in einer sehr pervertierten Weise. Ich denke, es gibt einen großen Widerspruch zwischen diesem anthropologischen Zugang an amerikanischen und französischen Universitäten und der sehr aggressiven, kolonialistischen Form des Neoimperialismus, um die amerikanischen Interessen im Weltmaßstab mit Waffen zu fördern. Ich kann beispielsweise nicht nur Putin die Schuld für Syrien geben. Ihre Leute waren ebenso in der Libyenkrise aktiv, die das libysche Volk einen hohen Blutzoll kostete. Sie selbst schlugen vor, Assad zu stürzen, und das heißt die eine Seite gegen die andere in diesem Bürgerkrieg zu unterstützen. Ich denke also, dass wir in dieser Situation nicht nur Putin beschuldigen können. Das ist ein falsches Bild; Putin reagierte, Putin versuchte in dieser Situation die russische und aber auch die chinesische Stimme zu stärken. Das sind fünf Könige gegen das Empire – Sie sind auf der Seite des Empires, also beschuldigen Sie die fünf Könige aller Verbrechen. Wir sind diese fünf Könige.

Lévy: Ich bin auf der Seite von Solschenizyn, ich bin auf der Seite von Bukowski, ich bin auf der Seite von Anna Politkowskaja, ich bin auf der Seite von Leonid Plyuschtsch, ich bin auf der Seite von so vielen Toten und noch lebenden russischen Freunden. Die große Meinungsverschiedenheit zwischen uns – und hier kommen wir zum entscheidenden Punkt und zum Ende – ist die folgende: Erstens ist Multipolarismus nichts Neues. Es hat immer Multipolarität gegeben. Und vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es einen echten Multipolarismus zwischen Amerika, Russland und China – es ist also keine so neue Sache. Zweitens, Sie sagen, jeder sollte den anderen respektieren und sich nicht in den Prozess der Zivilisation des anderen einmischen. Wenn Sie die heutige Situation ehrlich betrachten, ist derjenige, der sich einmischt, der wirklich versucht, den anderen zu destabilisieren, nicht Trump, der Russland destabilisiert, sondern Putin, der Amerika und Europa destabilisiert. Das sind Tatsachen und sie sind überprüfbar. In Europa gibt es keine rechtsextreme und neofaschistische Partei, die zumindest nicht von Russland gesegnet und bestenfalls finanziert wird. In Europa gibt es keine Krise, die Russland nicht fördert. Sie können die Anzahl der Verletzungen des Luftraums von Polen, Litauen und manchmal auch Frankreich durch russische Flugzeuge in den Jahren 2014 und 2015 gar nicht mehr zählen. Sie erinnern sich sicherlich, wie ich auch, an die 2014 und 2015 gegebene kleine Erklärung von Putin – der ein guter Schachspieler ist –, dass man die Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten erneut überprüfen sollte. Der wirkliche Imperialismus, der wirkliche, der die Ordnung stört und Unruhe sät und sich in die Angelegenheiten anderer einmischt, ist heute leider Putin. Und ich muss nicht über Amerika sprechen, wo jetzt bewiesen ist, dass es eine riesige, grobe und offensichtlich russische Einmischung in den Wahlprozess der letzten Wahlen gegeben hat.
Und noch eine letzte Bemerkung. Syrien, Libyen – das sind keine Bürgerkriege. Sie sind Kriege gegen die Zivilbevölkerung. Der Krieg eines Staates und seiner Armee gegen die Zivilbevölkerung. Es ist wahr, dass es Menschen im Westen gibt, wie ich, und in Russland und auch in der Ukraine, die sich für die Zivilbevölkerung in Libyen einsetzen, um ein Blutbad zu verhindern. Um zu verhindern, was in Syrien geschah, mit 400.000 Toten, 3 Millionen Vertriebenen und so weiter ist. Das ist wahr. Sie sprechen von ‘Bächen aus Blut’. Aber ist Ihnen klar, dass dies die tatsächlichen Worte sind, die von Gaddafis Sohn verwendet wurden, als er die Drohung gegen sein Volk aussprach? Jedenfalls sind dies die Flüsse, die der Westen zu bluten verhinderte. Das ist das Gute, was der Westen in Libyen getan hat. Und diese humanitären Bemühungen des Westens, die Bevölkerung vor der Barbarei ihres eigenen Staates zu retten, können nicht mit dem verglichen werden, was ein großer Staat, Russland, mit seinen großen Flugzeugen tut, mit dem Gas von Bashar Al-Assad, das den Angriffskrieg von einem Schlächter nähren soll, der sich nicht um unsere Diskussion über Zivilisationen, Brücken, Blöcke usw. kümmert, der nur ein Henker ist, der heute von Ihrem Präsidenten und vom Iran unterstützt wird.

