Wozu braucht die Neue Rechte Karl Marx?

von | 29. Okt.. 2018 | Debatte

Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um einen Kommentar des Wirtschaftsmathematikers Per Lennart Aae zu der Stellungnahme von Peter Steinborn über die „Marx-Exegese“ aus dem Jungeuropa Verlag, >>Marx von rechts<<. Gegenstrom veröffentlicht diesen Kommentar als weiteren Beitrag zur aus unserer Sicht wichtigen Debatte um Marx und die Neue Rechte. Aae untersucht insbesondere die Rolle des Kapitals innerhalb der Volkswirtschaft und gibt dem Mehrwert eine andere Bedeutung, wobei er Marxens Theorem ebenfalls als Gegenpol für eine dialektische Auseinandersetzung begreift. Die Redaktion

Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Peter Steinborn hat hier auf »Gegenstrom« einen interessanten Beitrag zu einem ebenso interessanten Thema geschrieben: »Karl Marx und die neue  Rechte – vom Versuch einer Kapitalismuskritik«.

»Marx von rechts«

Eigentlich ist der Beitrag eine Antwort auf das Buch »Marx von rechts«, herausgegeben vom deutschen Verleger Philip Stein (»Ein Prozent für unser Land«) und von einem, wie Stein, der »Neuen Rechten« zuzurechnenden Autorenteam verfaßt, bestehend aus dem deutschen Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser (Lektor beim Antaios-Verlag), dem französischen Publizisten und Philosophen Alain de Benoist (Vordenker der Neuen Rechten) und dem italienischen Geschichtsphilosophen Diego Fusaro (Mailänder Universität).

Wozu eine rechte Diskussion über Marx?

Ich habe Peter Steinborns Beitrag schon deswegen mit großem Interesse gelesen, weil ich, wie er, der Meinung bin, daß es notwendig ist, »innerhalb der deutschen Rechten auch über Marx zu sprechen«. Auch Steinborns Begründung dieser Notwendigkeit teile ich. Sie besteht nicht etwa in der Annahme, der Marxismus sei eine bisher mißverstandene Heilslehre, die in Wirklichkeit den Rechten immer gefehlt habe, um die Welt zu verstehen, und die deswegen jetzt endlich neu erfunden oder ausgelegt werden müsse, um das geistige Fundament der Neuen Rechten zu bilden. Nein, die Notwendigkeit – oder zumindest Wünschbarkeit – einer Auseinandersetzung mit Marx von rechts besteht vielmehr deswegen, weil die marxistische Analyse in ökonomischer und gesellschaftsphilosophischer Hinsicht eine besonders konsequente und historisch einflußreiche Ausprägung der oberflächlich-materialistischen Strömung innerhalb der Aufklärung ist, und weil sie deswegen besonders geeignet erscheint, sowohl die Unterschiede als auch etwaige Berührungspunkte zwischen diesen materialistischen Positionen der Aufklärung einerseits und einem modernen, anthropologisch, „biotopisch“-sozialorganisch und strukturanalytisch begründeten Denken andererseits dialektisch herauszuarbeiten.

Anders formuliert: Steinborn sieht offenbar den Marxismus nicht etwa als ideologisches Leitbild, in welcher Form auch immer, sondern als dialektische Gegenposition zu einem geläuterten, unseren heutigen Erkenntnissen angepaßten völkisch-nationalen Denken, welches nach meiner – und offenbar auch seiner – Überzeugung heute unerläßlich ist, da es den einzig möglichen Schutz der europäischen Völker vor der drohenden Auflösung darstellt und insbesondere dem Deutschen Volk die letzte Chance bietet, seinen sonst in wenigen Jahrzehnten absehbaren Untergang zu verhindern. In diesem Sinne steht ein neues völkisch-nationales Denken auf der Tagesordnung der Geschichte. Durchsetzen kann es sich aber, wie jede neue geistespolitische Strömung, nur in der dialektischen Auseinandersetzung mit früheren Strömungen.

