Die Postmoderne Kriegsführung sieht alt aus

von | 12. Dez. 2023 | Standpunkte

Der folgende Text stammt von Marco Malaguti und wurde bereits in der AGORA EUROPA 4 veröffentlicht. Hierbei handelt es sich jedoch, anders als in der AGORA, um die Übersetzung von Franz-Michael Kilter. Zwar liegt der eingangs angesprochene erste Einsatz der SS-N-33 Zirkon – Rakete nun schon etwas in der Vergangenheit, das Thema hat jedoch nichts an Brisanz verloren. Viel mehr soll es an dieser Stelle nochmals aufgegriffen werden, da der Krieg im Osten weiter tobt, während der mediale Fokus den Konflikt im Gazastreifen liegt. 

 

Postmoderne Kriegsführung trifft auf die Antike – Informationstechnologie und künstliche Intelligenz schreiten voran. Indes den Soldaten zu ersetzen, bleibt weiterhin eine Utopie

 

Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift erreichten mich die Nachrichten über den erfolgreichen Einsatz der neuen russischen SS-N-33 Zirkon- Rakete. Als Kronjuwel der russischen Militärtechnologie bekannt und gerade aus dem Arsenal der Föderation entlassen, startete sie von der Fregatte Admiral Gorschkow, um mehrere Tests im Nordatlantischen Ozean abzuschließen, wobei es ihr gelang, über 900 Kilometer entfernte Ziele erfolgreich zu bekämpfen. Hauptsächlich als Seezielflugkörper konzipiert und entwickelt, sorgt sie aktuell mit ihrem Flug über dem ukrainischen Schlachtfeld für Schlagzeilen und steht damit auch symbolisch für die den aktuellen Bedürfnissen angepasste taktische Neuorientierung der Russen – doch nicht nur das: In einem klassischen Landkriegszenario bei der Operation gegen Bodentruppen der Ukrainischen Streitkräfte musste sich der eigentlich zur Brechung der maritimen angloamerikanischen Seevormachtsstellung konstruierte Flugkörper zweckentfremdet bewähren. Dieser Bruch, eine so fortschrittliche, den vermeintlichen Bedürfnissen postmoderner Kriegsführung angepasste Waffe auf dem „einfachen Schlachtfeld“ wiederzufinden, veranschaulicht gut den Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit:  Die Zirkon erlebt ihre Feuertaufe in einem Krieg, der weithin Assoziationen mit seinen Vorgängern aus dem zwanzigsten Jahrhundert weckt. Der Kontext ihres Einsatzes besteht aus dem Wirrwarr sich durch die Landschaft schlängelnder Gräben; dem Duell gepanzerter Fahrzeuge und verlustreicher Häuserkämpfe – etwas, was so völlig entgegen ihrer eigentlichen Konzeption steht. Der Ukrainekrieg bringt all die Bilder und Empfindungen eines als längst überlebt geglaubten Zeitalters ins Gedächtnis zurück und dies nach Dekaden asymmetrischer Konflikte, die der Westen gegen die zerlumpten Kämpfer der Zweiten oder Dritten Welt bestritt. Wer hätte sich vor zwei Jahrzehnten noch vorstellen können, dass die Zukunft wieder aus Schützengräben und dem Einbestellen von Heeren aus Wehrpflichtigen bestehen würde? Und doch ist dies die Realität, in der wir leben müssen. Ist es uns anhand der Grundlage der aktuellen Ereignisse überhaupt noch möglich, die Kriegsführung der Zukunft zu ersinnen? Es ist, vorausgesetzt wir beziehen die beobachtete extreme Wandlungsfähigkeit, die selbst vor den größten Überraschungen nicht zurückzuschrecken scheint, in unsere Rechnung mit ein.