Dugin: Ich denke, es gibt hier so viele Übertreibungen und rhetorische Figuren, dass ich nicht geneigt bin darauf zu antworten, aber nicht, weil ich dazu keine Antworten hätte. Aber nehmen wir das Beispiel zur Intervention. Auf der einen Seite wurde nachgewiesen, dass es keine Intervention zugunsten von Trump gab – es gab aber eine Intervention zugunsten von Hillary durch einige russische Oligarchen. Gleiches gilt für die Finanzierung von Rechtsaußen Bewegungen in Europa. Es gibt viele Gerüchte über russische Interventionen, am absurdesten über Interventionen in der Krise in Katalonien – aber keine Beweise! Was aber trotzdem interessant ist – ich möchte nicht über die Fakten sprechen– ist…

Lévy: Worüber möchten Sie dann sprechen, wenn nicht über die Fakten?

Dugin: Fakten – vom Latein „facere“, „zu machen“ – sind etwas, was getan wurde, sie sind eine Konstruktion. Wer die Medien kontrolliert, wie Guy Debord gesagt hat, kontrolliert die Fakten.
Lévy: Hören Sie auf zu vereinfachen! Guy Debord, der ein guter und brillanter Schriftsteller war, hat nämlich noch nie so etwas Vereinfachtes gesagt! Vor allem Leser und Journalisten kontrollieren die Medien. Medieninhaber kontrollieren sie in gewissem Umfang auch. Aber meistens Leser und Journalisten. Zumindest im Westen. Und lassen Sie mich Ihnen etwas sagen: Dies ist einer der unbestreitbaren Vorteile des Westens. Wir haben heute in Frankreich eine Diskussion über Le Monde, die größte Zeitung. Es gibt ein Projekt der Eigentümer von Le Monde, ihre Anteile an eine Stiftung zu übertragen, die dem öffentlichen Interesse gehört. Le Monde wird also seinen Lesern und Journalisten gehören!

Dugin: Ich spreche nicht über den Eigentümer, ich spreche über die Epistemologie – über den, der die Wahrnehmung kontrolliert. Die Massenmedien zum Beispiel, Régis Debray sagte das als er Berater von Mitterrand war; er konnte den Plan den Präsidenten zu unterstützen nicht verwirklichen, weil ein gewisser Widerstand, aus dem Nichts gekommen wäre. Es gibt also ein epistemologisches Kontrollzentrum, das nicht die Eigentümer der Medien sind.

Dies ist ein erkenntnistheoretischer Kampf. Wir haben ein geschaffenes System von Tatsachen oder ausgewählten Tatsachen, voreingenommene Tatsachen, und als Russland versuchte dasselbe zu tun, um unsere Massenmedien – Russia Today, Sputnik – zu erschaffen, wurden wir beschuldigt, falsche Nachrichten zu produzieren. Sagen wir die Wahrheit, unser beider Länder Medien produzieren Fake News.

Lévy: Der große Unterschied ist, dass als Russia Today gegründet wurde, es auf Vertikalität basierte – vertikale Demokratie, wie Sie ja selbst sagen. Es wurde von Putin gegründet. Folgendes hat Präsident Macron übrigens gesagt, als er Putin zum ersten Mal im Elysée-Palast getroffen hat: Diese Art von Fernsehsender ist kein Medium, sondern ein Propaganda-Instrument – und er hat Recht. Mit anderen Worten, wenn Sie im Westen einen Interpretationskonflikt zwischen Le Monde und Le Figaro, zwischen der New York Times und einer anderen Nachrichtenquelle haben, dann ist es ein Kampf zwischen Fachleuten, Einzelpersonen, es ist ein aufrichtiger Versuch, die Wahrheit zu finden. Es ist keine Propaganda, die vom Himmel der Macht kommt und mit dem Rest der Gesellschaft in Konflikt steht. Und das ist wieder ein Vorteil des Westens. Denn es stimmt, Herr Dugin, dass wir das Zeitalter verlassen haben, in dem die Wahrheit von oben kommt, wie bei Platon. Es muss gesucht werden, und es muss mit Aufrichtigkeit und Authentizität gesucht werden. Dafür brauchen wir kein Eingreifen des Staates. Wir brauchen keine Internettrolle, die vom Kreml oder von wem auch immer zur Manipulation eingesetzt wurden. Wir brauchen Leser, Journalisten, die Zivilgesellschaft, die alle von einem aufrichtigen und authentischen Willen zur Wahrheit belebt sind, um mit Friedrich Nietzsche zu sprechen. Ich empfehle dies nach Russland. Es ist eine der Schönheiten, die die Demokratie Russland bieten kann. Und wenn Sie es annehmen, wird es nicht westlich sein. Es wird ein Gemeingut sein, und es wird auch russisch sein.

