Multipolarität und traditionelle Weisheit

von | 07. Jan.. 2025 | Philosophie & Theorie

Prof. Dr. h.c. Hei Sing Tso ist Präsident der Schule für Guiguzis Strategemlehre, Hong Kong, China. Er forscht in den Bereichen Strategemkunde, Geopolitik und Diplomatie. Des Weiteren fungiert er als Vorsitzender der Society of Advanced Study of International Relations. Im Folgenden gibt der Autor eine Einführung in Guiguzi (Buch der Öffnung und Schließung) sowie in die geopolitische Gedankenwelt Chinas sowie Russlands. Es handelt sich um eine erweitere Fassung seines auf geopolitika.ru erschienen Beitrags vom 11.10.2024. Der Text wurde von Alexander Markovics aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Die Redaktion

 

Alexander Dugins Konzept der Multipolarität ist eine großartige Idee. Die Multipolarität stellt sowohl einen Trend als auch eine Strategie dar. Die Zivilisationen werden die Nationen in der Geopolitik ersetzen. Europa, Russland, China, der Iran usw. stellen Kräfte dar, die ein Gleichgewicht gegen die Angelsachsen und Globalisten bilden. In einer multipolaren Welt können Strategie und Taktik aus der alten Weisheit verschiedener Zivilisationen abgeleitet werden. Während der Periode der Streitenden Reiche im antiken China (474-221 v.Chr.)1 gab es eine alte Denkschule der Diplomatie, deren Gründer als ein mysteriöser Denker bekannt war: Guiguzi. Er war ein Universalgelehrter, Wissenschaftler und Praktiker. Sogar Oswald Spengler lobte Guiguzis Weisheit in den höchsten Tönen. Guiguzis Denken entsprang dem Yijing2 (auch: I Ging) oder ebenfalls “Buch der Wandlungen” genannt. Er ist der Vater des traditionellen chinesischen Strategems das auch Moulüe genannt wird, dass, so bin ich der Meinung, zum Aufbau einer wahren Multipolarität in den Augen von Prof. Dugin beitragen kann.

Es gibt wenige Kernideen in Guiguzis Denken. Der erste lautet, dass die Psychologie physischen Waffen überlegen ist. Im Gegensatz zum System der Nationen sind der Krieg der Ideen und die Massenpsychologie essenziell für die Multipolarität. Angelsachsen und Globalisten streben immer nach Mondernismus, Postmodernismus, Transhumanismus und Fortschrittsdenken. Um darauf passend antworten zu können, sollten die multipolaren Zivilisationen zu ihren Traditionen und konservativen Werten zurückkkehren. Um dies erreichen zu können, sollte zwischen Russland, Europa, China und anderen eine vereinte Front des Denkens geschaffen werden mit dem Fokus auf traditionellen Werten und Weisheit. Diese Zivilisationen können voneinander durch Dialog lernen, was zu einem Synergieeffekt führt. Das orthodoxe Christentum, der Taoismus und Rumis3 Denken verfügen möglicherweise über Gemeinsamkeiten die zu vergleichenden Studien einladen.

Guiguzi zufolge umfasst die Kosmologie die physische Welt. Folglich sollten wir nicht nur an sichtbaren Dingen wie der Wirtschaft, Technologie und der Materie teilhaben, sondern auch das unsichtbare Universum betrachten, wenn wir über die Staatskunst und Strategie nachdenken. Diese Vorgehensweise steht in einer Linie mit der traditionellen Weisheit der Zivilisationen Eurasiens. Denker wie Goethe, Oswald Spengler, Carl Gustav Jung, Nostradamus, die russischen Philosophen und sogar die Theoretiker des Enneagramms übernahmen einen ähnlichen Zugang. Das Wissen darum, wie man die unsichtbare Natur mit menschlichen Angelegenheiten verbindet, kann zu einem Schlüssel für den Kampf in der kommenden multipolaren Ära werden. Etablierte “Rationalisten” im Westen behaupten, dass es sich bei diesen Strömungen um Formen der “Pseudowissenschaft” handelt. Tatsächlich lehnen die den Markt beherrschenden Pharmafirmen die traditionelle chinesische Medizin aus Furcht vor Konkurrenz ab.

