Peter Backfisch untersucht, warum es in den USA keinen Sozialismus gab und wie die Entwicklungen der letzten Jahre die US-Dominanz herausfordern. Die Redaktion
In der Zeitschrift Agora-Europa Nr.6, widmet sich der Romanautor und politische Essayist Cristián Barros dem Werk des Wirtschaftshistorikers und Sozialreformers Werner Sombart. Ursprünglich beeinflusst von Karl Marx. Friedrich Engels sah in ihm den „einzigen Professor, der das Kapital wirklich verstanden hat“. Er beschäftigte sich später mit den Lehren Max Webers und schrieb über Entwicklungen im modernen Kapitalismus seiner Zeit, wobei soziale Bewegungen im Mittelpunkt standen. Nach seinem Besuch der Weltausstellung in St. Louis, 1904, gemeinsam mit Max Weber, war für ihn klar, das Proletariat wird den Kapitalismus nicht stürzen. Seine Erfahrungen verarbeitete er in dem Buch, „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus“. Diese Fragestellung soll der Ausgangspunkt dieses Essays sein.
Die Vereinigten Staaten blieben auch nach ihrem Unabhängigkeitskrieg gegen die britischen Kolonialisten weiterhin ein Kind seiner europäischen Erzeuger, man könnte auch sagen, sie blieben deren missratenes Kind. Gerade weil die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise sofort nach dem Friedensschluss mit den Briten und der Staatsgründung einsetzte, sind die USA von Anfang an als die erste linke Zivilisation der Welt zu sehen oder wie Alexander Dugin es formulierte ein „Experiment der Moderne“. In ihren vom Liberalismus geprägten ideologischen Grundlagen trat man für eine Gesellschaft ein, die auf der Freiheit des Einzelnen und der Wahrung des Rechts basierte. Für die indigene Urbevölkerung, und die afrikanischen Sklaven, galten die festgeschriebenen Freiheitsrechte allerdings von Anfang an nicht. Auch die arme weiße Arbeiterschaft und die Bauern waren in den ersten 140 Jahren mit Rechtlosigkeit und Ausgrenzung konfrontiert.
Von Anfang an misstrauten die Anführer der Revolution dem armen Pöbel, den sie in den hereinströmenden weißen Einwanderern und den aus dem Militärdienst ausgeschiedenen Soldaten sahen. Sklaven und Indianer waren in den ersten Jahren kein Thema, da die Revolutionsideen auf sie keine Anziehungskraft ausübten. Im ersten Schritt ging es um die Verteilung des Landes, welches man von den fliehenden Loyalisten konfiszierte. Großes, vor allem wertvolles Land ging sogleich überwiegend in den Besitz der Revolutionsführer und ihrer Unterstützer über. Etwas Land, kleine Parzellen, reservierte man aber auch für Bauern, um damit eine einigermaßen tragfähige Basis der Unterstützung für die neue Regierung herzustellen. Der enorme Reichtum an Ressourcen in Neuengland machte es möglich, dass Handarbeiter, Arbeiter, Seeleute sowie kleine Bauern durch Revolutionsrhetorik, Kameradschaft des Militärdienstes und Verteilung von kleineren Parzellen Land, für die neuen Ideen gewonnen werden und somit ein „Geist für Amerika“ entstehen konnte. Die größte Gruppe der Besitzlosen aber, konnte nur ein Dasein als Pächter auf den riesigen Anwesen der Großgrundbesitzer führen und mit den Erträgen ihre Familien nicht ernähren. Bereits 1776 gab es die ersten „Pächteraufstände“ gegen die riesigen Feudal-Anwesen.
Im Süden des Landes wuchsen die großen Plantagen, im Osten entwickelten sich erste Fabriken und Handelsorganisationen, die bis 1850 die Industrialisierung schnell voranbrachten. 75 Jahre nach der Unabhängigkeit kontrollierten in Neuengland fünfzehn Familien („Associates“), 20 Prozent der Baumwollspinnereien, 39 Prozent des Versicherungskapitals in Massachusetts und 40 Prozent der Bankreserven in Bosten. Die Fabrikbesitzer waren mächtig geworden und organisierten sich. Für Handwerker und Arbeiter war dies ein weitaus schwierigerer und langwierigerer Prozess. Die Stimmen, die die soziale und politische Ordnung immer weniger akzeptierten, nahmen zu, da sich Armut ausbreitete und sogar verstärkte. Widerstandsformen, in Formen größerer Streiks waren noch lokal begrenzt und organisatorisch nicht zusammengefasst. Noch fehlten Arbeitervereinigungen und Gewerkschaften.
Mit Ausbruch des Bürgerkrieges gewannen nationale Angelegenheiten die Oberhand über Klassenfragen. Die politischen Parteien verlangten Patriotismus für die nationale Sache des Landes und die Zurückstellung eigennütziger Interessen, dabei verdeckten sie die wirtschaftlichen Ursachen des Bürgerkrieges und vor allem die Tatsache, dass es das politische System selbst war sowie dessen Nutznießer, die reichen Klassen, die für die wachsenden sozialen Probleme verantwortlich waren.
