Die rosafarbene Ebbe oder wie Lateinamerika seine Linke verloren hat

von | 13. Dez. 2022 | Deutschland und die Welt

Heißes Chile

– Der Fall der Berliner Mauer ließ zahlreiche Weisen zurück, zuallererst unter den Kadern der kommunistischen Parteien im Westen. Das Nachbeben konnte man überall wahrnehmen, besonders im eigenen Hinterland des Westens: Lateinamerika. Traditionell reformistisch, parlamentarisch und kleinbürgerlich eingestellt, wiederverwerteten sich viele kommunistische Bürokraten auf dem Kontinent selbst in Form von aus Washington finanzierten NGOs und befürworteten Menschenrechte, Demokratie sowie Feminismus. Dies geschah zu einem Zeitpunkt als Moskau, welches in eine Legitimationskrise gestürzt war, anscheinend für immer die internationale Arena verlassen hatte. Doch diese professionelle Leere sollte so oder so gefüllt werden: Also gebar der scholastische Marxismus in den offiziellen Salons und den Universitäten notwendigerweise eines Tages einen wenig überzeugenden Postmodernismus. Dieser fragliche Zeitraum überschnitt sich grob mit dem Ende der neoliberalen Diktaturen in Südamerika, insbesondere in Chile, dessen Rückkehr zur Demokratie von einer marathonartigen Welle sozialer Proteste in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begleitet wurde.

Nun machen wir einen Schnellvorlauf 30 Jahre in die Zukunft

Generationen nach dem Tod von Pinochet[1] stellte Chile einen ähnlichen Kreislauf von Volksaufständen genau am Höhepunkt des COVID-19 Ausbruchs nach: Die Städte wurden von beinahe zwei Millionen Demonstranten überrannt, einige davon waren mit Molotowcoctails und ludditischen Eifer ausgestattet. Bis dahin wurden die Sessel bei der politischen Fassung von “Reise nach Jerusalem” zwischen süßholzraspelnden Sozialdemokraten und drakonischen Neoliberalen aufgeteilt, wobei die von oben nach unten tröpfelnde Wirtschaft immer dieselbe blieb. Es war ein Hasardspiel, dass von Paretos‘ Füchsen und Löwen erfolgreich betrieben wurde, wobei die „Rechte“ und die „Linke“ nach US-amerikanischer Façon gestaltet wurden. All das passierte während die chilenische Wirtschaft ein in der Hoffnungslosigkeit versandetes Prekariat nachschleppte und dabei das BIP von Finnland und den GINI-Koeffizienten von Lesotho miteinander kombinierte.

Schließlich mündete die chilenische Farbrevolution von 2019 in einen zweifachen Prozess. Einerseits bereitete sie der halbgaren Linksallianz bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg, die sich sowohl aus „woken“ Fortschrittlichen als auch aus normalen Kommunisten zusammensetzte. Andererseits entzündete die Mobilisierung auf der Straße eine Verfassungsgebende Versammlung, die ursprünglich vom Establishment geplant worden war, um als Sicherheitsventil für die Wankelmütigkeit und den Unmut der Bürger zu dienen. Jedoch stellte sich heraus, dass die Versammlung zu einem Selbstläufer wurde, der derartig fortgeschritten war, dass der aus ihm resultierende Entwurf für eine neue Verfassung einem multikulturalistischen Flickmuster ähnelte, wenn man auch zugeben muss, dass die Arbeiterrechte eine gewisse dauerhafte Anerkennung in ihren letzten Erwägungen erhielten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheinen die Verfassungsgebende Versammlung und die neue Verwaltung, vertreten durch Herrn Boric[2], seines Zeichens ein ehemaliger Studentenführer, schlecht aufeinander abgestimmt, teilweise weil letzterer seine Wahlversprechen gebrochen hat und Austeritäts- sowie Deflationsmaßnahmen ergriffen hat. Tatsächlich birgt einen Monat nach der Angelobung von Präsident Boric der übliche Hochzeitsurlaub zwischen den Wählern und dem neuen Kabinett die Vorzeichen für einen Scheidungskrieg.