In diesem Sinne werde ich mich im folgenden hauptsächlich mit den rein auf Marx bezogenen Gedanken Steinborns befassen, weniger mit seiner Kritik an dem Buch »Marx von rechts«, zumal auch seine Kritik am besagten Buch im wesentlichen eine reine Marx-Kritik ist. Bevor ich dazu übergehe, will ich aber abschließend zur Herangehensweise der Autoren von »Marx von rechts« folgende Aussage Steinborns zitieren: »Dabei wirken die Autoren sowie auch der Herausgeber, Philip Stein, als wären sie nicht nur offen für einige Theorien Marxens, sie fordern die Neue Rechte auf sich mit seinen Thesen zu beschäftigen und bezeichnen die Auseinandersetzung gar als „Startschuß“, der einen „fundamentalen Neubeginn, eine neue Theorie und Praxis neurechter Politik, (…) eine neue Arbeits- und Denkweise“ einleiten könne.« Hier bestätigt sich das oben Gesagte besonders deutlich, nämlich die Ablehnung Steinborns gegenüber dem Versuch der Marx-Exegeten, Marx als geistigen Paten der Neuen Rechten zu vereinnahmen. Ich sehe darin übrigens auch eine generelle Absage an die in rechten Kreisen bestehende, allgemeine Tendenz, sich bei klassischen Autoritäten Vorbilder zu suchen, anhand derer sie den eigenen Standpunkt (und mitunter auch sich selbst) definieren wollen. Daß diese wenig innovative Vorgehensweise nicht zielführend ist, zeigen m.E. die bisherigen Erfahrungen zur Genüge. Sie ist aber im gewissen Sinne auch intellektuell würdelos, denn die auf der Tagesordnung der Geistesgeschichte stehenden, völkisch-nationalen Denkansätze bedeuten einen viel zu starken Einschnitt im Verhältnis zu den heute vorherrschenden Denktraditionen, als daß man sie in das starre Schema vergangener Ideologien pressen könnte. Sie erfordern vielmehr einen innovativen, ja revolutionären Bruch mit diesen. Aber nicht zuletzt aus diesem Grund braucht das neue Denken gleichzeitig die dialektische Auseinandersetzung mit dem alten. Erst dadurch kann man auch außerhalb eines kleinen Kreises von Überzeugten zunächst Interesse und dann Akzeptanz für die neuen Ideen wecken. Das gilt übrigens nicht nur im Verhältnis zum Marxismus, sondern auch zum Liberalismus, zu den klassischen, neoklassischen und neoliberalen ökonomischen Theorien und zu jedem, politischen Einfluß fordernden religiösen Universalismus.

Steinborns Kritik an der Mehrwerttheorie

Und nun zu Peter Steinborns Kritik an Marx! Er befaßt sich in seinem Beitrag zunächst mit der Marx’schen Mehrwerttheorie. Diese kritisiert er, weil sie ausschließlich die »Produktionsebene« betreffe, während »die viel wichtigere Geldzirkulationsebene« vernachlässigt werde. Dem würde wahrscheinlich jeder eingefleischte Marxist vehement widersprechen, denn Marx spricht im Zusammenhang mit der Mehrwerttheorie ausdrücklich von »Zirkulation« und in der Tat handelt es sich auch um eine solche. Steinborns Kritik ist aber trotzdem berechtigt, denn er dürfte unter volkswirtschaftlicher Zirkulation etwas wesentlich anderes und Tiefergehendes als Marx meinen. Auch diese Meinung teile ich mit ihm, und ich werde im folgenden näher darauf eingehen – nach einer Zusammenfassung der Marx’schen Mehrwerttheorie an sich.

Marxʹ Definition der einfachen Warenzirkulation W-G-W und der produktiven Zirkulation G-W-G (aus »Das Kapital«)

Marx selbst beschreibt die Mehrwerttheorie im zweiten Abschnitt (ab Kapitel 4) des ersten Bandes von »Das Kapital: »Die Verwandlung von Geld in Kapital« (Kurz: Bd. 1, Kap. 4). Zunächst stellt er in Kap. 4, Pkt. 1 (»Die allgemeine Formel des Kapitals«) fest: «Die unmittelbare Form der Warenzirkulation ist

W – G – W, Verwandlung von Ware in Geld und Rückverwandlung von Geld in Ware, verkaufen, um zu kaufen.» Dies wird von Marx auch als »einfache Warenzirkulation« oder »einfache Zirkulation« bezeichnet. Es handelt sich um den, mittels des Geldes vereinfachten Warentausch, bei dem ein Wirtschaftsteilnehmer, der die Ware A in die Ware B tauschen will, nicht mehr einen Wirtschaftsteilnehmer mit dem umgekehrten Wunsch finden muß, nämlich Ware B in Ware A zu tauschen, sondern lediglich jemanden, der ihm die Ware A für Geld abkauft. Für dieses Geld kann er sich dann die Ware B bei einem dritten Wirtschaftsteilnehmer kaufen.