Drittens behauptete Guiguzi, dass die metaphysische Kunst rohe Macht schlagen kann. Kunst bedeutet Strategeme, Staatskunst, Taktik usw. All dies kann aus der Metaphysik abgeleitet werden. Für die chinesische Weisheit bedeutet Metaphysik “Tao”. Folglich sollten Strategie und Politik auf die Erfüllung höherer Ziele der Metaphysik in verschiedenen Zivilisationen abzielen. Im Vergleich mit der rohen Macht trägt die geopolitische Kunst der Metaphysik das Gewicht der Sittlichkeit, Reichhaltigkeit und Kreativität mit sich. Die Ubuntu-Diplomatie in Afrika ist nur ein Beispiel hierfür.

Guiguzis Lehren beinhalten viele Strategeme und Tricks, die nicht allesamt in diesem kurzen Artikel aufgelistet werden können. Aus seinen 72 Strategemen ist jedoch eines besonders erwähnenswert, welches unter dem Titel “Altes wegschieben, um Neues hervorzuheben” bekannt ist. Dies bedeutet, dass wir alte Dinge auf neue Art verwenden. Die Menschen neigen dazu Dinge leicht aufzugeben, auch in der Politik, insbesondere während Reformen und Revolutionen. Dies ist der Regelfall in Wissenschaft und Technologie. Guiguzi lehrt uns, dass alte Dinge, Ideen miteingeschlossen, sehr nützlich sein können, wenn man sie geschickt adaptiert. Im Jahr 2022 schwenkte eine alte ukrainische Frau eine rote Sowjetfahne. Auch wenn die Sowjetunion nicht mehr existiert, würde niemand erwarten, dass sie noch immer sehr nützlich auf dem Schlachtfeld ist.

Als Photos von dieser Frau im Internet unter dem Namen „Babushka Z“ bekannt wurden, hatte dies einen psychologischen Effekt auf einige Ukrainer hinsichtlich ihrer Verbindung mit Russland.

In der kommenden Multipolarität werden alte Weisheiten eine sehr wichtige Rolle dabei spielen uns mit Theorie und Strategie für zukünftige Herausforderungen auszustatten.

Der Katechon

Wenn wir von der Multipolarität sprechen, dürfen wir das eschatologische Konzept des Katechons nicht ignorieren. Bei dem deutschen Denker Carl Schmitt handelt es sich um den einzigen Theoretiker, der dieses Konzept in einen politologischen Zusammenhang setzte. In seinen Werken erwähnte Schmitt die Identität des Katechons am Beispiel der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches. Doch für die Zukunft stellt sich die Frage, wer der wahre Katechon sein wird. Dieses Thema ist von außerordentlicher Wichtigkeit, wenn wir eine effektive Multipolarität in der Endzeit aufbauen wollen. Es handelt sich dabei um unser ultimatives strategisches Ziel für die gesamte Menschheit. Einige behaupten, dass es sich beim Katechon um eine souveräne Macht wie ein Reich handelt, eine Nation oder eine Organisation. Es scheint, dass Schmitt dabei gezögert hat eine solche Entität als Katechon der modernen Welt zu bezeichnen. Einige Gelehrte begannen damit von den “Entitäten der Macht” abzugehen und sich der eigentlichen „erschaffenen Ordnung“ zuzuwenden. Der Fokus liegt nicht auf einer bestimmten Entität, sondern auf einer Ordnung, die erschaffen wurde, um das Böse zurückzuhalten. In dieser Hinsicht denke ich, dass Guiguzis Weisheit von den chinesischen Strategemen dabei helfen kann dieses Problem zu lösen.

Guiguzi begründete ein Strategem das unter dem Namen “Fliegen, fangen um die Macht zu zerstören“[1]. Fliegen bedeutet an dieser Stelle unsichtbare und verschiedene Mittel anzuwenden. Fangen bedeutet eine Macht zu erschaffen, um eine andere Macht einzugrenzen. Die erschaffene Macht verhält sich wie ein unsichtbarer Käfig, der den Feind oder die Macht bedeckt. Der Feind wird von diesem unsichtbaren Käfig in alle Himmelsrichtungen hin eingegrenzt, eingewickelt und paralysiert. Ich denke, dass dieses Strategem perfekt zu jener Rolle passt, die vom Katechon eingenommen wird. Das Konzept des Käfigs bedeutet mehr als Macht und Ordnung. Es dient als dynamischer und taktischer Zugang zum Katechon. Es stellt ein dreidimensionales Konzept und eine Metapher dar.