Die Angelegenheit ist einfach. Chile monopolisiert buchstäblich den weltweiten Kupferabbau, obwohl der Staat angesichts geopolitischer Arrangements, die bis zur Diktatur Pinochets zurückgehen, daran scheitert die Gewinne, die von seinem eigenen Boden hervorgebracht werden, einzufangen. Auf diese Weise macht die Steuer Jagd auf die arbeitenden Massen, deren Pensionsersparnisse in abgeschiedenen, von durch die Strafverfolgung legitimierten Ponzi-Porfolios in die Labyrinthe amerikanischer Finanzmakler kaskadieren — den berüchtigten Pensionsfondsverwaltern („Pension Funds Administrators“ kurz PFAs).

Während der jüngsten Quarantänen waren öffentliche Beihilfen für die Arbeitslosen so mager, dass die Menschen die Forderung aufstellen die Pensionskonten aufzulösen, woraus ein Tauziehen zwischen den Pensionsversicherungsanstalten und deren alternden Klientel, das sich in der Position eines Gefangenen befand, entstand. Vermutlich sind diese Investments so illiquide und undurchsichtig, dass sie am Rande der buchstäblichen Nichtexistenz stehen. Jedoch hat sich die gegenwärtige progressiv-kommunistische „rosa-rote“ Verwaltung auf die Seite der lokalen Finanzlobby geschlagen, die aufs engste mit der Wall Street verbunden ist. Folglich schwankt Boris‘ eigene linke Wählerschaft zwischen Apathie und Wut, indem sie auf den wahrgenommenen Verrat mit der Drohung eines politischen Fenstersturzes antwortete.

Die Vernunft diktiert, dass, einmal mehr, der rebellische Geist des Volkes im Untergrund weiter vor sich hinköchelt. Aber dieses Mal wird es schlimmer werden, da die Regierung buchstäblich niemanden mehr auf der Linken zur Verfügung hat – keinen formalen Gegenspieler, den man konfrontieren, an ihn appellieren oder mit dem man verhandeln könnte, außer einen amorphen, den Gezeiten unterworfenen, größtenteils jugendlichen Mob der an die allgegenwärtigen Barrikaden und Streitpostenketten drängt. Natürlich kann aus einem institutionellen Feind ein loyaler Verbündeter und damit eine Legitimationsquelle werden. Trauriger Weise ist das nicht länger eine Option. Stattdessen behauptet die multikulturelle Agenda von Herrn Boric, dass die materielle Not und der soziale Hass durch das Beschwören und das Aufschwatzen sexueller Rechte, Umweltaktivismus aus der Boutique und der Rehabilitierung von Minderheiten beschwichtigt werden können. Aber vielleicht ist dieses Unterfangen eher müßig und seine Brisanz bereits passé. Warum? Ganz einfach: Weil die Verfassungsgebende Versammlung, die parallel zur unaufrichtigen Komplizenschaft läuft, all diese Themen bereits schon zuvor aufgegriffen hat.
Insgesamt ist Chile bislang ein politischer Witz ohne Pointe.

Andische Antinomien[3]

Letztes Jahr, nachdem er beim Stichwahlentscheid als erster durchs Ziel lief, musste der Cowboyhuttragende Lehrer vom Land, Pedro Castillo[4], auch bekannt als El Profesor, einen Pakt mit der Repräsentantin der akademischen Linken und Anthropologin Verónika Toledo improvisieren, um für die drohende Stichwahl gewappnet zu sein. Letztendlich siegte Castillo, aber nicht ohne unter einer gerichtlichen Prüfung zu leiden, die darauf abzielte die Zahl seiner Wähler zu bestreiten, da die Stimmen für ihn hauptsächlich im indigenen Hinterland konzentriert waren.

Obwohl er vermeintlich von der leninistischen Partei Perú Libre unterstützt wurde, blieb Castillo ein klassischer Populist lateinamerikanischen Schlags, der sich auf die Bauern konzentrierte und vom katholischen Ethos erfüllt war. Es ist nicht notwendig zu erwähnen, dass dieses Profil seine fortschrittlichen Verbündeten in Lima peinlich berührte. Gebildete linke Stadtbewohner von Castillos‘ Plattform rümpften die Nase und beäugten auch seine politische Rolle mit scheelen Blicken, die sowohl moralistisch als auch rustikal ist. Schlimmer noch, die übertriebene zurück-zum-Land Phraseologie von El Profesor passte, unter anderem, nur schlecht mit dem pro-Abtreibungs-Elan der akademischen Clique hinter Toledo zusammen. Sozialismus-mit-Familismus tönte in den Ohren der linken Konformität wie ein Tinitus.
Aber sie sollten es besser wissen.