Die einfache Warenzirkulation ist offenbar von der Produktion der Waren völlig unabhängig. Aber Marx kommt unmittelbar nach deren Erwähnung in der Tat auch zur produktiven Zirkulation: «Neben dieser Form finden wir aber eine zweite (…) vor, die Form G – W – G, Verwandlung von Geld in Ware und Rückverwandlung von Ware in Geld, kaufen, um zu verkaufen. Geld, das in seiner Bewegung diese letztere Zirkulation beschreibt, verwandelt sich in Kapital, wird Kapital und ist schon seiner Bestimmung nach Kapital.» Wenn Marx hier von Kaufen und Verkaufen spricht, meint er nicht nur den Handel im engeren Sinne, sondern eben auch die Produktion. Denn diese erfordert i.d.R. ebenfalls Wareneinkäufe, die als Vorleistung getätigt werden, z.B. Einkäufe von Material, Halbzeugen, Komponenten, Maschinen (Investitionen) etc., ja, auch die Arbeitskräfte sind nach Marx Waren. Alle diese Waren haben ihren Preis, also ihren Tauschwert, der vom Produzenten zu entrichten ist. Insbesondere ist nach Marx der Tauschwert der Arbeitskraft diejenige Entlohnung, die zu deren Lebensunterhalt erforderlich ist – wobei, nebenbei bemerkt, Lebensunterhalt natürlich jeweils zeitgemäß zu verstehen ist. – Siehe hierzu Bd. 1, Kap. 4, Pkt. 3: »Kauf und Verkauf der Arbeitskraft«

»Die Verwertung des Werts«

Schon bei der allgemeinen Diskussion des Prozesses G – W – G zeigt sich nun m.E. der grundlegende Unterschied zwischen einem nationalen, gemeinschaftsbetonenden, gesellschafts- oder raumorientierten Zirkulationsverständnis einerseits und dem an Wettbewerb und Konflikt (als Selbstzweck) orientierten Zirkulationsverständnis von Marx andererseits. Denn Marx stellt im Hinblick auf die »Zirkulation G – W – G« folgendes fest: »Sie scheint auf den ersten Blick inhaltslos, weil tautologisch. Beide Extreme haben dieselbe ökonomische Form. Sie sind beide Geld, also keine qualitativ unterscheidbaren Gebrauchswerte, denn Geld ist eben die verwandelte Gestalt der Waren, worin ihre besonderen Gebrauchswerte ausgelöscht sind. Erst 100 Pfd.St. (Pfund Sterling) gegen Baumwolle und dann wieder dieselbe Baumwolle gegen 100 Pfd.St. auszutauschen, also auf einem Umweg Geld gegen Geld, dasselbe gegen dasselbe, scheint eine ebenso zwecklose als abgeschmackte Operation. Eine Geldsumme kann sich von der anderen Geldsumme überhaupt nur durch ihre Größe unterscheiden. Der Prozeß G – W – G schuldet seinen Inhalt daher keinem qualitativen Unterschied seiner Extreme, denn sie sind beide Geld, sondern nur ihrer quantitativen Verschiedenheit. Schließlich wird der Zirkulation mehr Geld entzogen, als anfangs hineingeworfen ward. (…) Die vollständige Form dieses Prozesses ist daher G – W – Gʹ, wo Gʹ = G+ΔG d.h. gleich der vorgeschossenen Geldsumme plus einem Inkrement. Dieses Inkrement oder den Überschuß über den ursprünglichen Wert nenne ich – Mehrwert (surplus value). Der ursprünglich vorgeschossene Wert erhält sich daher nicht nur in der Zirkulation, sondern in ihr verändert er seine Wertgröße, setzt einen Mehrwert zu und verwertet sich. Und diese Bewegung verwandelt ihn in Kapital.« 