Dugin: Als Bush zum Zeitpunkt der Invasion der USA im Irak zu Besuch in Moskau war, sagte er: „Habt Geduld, ihr werdet auch noch die Demokratie bekommen, wie der Irak.“ Putin erwiderte: „Vielen Dank, aber wir werden einen anderen Weg finden, um unsere Gesellschaft zu gestalten.”
Ich denke, das Bild, das Sie gegeben haben ist richtig, aber es hat nichts mit der modernen westlichen Gesellschaft zu tun, in der eine rein totalitäre Art der Beschreibung von Tatsachen vorherrscht, nicht zugunsten einer kleinen Gruppe von Eigentümern des einen oder anderen Massenmediums, sondern zugunsten einer politischen Elite. Diese sind in einem gewissen Sinne Platoniker, die ihre Wahrheiten von der liberalen Ideologie herausziehen; das ist auch etwas Platonisches. Und die Leute rebellieren in verschiedensten Ländern dagegen, aber auch im Westen. Ich denke, die Welle des Populismus repräsentiert genau die Ablehnung des europäischen Volkes, nicht die Ablehnung des rechten oder linken Flügels, sondern das ist die Ablehnung dieser absolut abstrakten Agenda der liberalen Eliten durch normale europäische Bürger. Deshalb denke ich, dass es jetzt nicht um den Staat geht, sondern um politische Eliten.

Lévy: Auf der ganzen Welt gibt es einen großen Kampf zwischen liberalen und illiberalen Werten. Dieser Kampf durchzieht auch durch unsere Länder. Sie haben einige Liberale in Russland und wir haben einige Illiberale in Europa. Zutreffend ist, dass der Liberalismus zurzeit vor der gleichen Glaubwürdigkeitskrise wie in den 1930er Jahren oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht. Aber in diesem Kampf, Herr Dugin, das sage ich Ihnen heute, dass wir, nun am Ende dieser Debatte, auf den gegenüberliegenden Seiten der Barrikaden stehen werden. Denn für mich ist eine freie Presse kein Totalitarismus. Die Achtung der liberalen Ideen und der Freiheit ist kein weiterer Totalitarismus. Säkularismus und Frauenrechte können nicht wie zu Beginn unserer Begegnung auf die gleiche Ebene gestellt werden wie Faschismus und Kommunismus. Es gibt heute einen echten Zusammenprall der Zivilisationen. Aber nicht die, die Sie in Ihren Büchern erwähnen, zwischen dem Norden und dem Osten oder dem Westen und dem Süden und all dem – nein, überall auf der Welt gibt es einen Konflikt von Zivilisationen zwischen Menschen, die an Menschenrechte glauben, an Freiheit, an das Recht, dass ein Körper nicht gefoltert und gemartert werden darf und Menschen, die mit Illiberalismus und der Wiederbelebung von Autoritarismus und Sklaverei d’accord sind. Und das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir. Es tut mir leid, dass ich dies heute noch einmal bestätigen musste.

Über die Diskutanten

 

Alexander Dugin, geb. 1962 in Moskau, ist ein russischer Politologe, Publizist und Philosoph. Dugin ist Mitbegründer der Eurasischen Bewegung und wirkt vor allem als Geopolitiker für eine multipolare Weltordnung. Er gilt als Traditionalist und versteht sich in der Linie der Konservativen Revolution. Als Alternative zu den drei politischen Theorien Liberalismus, Kommunismus und Faschismus entwickelte Dugin die Vierte Politische Theorie, der er ein ganzes Buch widmete.

Bernard-Henry Lévy, geb. 1948 in Béni Saf, ist ein französischer Philosoph, Publizist und Journalist. Des Weiteren ist er Mitbegründer der Nouvelle Philosophie (oder neue Philosophen), die sich explizit dem Humanismus, der sich aus einem Antitotalitarismus speist, widmet. Lévy gilt als einer der bekanntesten und umstrittensten Intellektuellen in Frankreich.