Bauernfamilien wurden durch die neoliberale Eugenik von Fujimoris‘[5] autoritären Regime (1990-2000) brutal dezimiert, dass die unwillent- und unwissentliche Sterilisierung zehntausender indigener Frauen durchführte. Dieser Entvölkerungskreuzzug, der sowohl vom NED als auch offiziellen japanischen Wohltätigkeitsorganisationendurchgeführt wurde (Fujimori selbst ist in Japan zur Welt gekommen), traumatisierte die jungen Frauen zutiefst, in dessen eingeborenen Milieu großer Wert auf Schwangerschaft und das Gebären von Kindern gelegt wird. Paradoxerweise fand diese strafende Familienpolitik in einem bereits sehr dünn besiedelten Land statt, was einen Verdacht hinsichtlich des eigentlichen Zwecks dieser Initiative hochkommen lässt.

Wie auch immer, die Senkung der Geburtenraten steht gegenwärtig auf der Wäscheliste der Abtreiber, beginnend mit der postmodernen Säuberung des Patriarchats und der Männlichkeit der Arbeiterklasse: Zuerst die Peitsche, dann das Zuckerbrot… In Wahrheit hatte der peruanische Regierungsblock bis jetzt einen holprigen, erratischen Verlauf und es scheint unwahrscheinlich, dass die fantastische Zusammenarbeit zwischen Hinterlandspopulisten und Schwachköpfen aus den Universitäten überhaupt funktionieren kann. Zunächst einmal gehört der Finanzminister zur liberalen Entourage von Verónika Toledo, woraus der unverminderte Rohstoffkapitalismus resultiert.

Tango & Bargeld

Nach seiner schweren Geburt gipfelte der Widerspruch des lateinamerikanischen Proletariats im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, der die Konjunktur der modernen Klassenpolitik südlich des Rio Grande einläutete. Der berühmte Cananeastreik[6] in Mexiko und der Generalstreik, die sich beide in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ereigneten kennzeichneten den politischen Aufstieg des Fabrikarbeiters – Protagonist langwieriger sozialer Kämpfe die in den Redistributionsexperimenten von Cárdena und Peron kulminierten.

Was den weiteren Prozess anbelangt, so entwickelte Argentinien selbst nie eine marxistische Massenpartei europäischen Zuschnitts, trotz der umfangreichen Einwanderungswelle, die von jenseits des Atlantiks an seine Gestade gespült wurde – was wiederum im Nachbarland Chile der Fall war. Stattdessen diente Argentiniens paternalistischer und plebeiischer Faschismus unter General Juan Perón (1945-1955) sowohl als Ersatz als auch als Katalysator für den Kampf der Arbeiterklasse in den kommenden Jahren. Bis zum heutigen Tage stellt die Herrschaft Peróns bildhaft das Goldene Zeitalter der Importsubstitution und des vertikalen Syndikalismus dar.

Einst von einer rechtsgerichteten Militärjunta besiegt, lief der Peronismus bald mit dem Gueverismus zusammen und bildetet eine Subkultur des revolutionären Machocharismas, die sich später zur Stadtguerilla weiterentwickelte. Dieser auftauchende Zusammenhang veranlasste die konventionellen marxistischen Parteien zur reformistischen Introvertiertheit. Diese Trope war so intensiv, dass die Kommunistische Partei im Verbund mit den konservativen Grundbesitzern sogar kurzzeitig die Diktatur von General Videla[7] in den 1970er Jahren unterstützte. Währenddessen degenerierte der revolutionäre Peronismus in eine Reihe von putschistischen Grüppchen, deren Anhänger wiederum von den Henkern der Junta massakriert wurden.