Marx spricht also von einer Zirkulation des vorgeschossenen Geldes nach folgendem Schema:

Marxens G-W-G‘-Formel

Der dargestellte Kreislauf dient ihm nicht zur Kennzeichnung eines – aus seiner Sicht – sinnvollen wirtschaftlichen Prozesses, sondern zur Definition des Kapitals: Durch die, der Aufrechterhaltung des Produktionsprozesses und der Erzeugung eines Mehrwertes dienende Zirkulation wird das Geld zum Kapital. Die Erzeugung des Mehrwerts nennt Marx »Verwertung des Werts«. Er schreibt hierzu: »Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos. Als bewußter Träger dieser Bewegung wird der Geldbesitzer zum Kapitalist. Seine Person, oder vielmehr seine Tasche, ist der Ausgangspunkt und der Rückkehrpunkt des Geldes. Der objektive Inhalt jener Zirkulation – die Verwertung des Werts – ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes , mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital. Der Gebrauchswert ist also nie als unmittelbarer Zweck des Kapitalisten zu behandeln. Auch nicht der einzelne Gewinn, sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens. Dieser absolute Bereicherungstrieb, diese leidenschaftliche Jagd auf den Wert ist dem Kapitalisten mit dem Schatzbildner gemein, aber während der Schatzbildner nur der verrückte Kapitalist, ist der Kapitalist der rationelle Schatzbildner. Die rastlose Vermehrung des Werts, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Gelds vor der Zirkulation zu retten sucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt.«

Die vermeintliche Aktualität von Marx

Diese Beschreibung des Kapitalismus und des Kapitalisten trifft noch stärker auf den heutigen Turbokapitalismus als auf den Kapitalismus zu Marxʹ Lebzeiten zu. Aus diesem Grund hört man oft die Meinung, Marx sei heute aktueller denn je. Ihm gebührt auch in der Tat die Anerkennung dafür, den Prozeß eines sich verselbständigenden, sich von der eigentlichen Wirtschaft, der Herstellung von Gebrauchswerten, abkoppelnden Kapitals treffend beschrieben zu haben. Aber im Gesamtkontext seiner Lehre kann man feststellen, daß er mit dieser Darstellung einen politischen Zweck verfolgt, nämlich den Zweck, die auf Freiheit, Eigentum und Eigeninitiative beruhende Arbeitsteilung in einem größeren Gemeinwesen als Leistungsgemeinschaft – als Projektion der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Familien- oder Stammesgesellschaft auf die solidarische Massengesellschaft (das Volk) – für unmöglich zu erklären, weil zwangsläufig zu einer ausbeuterischen, letztlich selbstzerstörerischen kapitalistischen Eigendynamik führend. Anders ausgedrückt: Er verfolgt offenbar den Zweck, die, dem Gemeinwohl verpflichtete freiheitliche Volkswirtschaft, also die soziokulturelle bzw. sozioökonomische Leistungsgemeinschaft, als reine Illusion von der Agenda zu streichen, und an deren Stelle seine eigene kommunistische Vision zu setzen.

Ein kleines Detail im obigen Zitat ist für Marxʹ argumentative Vorgehensweise besonders entlarvend: «…. nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen [ist], funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital.« Um intellektuell, und zwar von der Logik her, unangreifbar zu sein, definiert er den Kapitalisten als jemanden, dessen allein treibendes Motiv die Aneignung des abstrakten Reichtums ist, und dessen unmittelbarer Zweck nie der Gebrauchswert sei. Formell schließt er also nicht aus, daß letzteres doch der Fall sein könnte, nämlich in einer anderen Wirtschaftsform als dem zum Selbstzweck gewordenen Kapitalismus. Aber er ignoriert diese Möglichkeit in seinen Darstellungen, geht in seinem gesamten Werk nicht darauf ein.