(Sparten)Domänenübergreifende Konflikte

Wie bereits eingangs beschrieben, führt der Ukrainekrieg alle Behauptungen ad absurdum, Kriege der Zukunft könnten so gut wie vollständig an Roboter bzw. unbemannte Fahrzeuge und den IT-Sektor ausgelagert werden. Daraus resultiert, dass künftige Begegnungen auf dem Schlachtfeld nicht allein von kybernetischen Organismen, sprich in Vertretung der Menschen, nun von Maschinen ausgefochten werden, sondern zu einer komplexen Gemengelage werden. Man kann dies indes auch als Weiterentwicklung des Konzeptes des „totalen Krieges“ bezeichnen, welches ohne seinen Ursprung zu verlassen, weiterhin an Land, in der Luft und auf der See seine Anwendung findet. Dies geschieht in ähnlicher Weise, wie der „totale Krieg“ im 20. Jahrhundert alle Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens eines Landes beanspruchte, aber in radikal anderer Form: Das eigentliche Bombardement wird online flankiert von aggressiven Cyberattacken (z.B. auf die Infrastruktur)  und Methoden zur Meinungsbeeinflussung und Stimmungsmache (Propaganda, Gegenpropaganda, Faktenchecker, etc.) , in welche auch neutrale Staaten miteinbezogen und zu einem Schauplatz des spartenübergreifenden Konfliktes werden. Das Hineinplatzen des kybernetischen Sektors in die klassische Kriegsführung, im Einzelnen vielleicht als störend und herausfordernd empfunden, verlässt jedoch nicht deren Regularien, sondern findet in ihnen vielmehr seine Integration. Die Logistik der Armeen von morgen wird sich nicht länger auf die Koordinierung und Versorgung der Bodentruppen beschränken, sondern muss diese auch in Einklang mit den intensiven Aktivitäten der Cyberkriegsführung bringen, die in zukünftigen Konflikten ihre Forderung stellen.

Krise der alten Paradigmen

Waffen, wie die bereits erwähnte Zirkon (und ihre westlichen Äquivalente),  rütteln zunehmend an dem im Zweiten Weltkrieg etablierten Grundsatz, dass jener Partei der Sieg zufalle, die sich im Besitz der Lufthoheit befinde und dies nicht nur, weil es Völker (wie in Afghanistan und Vietnam) gibt, die bereit sind, den sich aus diesem Nachteil ergebenen Preis zu zahlen, sondern durch den Fortschritt auf dem Gebiet der Raketentechnologie. Paradoxerweise führt eben dieser genannte Umstand, der in der Lage ist, jedes hochmoderne Kampfflugzeug zu gefährden, dazu, dass große Manöver von Bodentruppen und gepanzerten Fahrzeugen wieder an Bedeutung gewinnen. Die enge Zusammenarbeit zwischen Raketen (Kalibr, Zirkon und Kinschal im Falle Russlands – HIMARS für die Ukraine) und Truppen am Boden hat die Rolle der Luftfahrt auf eine fast zweitrangige Ebene verwiesen. Etwas Undenkbares in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber paradoxerweise die Rolle typischer Paradigmen der ersten wiederbelebt: die Bedeutung der Anzahl der beschäftigten Männer, die Qualität der gepanzerten Fahrzeuge, die gute Organisation der Logistikketten und vieles mehr. Das Wiederauftauchen dieser Paradigmen, von denen wir glaubten, dass sie in alten Militärgeschichtsbücher ihre Verbannung fanden, trifft sowohl westliche als auch russische als auch neutrale Experten unvorbereitet und das mit Implikationen, die selbst in den Zivilgesellschaften, in denen der Mythos einer sich zunehmend entmilitarisierenden Gesellschaft und den Bellizismus verdrängenden Geisteshaltungen bisher fortlebte, mit schwersten Auswirkungen.

Transhumanismus auf dem Schlachtfeld

In diesem Sinne verdrängt das Wiederaufleben der Bedeutung des einzelnen Soldaten die Technologie nicht ins völlige Abseits; vielmehr ruft es nach einer Koordination und Waffenbruderschaft, die sowohl die Technik als auch das Individuum integriert. Damit eröffnen sich auch Möglichkeiten, die man vorher nur dem Bereich der Science-Fiction zurechnete. Exoskelette und hochgradig computerisierte Anzüge sind bereits Realität (zum Vergleich: das russische Panzerungssystem Ratnik-3), aber die militärische Forschung ist selbst darüber schon weit hinausgegangen. In allen drei großen Militärmächten des Globus befassen sich die militärischen Forschungseinrichtungen mit der Verbindung der künstlichen Intelligenz und des menschlichen Körpers. So effizient die derzeit von den Streitkräften der Welt eingesetzten KIs im Kontext klar definierter Operationen auch sind, im Kontext der Reaktionsflexibilität angesichts unvorhergesehener Situationen ist ihre Leistung weiterhin mangelhaft und nicht ansatzweise dazu geeignet, den Menschen auf diesem Feld zu ersetzen.

Um diese Lücke zu schließen, arbeiten viele Labore, von denen, wie wir im Falle der französischen Streitkräfte auch wissen, einige in Europa angesiedelt sind, an Projekten wie bionischen Implantaten oder Augmented Reality als Ausrüstung für den Soldaten.