Während dieses übersprudelnden Versäumnis kultivierte die revolutionäre Linke eine nativistische und aufopferungsvolle Praxis. Folglich dauerte es bis zur Rückkehr der bürgerlichen Regierungen, dass die antikapitalistischen Bewegungen eine Haltung der Opferrolle und der Passivität annahmen. Um ehrlich zu sein war dies nur dank der Installation der Menschenrechtsideologie möglich – das Epizentrum dieses Diskurses bildete die Regierung Carter. Von daher rührt die tragische Ironie: Die Unterdrücker des argentinischen Militärs erhielten ihre Instruktionen aus Fort Benning und dem Pentagon, während ihre Opfer von den Laienmissionaren der amerikanischen NGOs unterstützt wurden sowie ihnen von diesen gepredigt wurde.

Dies geschah zeitgleich mit der mexikanischen Schuldenkrise von 1982 – die ursprünglich von Volckers‘ Zinsratencoup verursacht wurde – welcher den letzten Kurzschluss des keynesianisch-fordistischen Paradigmas in Lateinamerika herbeiführte. Schließlich führte diese Beugung dazu, dass der Weg für die düstere Goldgrube der Strukturanpassungsprogramme (SAPs) des IMF geöffnet wurde, die den ökonomischen Elan der meisten Länder in der Hemisphäre untergrub. In dieser Hinsicht stellen Argentiniens Auslandsschulden einen plastischen Anschauungsunterricht dar. Die südliche Republik stellte relative Solvenz bis ins Jahr 1976 zur Schau, als die Diktatur den vorherigen Schuldenstand versechsfachte. Seitdem sind die roten Zahlen sprunghaft angestiegen, die die argentinischen Steuerzahler zur chronischen Schuldensklaverei unter den internationalen Kreditgeber verurteilten. In der Rückschau kann man sich die Frage stellen, ob die Menschenrechtsideologie und nach ihr der Multikulturalismus mit seinen ihn begleitenden Tropen nichts Anderes ist, als ein machiavellistischer Trost, ein Trick zur Zähmung, um die Zivilgesellschaft zu neutralisieren und zu entpolitisieren, insbesondere die Arbeiterorganisationen.

Eine journalistische Charakterskizze ist von Nöten, wenn wir die Dinge klarstellen wollen. In der Mitte des Jahres 2002 verklagte der Pleitegeier und Anlageninhaber Paul Singer Buenos Aires erfolgreich dafür, dass es seine Staatsschulden nicht mehr bedienen konnte, während er erfolgreich darin war, ein argentinisches Ausbildungsschiff auf legale Art zu beschlagnahmen, dass an der Küste von Ghana mit 22 jungen Matrosen am Kai anlegte. Dabei handelte es sich buchstäblich um Lösegeld, auferlegt aus weiter Ferne, auf den Stilllegungsbefehl eines Gerichts in New Jersey hin, dessen extraterritoriale Wirkung heute fragwürdig erscheint.

Doch er kam mit seiner Erpressung durch und es gelang dem aktivistischen Investor Singer mehr als 2,4 Milliarden Dollar aus dem argentinischen Staatsschatz herauszupressen – die vierfache Menge seiner anfänglichen Investition. In der Zwischenzeit wurden die Parlamentsdebatten in Buenos Aires von Kulturkämpfen dominiert, bei denen es um Schwulenrechte oder andere Tageskontroversen ging, während es nur marginale Stimmen wagten, das Kernproblem der verabscheuungswürdigen Schulden zu diskutieren. Seltsamerweise ist Singer selbst ein großzügiger Förderer der Schwulenrechtsbewegung im globalen Maßstab, ein karitatives Unternehmen, das nicht so selbstlos ist wie behauptet.

Bei weiterer Reflexion erkennen wir ein grundlegendes Muster: Wie bereits zuvor erwähnt verstärken die Rhetorik der Menschenrechte und des Multikulturalismus die Untätigkeit der Schuldendisziplin und den ökonomischen Extraktivismus, seitdem die politischen Akteure in Lateinamerika zu institutionalisierten Opfern geworden sind, die um Unterkunft betteln. Dieser Lauf der Dinge kann so lange nicht in andere Bahnen gelenkt werden, bis die liberale Hegemonie in der Kultur herausgefordert und auf die Banalitäten, die sie beinhaltet, reduziert wurde. Die neue postmoderne Linke in Lateinamerika, die künstlich auf eine reiche populistische Tradition aufgepfropft wurde, deren Andenken die einstigen Parasiten raffiniert dem Vergessen anheimfallen lassen, kann vielleicht nur noch Desillusionierung und Anomie mit sich bringen. Die Beispiele dafür sind Legion.

