Im Folgenden befasst sich unser Autor Johannes Scharf mit dem, mittlerweile auch in der neuen Rechten umgreifenden, Exit- und Sezessionsgedanken. Diese Frage ist seit mehreren Jahren ein Kernthema Scharfs, welches jüngst neue Beachtung durch einen Beitrag Martin Sellners in der Sezession fand.
Der eine oder andere Sezessions-Leser wird sich bei der Lektüre von Martin Sellners Beitrag „Sezession oder Reconquista – nach der ‚Stunde Null‘“ verdutzt die Augen gerieben haben. Martin Sellner, das Gesicht der Identitären Bewegung, skizziert darin kurz vor der Bundestagswahl einen Plan B. Ist das nicht „Wehrkraftzersetzung“? Weit gefehlt, denn ab einem gewissen Punkt könne ein fehlendes öffentliches Bewusstsein über einen solchen Plan B noch schädigender auf die allgemeine Moral wirken als dessen Thematisierung. Während ein Soldat Befehle auszuführen habe und nötigenfalls bis zum bitteren Ende auf seinem Posten ausharren müsse wie jene berühmte römische Torwache von Pompeji, sei es manchmal die Pflicht des Feldherrn, einen Rückzug oder die Aufgabe einer Stellung anzuordnen. Männer werden sonst sinnlos verheizt und Kriege verloren. Über die Rolle des Feldherrn schreibt Sellner außerdem: „Jeder von uns, dem andere zuhören und der durch Schreiben, Reden und Tun andere beeinflußt, befindet sich – entsprechend seinem Wirkungsgrad – in der Rolle eines ‚Feldherren‘“, dessen Pflicht und Tugend darin bestehe, „in unerbittlicher Schärfe mittels ‚strategischem Pessimismus‘ nach dem richtigen Punkt zu suchen, auf den wir die begrenzten und schwindenden Ressourcen des Lagers fokussieren sollen“. Martin Sellner sagt in seinem Beitrag nicht, es sei bereits an der Zeit, die Strategie zu wechseln, aber er sagt, dass es von einem gewissen Punkt an unvermeidlich sein wird, dies zu tun, sofern man am übergeordneten Ziel, dem Erhalt der ethnokulturellen Identität, festhalten möchte.
Den Plan B definiert Martin Sellner, von dem ich weiß, dass er mein Buch Der weiße Ethnostaat gelesen hat, wie folgt: „Die Sezession koppelt das Ziel ‚Erhalt der ethnokulturellen Identität‘ von dem Zwischenziel der Reconquista (Eroberung metapolitischer Macht zur Erlangung politischer Macht) ab. Die Bewahrung des Eigenen soll von der Erlangung staatspolitischer Macht weitgehend unabhängig gemacht werden. So findet eine Veränderung des Bezugsrahmens statt. Es geht nicht mehr um den Staat, sondern um eine Sammlung aller verfügbaren Ressourcen auf eine Region, in der die absolute parlamentarische Mehrheit angestrebt wird. Vor allem soll aber eine Struktur aufgebaut werden, die großflächige ‚präfigurative Politik‘ ermöglicht. Damit sollen in einer konkreten Region Bevölkerungsaustausch und Kulturverfall durch soziales Handeln direkt aufgehalten und umgekehrt werden, statt indirekt über die Erlangung der Regierung mittels alternativer Bevölkerungs- und Identitätspolitik.“
Mit einem Wort: Es geht darum, zusammenzurücken! Diese geographische Konsolidierung stellt auch den Kern von Arthur Kemps „Überlebensstrategie“ dar, die er in Nova Europa – European Survival Strategy in a Darkening World (2013) entwirft. Vordenker, die auf die gleiche Weise versuchten, den Gordischen Knoten zu durchschlagen, waren Wilmot Robertson und Richard McCulloch. Es ist ein Gedanke, auf den jeder, der weder die Demokratie abschaffen möchte noch Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele billigt, irgendwann von selbst kommt. So auch Thorsten Hinz, der 2018 einen Aufsatz mit dem Titel „Der lange Weg nach Osten“ in der Zeitschrift Cato, dem Magazin für neue Sachlichkeit, lancierte: Der Kontinent könne in einen neuen Flickenteppich zerfallen, sobald Migranten und Einheimische begönnen, ihre Zonen abzustecken. Vielleicht versuchten autochthone Deutsche und Europäer auch, nach Osten auszuweichen. Die Gretchenfrage laute heute, „ob man seine Heimat dauerhaft mit einer nicht beherrschbaren Anzahl von Einwanderern aus dem afrikanischen und arabischen Raum teilen und die Risiken und Nebenwirkungen auf sich nehmen“ wolle.[1]