Marx scheinbar bewußte Ausblendung des volkswirtschaftlichen Wirtschaftskreislaufs und der Notwendigkeit der Kapitalbildung

Marx scheint also die kreislaufmäßige Systemlogik und faktische Notwendigkeit des volkswirtschaftlich gebundenen und kontrollierten Kapitals zur Aufrechterhaltung einer arbeitsteiligen Leistungsgemeinschaft auf Zivilisationsstufen oberhalb der reinen Familien-, Großfamilien oder Stammesgesellschaft, besonders in der modernen Massengesellschaft, bewußt auszublenden. Soweit sich seine Theorie in den Köpfen durchsetzt, blockiert und verhindert sie damit den tatsächlich sinnvollen und notwendigen Antikapitalismus, nämlich die Bekämpfung jenes wuchernden, international vagabundierenden Kapitals, das sich von den Volkswirtschaften entkoppelt und dadurch zum alleinigen Herrn über die Weltwirtschaft und somit über Völker, Nationen und Staaten aufschwingt.

Betriebliche Kosten und Erlöse als erzeugte bzw. abgeschöpfte Kaufkraft

Denn im Prozeß G – W – G+ΔG  symbolisiert G in Wirklichkeit die durch die Entlohnung der Arbeit (als sozioökonomisch entscheidenden Produktionsfaktors) erzeugte Kaufkraft der Arbeiter, während G+ΔG die durch die Veräußerung der Ware W entnommene oder abgeschöpfte Kaufkraft darstellt. Bei positivem ΔG (Mehrwert) ist bei dem betrachteten Produktionsprozeß die entnommene Kaufkraft größer als die erzeugte. Dieser Zustand ist aus der persönlichen und betrieblichen Sicht des (denknotwendig suboptimierenden) Einzelunternehmers selbstverständlich erstrebenswert. Betrachtet man aber – in der volkswirtschaftlichen Gesamtperspektive – nicht nur einen einzigen, sondern eine Vielzahl von Produktionsprozessen, aus der ja eine arbeitsteilige Wirtschaft zwingend besteht, erschließt sich rein logisch, daß die durch Verkauf von Waren entnommene Kaufkraft nicht bei allen Produktionsprozessen ständig größer sein kann als die v.a. durch Lohnzahlung erzeugte. Auf der Ebene einer Wirtschafts- und Leistungsgemeinschaft, die noch eine intakte soziokulturelle Gemeinschaft abbildet/verwirklicht und deswegen ein gewisses Maß an Abgeschlossenheit aufweist, muß vielmehr der Mehrwert, also das Inkrement ΔG, als vorzeichenbehaftet angenommen werden und die Summe aller Inkremente im zeitlichen Mittel dem Wert Null zustreben, ∑ΔG à 0 – vorausgesetzt, daß G alle Kosten, also variable und fixe, kurz- und langfristige, und natürlich auch Unternehmerlohn etc. enthält.

Rein mathematisch gesehen, ist dieser Sachverhalt der gleichen Logik geschuldet wie der Kirchhoff‘sche Maschensatz in der Physik. Sozioökonomisch ist er ein Ausdruck dafür, daß das Kapital, zu dem sich die vorzeichenbehafteten Mehrwertinkremente aggregieren, eine dynamische Größe ist, die die Produktionsprozesse der sozioökonomischen Leistungsgemeinschaft so mit einander verbindet, daß auf der einen Seite diese Prozesse unabhängig von Zirkulationsfluktuationen, konkret Liquiditätsengpässen, störungsfrei weiterlaufen können (Stichwort Kontokorrent), andererseits auch eine, der technischen Entwicklung, den Bedürfnissen und Präferenzen etc. entsprechende, ständige dynamische Reallokation/ Umverteilung von Ressourcen stattfinden kann (Stichworte Startup und Investition).