Die Klassengegensätze blieben weiter bestehen und vergrößerten sich schnell, was unmittelbar nach dem Bürgerkrieg zu einem noch heftigeren Aufflammen der sozialen Auseinandersetzungen führte, die mit dem großen Eisenbahnerstreik 1877 in St. Louis einen ersten Höhepunkt fanden. Am Ende waren einhundert Tote zu beklagen, weitere Tausend Arbeiter wurden verhaftet und saßen im Gefängnis. Von den 100.000 Streikenden wurden die meisten entlassen und waren nun arbeitslos. Dieser große Streik fand viel Beachtung in Europa, Marx schrieb an Engels: „Was denkst Du über die Arbeiter der Vereinigten Staaten? Diese erste Explosion gegen die assoziierte Oligarchie des Kapitals seit dem Bürgerkrieg wird natürlich wieder unterdrückt werden, könnte aber sehr wohl den Ausgangspunkt für eine Arbeiterpartei bilden.“ (Howard Zinn, Eine Geschichte des amerikanischen Volkes, S.244).
Der Streik von 1877 war der erste große Streik in den USA, der von einer Arbeiterpartei geführt wurde. Noch war sie winzig und nur lokal, aber sie hatte großen Einfluss auf die Gründung zahlreicher Gewerkschaften in den 1880er Jahren. Diese organisierten mehr und mehr den Widerstand der Arbeiter. Erste Forderungen nach Errichtung einer sozialistischen Ordnung wurden lauter. Die Bewegung schuf sich Führer, die über die USA hinaus bekannt wurden. So Alexander Berkman, Emma Goldman und Eugen Debs, Vorsitzender der sozialistischen Partei der USA und fünfmal Kandidat für das Amt zum US-Präsidenten. Berkman und Goldman spielten später 1917 und 1918 eine führende Rolle in der russischen Revolution. Nach Unterstützung des Aufstandes der Matrosen von Kronstadt gegen die Sowjetmacht von 1918 wurden sie von den Bolschewiki in die USA abgeschoben obwohl bekannt war, dass sie dort die Verhaftung erwartete.
In den 1880er und den 1890er Jahren waren die Produktivkräfte so weit entwickelt und die Lage der arbeitenden Klasse von Verelendung gezeichnet, dass eine Situation vorherrschte, die zu einer sozialistischen Revolution hätte führen können. „Hunderttausende von Amerikanern begannen an den Sozialismus zu denken.“ (Howard Zinn, ebenda, S. 330.) In Europa hatte man zu diesem Zeitpunkt mit Einführung von Arbeiterrechten und sozialen Standards die Situation bereits entschärft. Hier kommen wir nun zu Sombards Festlegung zurück „warum es in Amerika nie einen Sozialismus gab?“ Heute wissen wir, dass es ihn nie hat geben können.
Was waren die Gründe?
Kriege eröffnen den Herrschenden immer Möglichkeiten das Volk auf einen gewissen Patriotismus zu vereinen. So führten militärisch-wirtschaftliche Auseinandersetzungen zwischen den USA und dem Königreich Spanien 1898 zu einem Krieg, der zur Inbesitznahme von Kuba, Puerto Rico, Guam führte. Damals blieb unklar, ob diese überhaupt zurückgeben werden. 1899 fand dieser Krieg eine Fortsetzung um die Philippinen. Es sollen dabei zwischen 200.000 und 1.000.000 Zivilisten ums Leben gekommen sein. Der Krieg dauerte bis 1902, auch er endete mit der Inbesitznahme der Insel.
Um die Jahrhundertwende bildete sich die erste amerikaweite Arbeitergewerkschaft, die American Fédération of Labor, AFL. Es zeigten sich jedoch von Anfang an erhebliche Mängel, die einer einheitlichen wirkungsvollen Kampfmoral abträglich war: fast alle Mitglieder waren männlich, fast alle weiß, fast alle ausgebildete Arbeiter. Rassistische Einstellungen gegen Schwarze waren weit verbreitet. Die Funktionäre bezogen hohe Gehälter und verkehrten in Arbeitgeberkreisen, sie pflegten einen konsumorientierten Lebenswandel. Es ist verbrieft, dass ein Funktionär der AFL, dem Finder seines verlorenen goldenen Rings im Wert von $ 1.000 diesem anlässlich eines Baseball-Spiels eine $ 100 Note als Finderlohn gegeben hat, die er von einer Rolle von Geldscheinen abwickelte, welche er in der Hosentasche hatte.