Das Bündnis der Zivilisationen

In der wahren Multipolarität bilden die Zivilisationen, nicht die Nationalstaaten, das wahre Rückgrat. Wie bereits von Professor Dugin hervorgehoben, spielt Russland als Zivilisation die Rolle der Speerspitze gegen die angelsächsische Ordnung. Für eine strategische Analyse müssen wir uns dem großen Historiker und Denker Oswald Spengler zuwenden. Spengler zeigt auf, dass die russische Zivilisation sich komplett vom Westen unterscheidet. Der russische Denker Nikolai Berdjajew bestätigt ebenfalls, was Spengler beschreibt: Die russische Seele besitzt eine Vorliebe für das Unendliche, wie die große Ebene Russlands nahelegt. Spengler tätigte weiters die Aussage, dass Russland die petrinischen Reformen und die Fallstricke des späten Westens abgeworfen hatte. Die Neuausrichtung Russlands nach Asien ist eine neue Idee und eine Idee mit Zukunft”, so Spengler. Russland blickt hin zu einem “Osten” der auf jeden Fall China miteinschließt.  Es ist daher nur logisch, wenn sich Russland mit China beschäftigt, um seinen eigenen Geist zu verwirklichen.

Andererseits benannte Spengler den Geist der chinesischen Zivilisation mit “Tao”, was buchstäblich “Weg” bedeutet, ohne dies im Detail zu erläutern. In meinen Augen können sich China und Russland im Zusammenhang des chinesischen Strategems ergänzen. Russland könnte dabei die Rolle des Yang-Strategems[2] spielen, analog zur “unendlichen Ebene“ die oben erwähnt wurde. Der Kreml unternimmt offene, aktive und militärische Schritte als Teil seiner Strategie, China andererseits spielt das Yin-Strategem, das der Philosophie des Taoismus ähnelt. Peking kann subtile, verdeckte Soft-Power-Ansätze verwenden, um seine Feinde zu verwirren. Sie müssen kein formelles Bündnis wie die NATO schließen, stattdessen sollten China und Russland einen unsichtbaren Käfig erschaffen, der als wahrer Katechon dient, um die bösen Mächte einzufangen und zurückzuhalten.

1Während dieser Periode gab es viele Adelige die über verschiedene Königreiche herrschten, obwohl eine zentrale Monarchie existierte.

2 Das Yijing ist einer der ältesten klassischen Texte des antiken Chinas. Die Originalfassung umfasste als Hexagramme bezeichnete Symbole, die aus einer Kombination aus zwei Einheiten bestanden, den Yin- und Yang-Halmen. Das Yijing prägte das gesamte öffentliche Denken und seine Konzepte, wie den Konfuzianismus und Taoismus sowie esoterische Themen wie Feng Shui und sogar die traditionelle Medizin und Kampfkünste.

3 Jalāl al-Dīn Muḥammad Rūmī (Persisch: جلال‌الدین محمّد رومی) oder einfach Rumi (Geboren am 30. September 1207 – verstorben am 17. Dezember 1273) war ein Dichter des 13. Jahrhunderts, islamischer Gelehrter und Sufimystiker.

[1] Das Strategem “Fliegen, fangen, um die Macht zu zerstören” ist ein Strategem das im Laufe der Geschichte mündlich übertragen wurde. Seine Essenz kann jedoch bis zum ersten Kapitel des 2. Buchs von Guiguzi mit dem Titel „Einfangen – Fangen” zurückverfolgt werden. Eine englische Übersetzung des Buches von Guiguzi kann in der folgenden Doktorarbeit gefunden werden: Michael Robert Borschat: “Guiguzi: A Textual Study and Translation”. University of Washington Ph.D Thesis, 1985

[2] Ying und Yang kommen aus dem chinesischen Buch der Wandelungen oder auch Yijing/I Ging. Dem Yijing zufolge besteht das Universum aus zwei polar entgegengesetzten Kräften, Ying und Yang. Ying bedeutet weich, Mond, schwach usw., wohingegen Yang hart, Sonne und stark bedeutet. Ying und Yang formen ein dialektisches Ganzes. Dies trifft auch auf das davon abgeleitete Strategem zu. Ying stellt ein weiches, offenes Strategem dar, wohingegen Yang ein hartes, verdecktes Strategem darstellt. Jedoch kann jedes der beiden auf eine dynamische Art in zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort in das andere verwandelt werden. Dies mag paradox erscheinen, ist jedoch Teil der traditionellen Weisheit.