Geschlossene Volkswirtschaft, nationale Währung und Vollgeld

Hierzu gleich noch ein paar Erklärungen. Vorausgeschickt sei, daß ich von einer idealtypisch geschlossenen Volkswirtschaft ausgehe, entsprechend dem von mir geprägten Paradigma »raumorientierte Volkswirtschaft«. Als wirtschaftspolitisches Ziel ist die Geschlossenheit natürlich relativ zu sehen, und zwar im Verhältnis zur heutigen Globalisierung, die zum reinen Selbstzweck geworden ist. Sie kann so definiert werden, daß die Bedeutung der regional oder national überschaubaren Wirtschaft für den Zusammenhalt der gewachsenen Gesellschaft beachtet werden muß und deswegen die Prinzipien des Vorrangs der Binnenwirtschaft vor der Außenwirtschaft und des Ergänzungscharakters außenwirtschaftlicher Transaktionen gelten sollen. Die im folgenden aufgezeigten volkswirtschaftlichen Zusammenhänge gelten zwar uneingeschränkt nur in einer vollkommen geschlossenen Volkswirtschaft, können aber auch für eine „nur“ raumorientierte Volkswirtschaft als annähernd stimmig angenommen werden. Außerdem unterstelle ich eine nationale Währung mit einer sehr restriktiven Geldmengenkontrolle, bis hin zum sogenannten Vollgeld. Daß diese Voraussetzungen heute nicht gegeben sind, ist mir klar. Aber es geht mir nicht darum, das Marxʹsche Modell vor dem Hintergrund des heutigen Systems zu beurteilen, sondern an meinen eigenen politisch-ökonomischen Vorstellungen zu messen.

Die Unvermeidbarkeit eines Inkrements in der Zirkulation G-W-G als Folge von Schwankungen und Verschiebungen in der Nachfrage

Und jetzt zu den Erläuterungen des im vorletzten Absatz Gesagten: So logisch das beschriebene Maschengesetz auch ist, zumindest eben in einer geschlossenen Volkswirtschaft und bei kontrollierter Geldmenge, so selbstverständlich ist es auch, daß in einer realen Wirtschaft nicht der Spezialfall eintreten wird, in dem alle ΔG-Inkremente dauerhaft gleich null sind. Vielmehr gibt es natürliche Schwankungen, die zwangsläufig dazu führen, daß normale, nachhaltig wirtschaftende Betriebe zeitweise einen positiven, zu anderen Zeiten aber auch einen negativen „Mehrwert“ erzeugen. Um diese Schwankungen auszugleichen, ist natürlich Kapital erforderlich, und zwar jenes Kapital, das eben aus den erwirtschafteten Mehrwerten, d.h. aus den positiven ΔG-Inkrementen gebildet wird.

Es gibt aber auch Fälle von dauernden Verlusten oder dauernden Gewinnen, letztere natürlich im kapitalgesellschaftlichen Sinne, also als Reingewinn (Profit) nach Abzug aller Kosten. Dies entspricht ΔG-Inkrementen, die über eine längere Zeit dauerhaft negativ oder dauerhaft positiv sind. Auch dies ergibt einen ökonomischen Sinn für die Bewahrung der inneren Konsistenz der volkswirtschaftlichen Leistungsgemeinschaft. Denn dauerhafte Verluste bedeuten, daß die betreffenden Betriebe dauerhaft durch ihren Ressourceneinsatz, v.a. von Arbeitskräften, mehr Kaufkraft erzeugen, als sie durch Erlöse abschöpfen. Das bedeutet wiederum, daß v.a. die eingesetzten Arbeitskräfte nicht richtig ausgelastet sind, oder daß ihre Löhne bei den Preisen, zu denen die Produkte verkäuflich sind, von den Erlösen nicht bezahlt werden können.

Reallokation von „falsch“ eingesetzten Ressourcen/ Arbeitskräften

In beiden Fällen dürften sie volkswirtschaftlich falsch eingesetzt sein, so daß sie zumindest mittelfristig umverteilt werden sollten. Hierzu bedarf es z.B. Betriebserweiterungen oder ganz neuer Betriebe, die die erfolgreichen, stark nachgefragten Produkte oder Dienstleistungen in noch größerer Menge und vielleicht auch besserer Qualität anbieten, oder aber ganz neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln und anbieten.

Für diese Erweiterungen sind einerseits Ressourcen, v.a. (direkt oder indirekt beanspruchte) Arbeitskräfte, erforderlich, andererseits, da es sich um investive Vorleistungen, wie etwa Neugründungen, handelt, auch Kreditgeld. Woher kommt in einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft dieses Geld? Natürlich von dem Kapital, das einerseits durch Sparen, andererseits durch die Mehrwert-/ Gewinnerzeugung der Überschußbetriebe zustande kommt. In beiden Fällen „repräsentiert“ dieses Kapital die unzureichend ausgelasteten Ressourcen, insbesondere die Arbeitskräfte. Denn es ist durch Entzug von Kaufkraft entstanden, im Falle des Sparens durch Konsumzurückhaltung, im Falle der Unternehmensgewinne durch übermäßige Abschöpfung von Kaufkraft zu Lasten der schwächeren Unternehmen; bei diesen geht infolge dessen die Auslastung der Belegschaften zurück.