Trojanische Pferde

Im Hinblick auf heute ist es offensichtlich, dass der atlantische Kapitalismus die fortschrittliche Linke als einfachen Weg zur geostrategischen Kontrolle seines traditionellen Hinterhofs für Rohstoffe auserkoren hat.

Tatsächlich stellt sich die sozialliberale Linke, die jeglicher proletarischer Anspielung beraubt wurde, als formvollendetes Trojanisches Pferd heraus, die die globalistische Agenda in ihrer neuen fortschrittlichen Inkarnation vorantreibt. Die jüngsten Entwicklungen bestätigen diesen Verdacht.

Petro, ein ehemaliger Guerrillakämpfer der zu einem clintonschen Speichellecker wurde, hat die Rolle Kolumbiens innerhalb der NATO bekräftigt, aber auch die buchstäbliche Besetzung des Karibikstaates mit dutzenden neuen, vom Pentagon finanzierten, Basen durch das US-Militär ausgeweitet. Inzwischen hat Boric in Chile das Verfahren für die Zustimmung zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP11) beschleunigt, eine Initiative die zuvor von Trump fallen gelassen und nun von der Diplomatie Bidens wiederaufgenommen wurde. Interessanterweise bewahrt die stärker traditionell orientierte Linke, die aus den echten revolutionären Prozessen in Mexico (1910), Kuba (1959) und Nicaragua (1979) hervorging, noch immer ihren revolutionären Elan.

Lulas Brasilien ist ein Musterbeispiel für die Zukunft des linken Populismus auf dem Kontinent. Die Brasilianische Arbeiterpartei PT ging aus den christlichen Gewerkschaften und Bauernkooperativen hervor. Dementsprechend drückte sich ihre Ideologie in Form von nationalistischen, kommunitaristischen und defensiv-modernistischen Tropen aus. Wie man diese ideologisch auch immer genau einordnen mag, letztlich bleibt Lulas erste Regierung dennoch ein neoliberales Experiment, versteckt hinter der Fassade einer inflationären, von oben nach unten tröpfelnden Politik der Umverteilung. Es ist also kein Zufall, dass Lulas Finanzminister und Zentralbankchefs aus der Drehtür von IMF-Goldman-Sachs kommen.

Nichtsdestotrotz kann sich Brasilien wegen seines demographischen Gewichts mit einem internen Markt rühmen, der eine minimalistische nationale Bourgeoisie ermöglicht, eine Schicht die danach strebt ihren Platz innerhalb des BRICS-Bündnisses zu stabilisieren. Daraus resultiert die neutralistische Haltung Bolsonaros gegenüber Russland, von wo Brazilien den Großteil seiner Düngemittel für die Sojabohnen erwarb, um China zu ernähren. Zukünftig könnte Lula das BRICS-Projekt entweder unterstützen oder es fallen lassen. Die Kreuzung verläuft zwischen der Real- und Finanzwirtschaft, da die Entwicklung des brasilianischen Wachstumsmotors von der chinesischen Nachfrage nach seinen Feldfrüchten abhängt, wohingegen die anglo-amerikanischen Dollar-Schulden-Mechanismen Brasilien immer noch an die westliche Hemisphäre ketten und es zur Unterwerfung unter diese zwingen.