Die Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken möchten das bekanntermaßen nicht, ebenso wenig erscheint diese Entwicklung der Mehrheit der Ostdeutschen begrüßenswert. Der Spott, mit dem jenes „Dunkeldeutschland“ und die Visegrád-Staaten dafür in der Presse überzogen werden, zeugt von blindem Hass und maßloser Arroganz der betreffenden Journalisten – die Unkenrufe aus Brüssel und die Debatte um den Entzug von EU-Geldern für den Fall, dass osteuropäische Staaten es auch fernerhin wagen sollten, den Willen des Volkes zu achten, vom Realitätsverlust westeuropäischer Politiker. Ist es nicht bezeichnend, in welcher Weise sich alle Welt über den Grenzzaun Viktor Orbáns oder die Mauerbauabsichten Donald Trumps entsetzte, während 2010 kaum eine Zeitung auch nur Notiz vom Bau einer Mauer an der Südgrenze Mexikos nahm, die das Land vor der Einführung von Rauschmitteln und dem Zustrom illegaler Migranten schützen sollte?[2]
Oder hat man schon jemals in der Tagesschau etwas von der Mauer vernommen, mit der Costa Rica sich von potentiellen Immigranten aus Nicaragua abschottet?[3] Vermutlich nicht. Es sind in erster Linie europäische Staaten, ob auf dem alten Kontinent oder in Nordamerika und auf der Südhalbkugel, die für das massenhafte Eindringen von sogenannten Bereicherern Verständnis aufbringen sollen. Mehr Diversität heißt immer: Weniger Weiße. Doch das Verständnis für den Götzen Diversität geht den Osteuropäern und vielen Ostdeutschen nicht ohne Grund ab: „Sie alle sehen mit klarem Blick, daß die Verbreitung der okzidentalen Moderne, die Brüssel ihnen so dringend ans Herz legt, in Wahrheit das Eindringen einer afrikanisch-arabisch-islamischen Vormoderne bedeutet.“[4]
Es ist nicht davon auszugehen, dass Hinz mit den Schriften Arthur Kemps vertraut ist oder einen meiner Vorträge zum Thema „Nova Europa“ gehört hat. Trotzdem kommt er bei seinem „kühnen Blick in eine nahe Zukunft“ zu frappierend ähnlichen Modellen. Zuvörderst mag dies der Tatsache geschuldet sein, dass der JF-Autor von den gleichen Prämissen ausgeht, von denen auch Kemp und ich ausgehen. Er stellt fest: „Weite Teile Deutschlands und Europas wurden durch Verblendung, Leichtsinn, Bequemlichkeit, Opportunismus und Dummheit bereits verspielt. Die Macht- und Hegemoniefrage ist demographisch, kulturell, politisch, sozial gesellschaftlich und religiös vielerorts entschieden.“[5] Von dieser Einsicht ist es dann nicht mehr weit zu den folgerichtigen Schlüssen: „Welche historischen Perspektiven oder Handlungsoptionen bieten sich noch an? Den Westeuropäern, sofern sie an ihrer Identität festhalten wollen, bleibt wohl nur der elastische Rückzug nach Osten. Sie werden weite Teile der alten karolingischen Stammlande räumen und sich nach neuen Gebieten umsehen müssen.“[6] Westeuropa hingegen könne zu einem dynamischen „Geflecht aus Autonomiegebieten, Sezessionen, Abwanderungen und Neuansiedlungen, Ex- und Enklaven, Korridoren, Protektoraten und Kondominien werden“, in dem die angestammten Europäer nur eine Gruppe unter vielen sein würden. Voraussetzung für das Überleben der kleinen Siedlungen in Westeuropa wäre allerdings die Etablierung von politisch-wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Kraftzentren in Ost- bzw. Mitteleuropa, die an die Stelle der heruntergekommenen westlichen Metropolen träten. In diesem Fall würde das östliche Europa einerseits das bevorzugte Siedlungsgebiet für die Westflüchtlinge werden, andererseits aber zugleich auch „eine Art Garantiemacht für die Europa-Fragmente im Westen bilden.“ Die Grenze zwischen dem segmentierten Westeuropa und dem kompakten Osteuropa verliefe aller Wahrscheinlichkeit nach etwa entlang der alten Jalta-Linie.[7]
Mag nun Thorsten Hinz von Kemps oder meinen Publikationen etwas gewusst haben oder nicht, in jedem Fall lässt sich nach dem Erscheinen seines Aufsatzes „Der lange Weg nach Osten“ im Cato eines ganz unzweifelhaft feststellen: Der Exit-Gedanke hat mittlerweile sowohl in der Neuen Rechten als auch im konservativen Mainstream Wurzeln geschlagen. Ob sich insgesamt ein Paradigmenwechsel abzeichnet, wird die nahe Zukunft zeigen.
[1] Hinz, Thorsten, „Der lange Weg nach Osten“, in: Cato. Magazin für neue Sachlichkeit 2, 1 (2018), S. 8.
[2] Vgl. “Mexico to Build Southern Border Fence”, in: Inter Press Service, 6.10.2010.
[3] Vgl. Hawley, Chris, “Costa Rica Copes With Its Own Immigration Ills”, in: USA Today, 30.12.2010.
[4] Hinz, Thorsten, „Der lange Weg nach Osten“, in: Cato. Magazin für neue Sachlichkeit 2, 1 (2018), S. 9.
[5] Hinz, Thorsten, „Der lange Weg nach Osten“, in: Cato. Magazin für neue Sachlichkeit 2, 1 (2018), S. 9.
[6] Hinz, Thorsten, „Der lange Weg nach Osten“, in: Cato. Magazin für neue Sachlichkeit 2, 1 (2018), S. 10.
[7] Siehe Hinz, Thorsten, „Der lange Weg nach Osten“, in: Cato. Magazin für neue Sachlichkeit 2, 1 (2018), S. 10.