Das Kapital als Ermächtigung zum Einsatz von ungenügend ausgelasteten Ressourcen/ Arbeitskräften

Daraus ergibt sich, daß das Kapital nichts anderes ist als eine Ermächtigung für den Einsatz von nicht ausgelasteten Ressourcen, insbesondere Arbeitskräften. Dies gilt zwar auch für Kapital, das durch Kreditschöpfung, also reine Geldvermehrung, entstanden ist, wie beim heutigen Geld- und Kreditsystem üblich. Aber nur in der geschlossenen Volkswirtschaft gibt es den eben beschriebenen funktionalen Zusammenhang zwischen den verfügbaren, unausgelasteten Ressourcen einerseits und den Kreditgeldern andererseits. Mit anderen Worten: Nur die geschlossene Volkswirtschaft verfügt über einen selbstregulierenden Mechanismus zur dynamischen Ressourcen-Reallokation.

Ein neues Kapitalverständnis

Dieser Mechanismus ermöglicht auch ein Kapitalverständnis, das völlig anders ist als bei Karl Marx, aber auch anders als in der heutigen kapitalistischen Ökonomie. Denn da das Kapital zum wesentlichen Teil jenen Arbeitskräften direkt entspricht, die entweder gar nicht, ungenügend oder (für die Betroffenen selbst) unbefriedigend ausgelastet sind, und es, wie gesagt, bei verständiger Betrachtung des systemischen Zusammenhangs eine Art Ermächtigung darstellt, diese einzusetzen, drängt sich die Vorstellung geradezu auf, daß es nicht im vollen Umfang Privateigentum sein kann, zumindest nicht im  Sinne beliebiger, rein selbstgefälliger, gutdünklicher privater Verfügbarkeit.

Es ist vielmehr von seiner grundlegenden Natur her, unabhängig vom formalen Recht, Eigentum des Volkes, also im wahrsten Sinne des Wortes nationales Kapital. Es sollte aber nicht deswegen etwa von Politikern oder Beamten, sondern von kompetenten Unternehmerpersönlichkeiten und Wirtschaftssachkundigen in ihrer Eigenschaft als Kapitalbesitzer verwaltet werden, und zwar so kompetent, daß als Ergebnis ein möglichst großer volkswirtschaftlicher und sozialer Nutzen entsteht.

Einfluß auf die Wertaufbewahrungseigenschaft des Kapitals: Umlagesystem volkswirtschaftlich stimmiger als Kapitaldeckung

Das Kapitalverständnis in der geschlossenen Volkswirtschaft hat auch Einfluß auf die Wertaufbewahrungseigenschaft des Geldes. Denn wenn das Kapital eine Art Stellvertretergröße für ungenügend oder falsch ausgelastete volkswirtschaftliche Ressourcen, insbesondere Arbeitskräfte, ist, so ist sein Wert nur solange gültig, wie diese Ressourcen zur Verfügung stehen, d.h. solange wie die dafür verantwortliche volkswirtschaftliche Konstellation besteht. Das bedeutet u.a., daß Umlagesysteme volkswirtschaftlich sinnvoller als Kapitaldeckungssysteme sind. Eine andere Konsequenz ist, daß die weitere Verzinsung eines Kapitals nach Aufhebung der für dessen Entstehung verantwortlichen Minderauslastung bestimmter Ressourcen wirtschaftlicher Unsinn ist.