Insofern ist es müßig zu sagen, dass die internationale Politik aus mehr als einem bloßen Reflex auf innere Angelegenheiten besteht, folglich wird die geplante Entnationalisierung und Extraterritorialisierung des Amazonasbeckens unter dem Vorwand des globalen Umweltmanagements ein entscheidender Moment für Lulas neue Regierung werden. Ein weiterer Punkt ist die Frage nach der zukünftigen Rolle von Petrobras, dem öffentlichen Ölunternehmen, dass aufgrund des herrschenden Klientelismus und Korruptionsfällen in seiner Entwicklung gebremst wird. Die Selbstversorgung mit Energie ist von großer Wichtigkeit für die nationale Entwicklung, Brasilien ist ein Rohöl Nettoexporteur, obwohl es hohe Preise für Konsumenten im Inland aufweist. An diesem Punkt bleibt nur zu hoffen, dass Lula sich vielleicht für einen Zugang im Sinne eines wirtschaftlichen Ressourcen-Nationalismus entscheiden könnte, um damit die neutralistische Diplomatie der BRICS-Staaten wieder zu stärken.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Markovics

 

[1]Augusto José Ramón Pinochet Ugarte (1915 – 2006), chilenischer General und von 1973 bis 1990 Diktator Chiles mit Segen der USA. War maßgeblich am 11.09.1973 am von den USA unterstützten Putsch gegen den kommunistischen Präsidenten Salvador Allende beteiligt. Seine Herrschaft gilt als Beispiel für die Verbindung von Technokratie und Autoritarismus. Während seiner Diktatur wurde Chile zum Experimentierfeld der neoliberalen „Chicago Boys“, eine Gruppe von den neoliberalen Ideen Milton Friedmans beeinflusste Wirtschaftswissenschaftler, die das sozialistische Land einer neoliberalen Schocktheraphie unterzogen – ähnliche Praktiken wurden nach dem Zusammenbruch der UdSSR in Osteuropa und der ehemaligen DDR angewandt. Unter Pinochets Herrschaft wurden mehrere tausend Regimegegner ermordet, mehr als eine Million Chilenen flüchteten vor seiner Herrschaft ins Ausland.

[2]Gabriel Boric Front (*11.02.1986), seit dem 11.03.2022 der 37. Präsident Chiles. Während der Proteste in Chile im Jahr 2019 bereitete er gemeinsam mit anderen Oppositionspolitikern einem Referendum über die Abänderung der chilenischen Verfassung den Weg. Sein Vorschlag wurde mit einer knappen Mehrheit abgelehnt.

[3]Eine Anitnomie (sinngemäß Unvereinbarkeit von Gesetzen) bezeichnet den logischen Widerspruch, bei dem die zueinander in Widerspruch stehenden Aussagen gleichermaßen gut begründet oder bewiesen sind.

[4] José Pedro Castillo Terrones seit dem 28. Juli 2021 der 64. Präsident Perus. Der ehemalige Schullehrer und Gewerkschaftsführer gilt als Linkspopulist, der sich der Neoliberalisierung der Linken verweigert und gesellschaftspolitisch konservative Positionen vertritt.

[5]Alberto Kenya Fujimori (*28.07.1938) Präsident Perus vom 28.07.1990 bis zum 17.11.2000. Fujimori wurde vor allem durch seine wirtschaftliche Schocktheraphie, die das Land stabilisierte und seinen brutalen Kampf gegen die maoistische Rebellengruppe Sendero Luminoso bekannt. Gegen Ende seiner Herrschaft flüchtete er nach Japan, wurde aber bei seiner Wiedereinreise nach Peru 2005 verhaftet. Wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen wurde er zu 25 Jahren Haft verurteilt. Darüber hinaus wird ihm die Zwangssterilisierung von hunderttausenden indigenen Frauen vorgeworfen.

[6]Streik der im Juni 1906 in der mexikanischen Bergbaustadt Cananea stattfand und als Vorbote der Mexikanischen Revolution von 1910 gilt.

[7]Jorge Rafael Videla (1925 – 2013) argentinischer General und Diktator Argentiniens von 1976 bis 1981. 1976 stürzte er gemeinsam mit den Kommandanten der argentinischen Marine und Luftwaffe die Populistin Isabel Perón. Videla wurde im Rahmen des „schmutzigen Krieges“ gegen die linke Opposition die Mitschuld am Mord von bis zu 30.000 Menschen vorgeworfen, ebenso wie der Entzug Neugeborener von ihren leiblichen Müttern und ihre Weitergabe an die Familien argentinischer Militärangehöriger. 2012 wurde er in Buenos Aires zu einer Haftstrafe von 50 Jahren verurteilt.