Natürlich sind wir selbstredend noch weit entfernt von den kybernetischen Organismen (Cyborgs) und der Science-Fiction, dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ziele gesetzt und die Forschung viel weiter reicht als gemeinhin in der Öffentlichkeit eingestanden wird.

Vom Mikrokosmos in den Makrokosmos

Angesichts der Vielzahl an Innovationen, derer wir uns konfrontiert sehen, ist es legitim zu fragen, ob die Kriegsführung in den 1940er Jahren wirklich total war oder ob wir erst jetzt die Ära der totalen Konflikte, die nicht mehr nur Nationen sondern selbst das Individuum und seinen Körper inkludieren, betreten. Doch wenn der Krieg damit beginnt, in die Sphäre des Mikrokosmos des menschlichen Körpers einzutreten, so wird er sicher auch keinen Halt vor dem Makrokosmos, dem Weltall, ja dem Universum machen. Sowohl die Geschichte des Films als auch die Geschichte im Allgemeinen hat uns mit mehreren Entwürfen zur Evolution der Kriegstechnologie bis hin zum Interstellaren, von denen wohl die „Sternenkriegstheorie“ – obwohl niemals praktiziert – des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagon am bekanntesten ist. Und auch hier setzte man trotz des Falles des Eisernen Vorhanges und eines  vermeintlichen „Ende(s) der Geschichte“ die Forschung fort. Wie bekannt wurde, haben die Vereinigten Staaten 2019 dafür extra eine spontane Eingreiftruppe USSF (United States Space Forces)  mit Hauptquartier auf der Peterson Space Force Base in Colorado Springs aufgestellt.

Die USSF, die übrigens eine wichtige Rolle bei der Übermittlung sensibler Daten wie zum Beispiel russischer Truppenbewegungen an die Streitkräfte der Ukraine spielt, betreibt, soweit bekannt ist, rund einhundert Satelliten, die wie sich herausstellte, gut mit dem privaten Satellitennetzwerk „Starlink“ eines Elon Musk kooperieren. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass andere Länder an Gegenmaßnahmen arbeiten, so wie beispielsweise Russland, welches mit dem „S-500 Prometheus“ – Raketenabwehrsystems nun die Möglichkeit besitzt, neben Objekten der Luftfahrt auch Ziele in der niederen Erdumlaufbahn (wie eben Militärsatelliten) zu treffen. Auch hier sind wir noch weit entfernt von den Raumschiffduellen, die sich ein George Lucas ersann, aber der Weg ist bereitet und der Schlüssel wieder einmal das Zusammenspiel künstlicher Intelligenz und Digitaltechnologie, wie es sich in dem 2006 für die USA in den Dienst gestellten unbemannten Raumgleiters Boing X-37, der im Übrigen anfällig für den Beschuss der „Prometheus“ ist , manifestiert.

Der Totale Krieg als Schicksal

Eine derartige Bandbreite an Veränderungen, die, über den normalen Fortschritt im militärischen Sektor von gepanzerten Fahrzeugen bis hin zu großen Flugzeugträgern hinausgeht, betrifft, wie bereits erwähnt, alle Facetten der menschlichen Existenz und geht sogar so weit, seine Natur verändern zu können. In diesem Szenario wird der Krieg nicht nur durch die schiere Anzahl an durch ihn berührten Bereichen domänenüberwindend, er wird auch zu einem permanenten ontologischen Zustand. Die Grenze zwischen Krieg und Frieden verengt sich daher am Ende zu einem Konfliktzustand, der ständig zwischen heißen Phasen (Krieg, wie wir ihn kennen, wie der in der heutigen Ukraine) und kalten Phasen (mit auf die IT-Sphäre beschränkten Angriffen und Psy-Ops) schwankt, aber nichtsdestotrotz niemals aufhört, zu bestehen. Natürlich sind die dadurch entstandenen gesellschaftlichen Implikationen enorm und führen das Thema immer neuer explodierender Konfliktherde mit dem des immer weiter angewandten Paradigmas des permanenten Ausnahmezustands, mit seinem Apparat an Sonder- und Notstandsgesetzen, zusammen. Letztendlich wird der Krieg im Zeitalter des sich verflüssigenden Kapitalismus und sich verflüssigender Gesellschaften einen neuen Wurzelstock bilden und mit den gegenwärtigen Machtstrukturen verschmelzen, um in einer Art Karikatur früherer primitiver Gesellschaftsformen sein Dasein zu finden. Wie viel Raum in solch einer Modellrechnung noch für den Menschen ist, bleibt das Rätsel, das sich all jene stellen müssen, die in das Studium dieser Problematik eintauchen.