Der Hauptgrund der Befriedung der Arbeiterschaft ist aber in dem um 1904 einsetzenden Reformprozess zu sehen. Präsident Theodore Roosevelt sah darin die einzige Möglichkeit der wachsenden Stärkung der Sozialisten Herr zu werden. Gegen den Widerstand seitens der Arbeitgeber wurden gesetzliche Veränderungen auf den Weg gebracht, die sich in Arbeiterschutzrechten spiegelten. Führende Wirtschaftswissenschaftler sahen darin die einzige Möglichkeit die Interessen der Großindustrie zu stabilisieren.
Mit dem Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg 1917 war das Gespenst des Sozialismus in den USA endgültig vom Tisch. Die USA waren die führende Weltmacht geworden und die Politik wurde von da an von anderen Interessen geleitet.
Der Liberalismus als Ideologie der Moderne mit ihrer quasireligiösen Verheißung der Menschheitserlösung lässt sich bis in früheste britische Kolonisierung zurückverfolgen und bekommt mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine ideologische Festschreibung. Sie hatte einen ersten Sieg davongetragen. Bis 1945 prägte die neue Weltmacht im Bündnis mit Großbritannien und Frankreich die europäische Welt, inklusiv in deren Kolonien. Eine gravierende Umgestaltung trat mit dem Ende des 2. Weltkrieges ein, aus dem auch die Sowjetunion als Sieger hervorgegangen war. Von nun an sah sich die Welt einer biopolaren Welt, mit zwei Weltmächten ausgesetzt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 waren die USA „die einzige Weltmacht“ geworden (Zbigniew Brzezinski).
Kommt jetzt die multipolare Weltordnung?
Nach den zahlreichen nicht erfolgreichen Kriegen des Westens der letzten Jahrzehnte wird immer öfters behauptet, dass die US-dominierte Weltordnung sich in einem Niedergang befindet und durch eine multipolare abgelöst wird. Den sogenannten BRICS-Staaten wird zugetraut diesen Wandel herbeiführen zu können, dies deshalb, weil die maßgeblichen Akteure, China, Indien, Russland, Brasilien, Iran und die arabischen Staaten über geeignete materielle Machtressourcen verfügen und gleichzeitig mehr und mehr den politischen Willen entwickeln, sich der US-Dominanz zu entziehen. 2009 hatten sich 10 Länder erstmals in Jekaterinburg, Russland getroffen um bis 2025 (Rio de Janeiro) immer stärker und einflussreicher zu werden. Inzwischen haben 40 Länder ihr Interesse bekundet. Ende August 2025 fand in Tianjin China eine Zusammenkunft der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) statt. Dieses Bündnis aus mehreren BRICS-Staaten verabschiedete eine Deklaration, die den Charakter einer geopolitischen Selbstbehauptung hat und zukünftigen Ziele formuliert. Kernpunkte des Dokuments sind:
- Der Gründung einer SOZ-Entwicklungsbank
- Keine Stellungnahmen zu aktuellen kriegerischen Konflikten wie in der Ukraine
- Reform der vereinten Nationen
- Verurteilung der Gewalt im Gazastreifen
- Abgrenzung von Blocklogik
- Stabilisierung Afghanistans
Die in der Deklaration formulierten Zielsetzungen stellen ein anspruchsvolles Projektvorhaben dar. Sie haben das Potential die Dominanz des Westens insgesamt aber vor allem die der USA wirkungsvoll zu erschüttern und zu schwächen. Vor allem die geplante Organisation der Gesellschaft auf der Grundlage eines Sozialkreditsystems, durch eine eigene Entwicklungsbank, das unabhängig von geopolitischen Einflussnahmen agiert, wird die Souveränität der Nationen stärken. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass BRICS und SOZ pragmatische Bündnisse sind, die in vielen Punkten nur fragil agieren. Eine zivilisatorische Einheit und Identifikation, wie das G7 Bündnis, besitzen sie nicht. Dies zeigt sich besonders in Punkt 2 der Deklaration, der einen Konsens mit Russland in seinem Krieg auch gegen westliche Einflussnahmen in der Ukraine alleine dastehen lässt. Eine Begründung mit Rücksichtnahme auf die Einheit des Bündnisses wirkt wenig überzeugend. Die Reform der Vereinten Nation, Punkt 3, mit seinem Sicherheitsrat ist zwingend erforderlich, allerdings darf dies nicht zu einer zusätzlichen Einbindung europäischer Staaten, wie zum Beispiel Deutschland, führen, weil damit die westliche Überpräsentation weitere Stärkung erfahren würde.
Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass ein Gegengewicht im globalen System im Entstehen begriffen ist. Die Weltordnung wird neu geschaffen werden, dabei multipolar sein. Die USA werden darin auch eine Rolle spielen können. Für die Europäer wird es voraussichtlich keinen globalen Platz geben, allenfalls als Anhängsel der USA. Es sei denn, sie besinnen sich auf ihre eigene Geschichte und gehen den Weg der Selbstfindung.