Zinseszins, Beispiel Josephs-Pfennig

Ein frappierendes Beispiel hierfür ist das Gedankenexperiment mit dem sogenannten Josephs-Pfennig, auf welches Peter Steinborn hinweist. Demnach wäre aus einem einzigen, im Jahre 1 vor Christus zu 5 Prozent jährlicher Verzinsung angelegten Pfennig heute ein Gegenwert von 259 Milliarden Erdkugeln aus purem Gold entstanden. Daß dies ein absurdes Ergebnis fern jeder wirtschaftlichen Realität ist, leuchtet sofort ein. Aber auch daß eine Geldanlage von 100 DM zu 5 Prozent Verzinsung, im Jahre der Währungsreform 1948 getätigt, heute über 3.000 DM bzw. 1.500 Euro wert wäre, ist ökonomisch irreal. Der Wert wäre zwar rechtlich garantiert, würde aber kaum irgendwelche wirtschaftlichen Realitäten abbilden.

Mehrwert zur Eigenkapitalbild und zur Erwirtschaftung eines betriebswirtschaftlichen Deckungsbetrags

Der von Marx so dämonisierte Mehrwert bzw. das Inkrement ΔG  ist nicht nur wegen der oben behandelten Umsatzschwankungen und Verschiebungen zwischen den verschiedenen binnenwirtschaftlichen Betrieben und Branchen, sondern auch aus Gründen der betriebswirtschaftlichen Kostenrechnung auf ganz natürliche Art und Weise notwendig. Denn betriebswirtschaftlich gesehen, kann der geschlossene Kreislauf (ohne ΔG) einen Betrieb versinnbildlichen, der zwar hinsichtlich der variablen (laufenden) Kosten kostendeckend arbeitet, aber nicht im Hinblick auf die Fixkosten, also einen Betrieb, dessen Deckungsbeitrag null beträgt, und der somit »von der Substanz lebt« (siehe dazu nachfolgende Formel). Solche Betriebe gibt es ja in der realen Wirtschaft, etwa Milchbauern, die 27 Cent pro Kilogramm Milch einnehmen statt der für einen ausreichenden Deckungsbeitrag erforderlichen 40 Cent, und die damit z.B. nicht in der Lage sind, bei Bedarf wichtige betriebliche Infrastruktur, wie Gebäude, Melkanlage etc., instandzusetzen oder zu erneuern.

Marxens G-W-G-Formel

 

Schon hierfür ist also ein „Mehrwert“ (ΔG) erforderlich, dessen Funktion wie folgt abgebildet werden könnte:

Marxens G-W-G‘-Formel kreislaufartig erweitert.

Zusammenfassung

Ich habe zunächst festgestellt, daß eine Diskussion über »Marx von rechts« aus meiner Sicht zwar sinnvoll, ja notwendig ist, aber nicht als Vorbild für rechte Ideologiebildung, sondern als dialektische Auseinandersetzung der aufkommenden völkisch-nationalen politischen Ökonomie mit dem Marxismus, genauso wie eine entsprechende Auseinandersetzung mit der kapitalistischen politischen Ökonomie notwendig ist.

Ich habe dann versucht, zu zeigen, daß – entgegen den Thesen von Marx – das Kapital ein wesentliches Funktionselement der Volkswirtschaft und der Mehrwert eine aus verschiedenen Gründen unvermeidbare Größe ist, die zur Bildung eines notwendigen schaffenden Kapitals (im Gegensatz zum raffenden Kapital) auch unbedingt erforderlich ist.

Ich habe auch betont, daß insbesondere in einer raumorientierten nationalen Volkswirtschaft, die ihrerseits eine unerläßliche Grundlage für eine nachhaltige Volksgemeinschaft ist, die Bedeutung von Kapital und Mehrwert als Ausgleichs- und Relokations-Mechanismus immens ist.

Ich anerkenne Marxʹ Analyse des real existierenden Kapitalismus, stelle aber fest, daß diese unter mutmaßlich bewußter Ignoranz der durchaus möglichen, ja naheliegenden, gänzlich anderen Rolle von Kapital und Mehrwert in einer raumorientierten nationalen Volkswirtschaft entwickelt wurde, und zwar mit dem Ziel, die Entwicklung zur kommunistischen Revolution als gleichsam naturgesetzlich vorgegeben erscheinen zu lassen.

Dies ist ein vorläufiger Stand des vorliegenden Artikels. Ich werde später den Inhalt präzisieren und um weitere Aspekte ergänzen, z.B. um eine völkisch-nationale Interpretation des Historischen Materialismus von Marx.