Im folgenden Text analysiert Dominik Schwarzenberger die kürzlich durchgeführten Parlamentswahlen in Portugal. Er vergleicht den an den Ergebnissen erkennbaren „Rechtsruck“ im Land am Atlantik mit anderen Ländern Europas.
Am 10. März 2024 fanden in Portugal vorgezogene Parlamentswahlen statt, die einen für das Land ungewohnten Rechtsruck zur Folge hatten. Nun gehört das an der Peripherie Europas gelegene Portugal nicht gerade zu den wegweisenden Staaten Europas, das einer näheren Analyse bedarf – und dennoch lohnt es, genauer hinzusehen. Ein weiteres Mal wurde nämlich ein bemerkenswerter Trend bestätigt, den ich bereits anlässlich der bedeutenden französischen Präsidentschaftswahl 2022[1] darstellte: Rechte Wahlerfolge in traditionell linken Regionen und eine immer noch starke konventionelle Pseudorechte in konservativen Regionen sowie neue populistische Parteien der Mitte mit zumindest Achtungserfolgen.
Die Ergebnisse der Parlamentswahl
Die beiden gemäßigten Pole, „Sozialistische Partei“ (wie SPD) und eine Mitte-Rechts-Allianz (wie CDU, CSU, FDP und Werteunion), stehen sich mit 28,66% und 29,5% gleichsam gegenüber. Der Mitte-Rechts-Block verlor im Gegensatz zur letzten Wahl nur mäßig, während die Sozialisten ganze 13% einbüßten. Die seit der antifaschistischen „Nelkenrevolution“[2] von 1974 starken Linksextremen aus ehemals moskauhörigen wie auch linksgrünen, maoistischen und trotzkistischen Kommunisten[3] verloren massiv an Zustimmung, das war anlässlich der letzten Parlamentswahl 2022 schon zu beobachten. Der eigentliche Sieger ist die junge rechtspopulistische Partei „Chega“ (=Genug /Es reicht), die es auf 18% schaffte – ein Plus von fast 11%! Schon 2022 gehörte „Chega“ zu den Gewinnern, da sich die neue Kraft von 1,29% auf 7,1% steigern konnte und erstmals ins Parlament einzog. Eine weitere Überraschung stellt die junge libertäre „Liberale Initiative“ dar, die gleichfalls 2022 ins Parlament mit 5% gelang und sich auch diesmal stabil behaupten konnte. Es soll im Folgenden nicht um eine allumfassende Darstellung der Ergebnisse gehen, sondern nur um den erwähnten Trend.
Innerportugiesische Gegensätze und Wahlgeographie
Seit Jahrhunderten existiert ein erheblicher Nord-Süd-Gegensatz genauso wie ein für unsere Analyse zu vernachlässigender moderater West-Ost-Gegensatz. Seit dem späten 19. Jh. kommt ein weiterer Antagonismus zwischen dem kontinentalen Portugal und dem insularen (Azoren, Madeira) hinzu. Der Nord-Süd-Gegensatz resultiert aus einem sozioökonomischen Gefälle[4], rassischen[5], kulturellen, vegetativen[6] und strukturellen Unterschieden:
- Der Norden mit dem nördlichen Zentrum ist dichter besiedelt, gleichermaßen agrarisch wie klein- und mittelstädtisch geprägt. Die Bevölkerung besteht aus Kleinbürgern, selbständigen Mittelbauern und gewerblichen Mittelständern, das bürgerliche Milieu dominiert. Der katholische Glaube erweist sich auch heute noch als identitätsstiftend. Wirtschaftlich ist der Norden dem Süden weit überlegen und kann mit dem Großraum Lissabon des Zentrums mithalten. Politisch dominieren im Norden liberale, konservative, katholische und bis in die 1960er auch monarchistische[7] Vorstellungen. Die marxistische Linke hatte es entsprechend schwer und wurde bis in die 1980er sogar benachteiligt. Mit Porto liegt die Wiege der portugiesischen Nationswerdung[8] im Norden, der ewigen Rivalin Lissabons.
- Der Süden (südlicher Alentejo und Algarve) ist agrarisch geprägt, es dominiert immer noch der Großgrundbesitz mit proletarisierten Landarbeitern und einer dünnen kleinstädtischen Oberschicht. Hier fanden die Kommunisten ihre Basis, die hier lange durchschnittlich 40% der Stimmen kassierten. Für bürgerliche Parteien war es die ersten Jahre nach der Nelkenrevolution sogar lebensgefährlich, öffentliche Versammlungen abzuhalten. Gleichwohl die Südküste vom Tourismus profitiert, bleibt diese Kulturregion wirtschaftlich abgehängt. Zumindest der politische und öffentliche Katholizismus spielen eine untergeordnete Rolle.
- Der Großraum Lissabon im südlichen Zentrum vereint Kultur und Mentalität des Nordens wie des Südens. Die Industriearbeiter neigen der Linken zu, die bürgerlichen Schichten den Liberalen und Konservativen, nur, dass das katholische und monarchistische Element fehlen. Lissabon war auch immer die Hochburg der säkularen Freimaurerei und Zentrum der republikanischen Revolution von 1910. Die quirlige und kosmopolitische Hauptstadt steht in Rivalität zum beschaulichen Porto.
- Die Inselwelt der Azoren and Madeira stehen der Lissaboner Zentrale misstrauisch gegenüber. Hier dominieren wie im Norden kleinbürgerliche und mittelständische Schichten mit einem antisozialistischen Gewissen. Während der antifaschistischen „Nelkenrevolution“ und einer möglichen kommunistischen Wende, erstarkten rechte separatistische Kräfte, die zumindest eine zeitweise Unabhängigkeit anstrebten.
Phänomen Sozialisten, „Chega“ und Libertäre
Man möchte nun annehmen, die Linke würde im Süden und Lissabon gewählt und die Rechten im Norden, Lissabon und den Inseln – dem ist aber nicht (mehr) so. Die Sozialisten mit ehemals starkem marxistischen Flügel reüssierten als einzige in allen Regionen. Weshalb? Weil sie von allen Seiten seit 1975 als das vermeintlich geringste Übel gewählt wurden und werden. Im Norden und den Inseln von den Linken (darunter viele Kommunisten), im Süden von den Bürgerlichen als aussichtreichste antikommunistische Kraft.
„Chega“ dagegen feiert ausgerechnet im tiefroten Süden Erfolge, konnte sogar ein Direktmandat holen. Im konservativen Norden und den Inseln gab es auch hohe zweistellige Ergebnisse, aber die Mitte-Rechts-Allianz blieb ebenso stabil. Woran liegt das? „Chega“ entstand als belanglose Abspaltung der dominierenden Mitte-Rechts-Partei und darf zu diesem Zeitpunkt als technokratisch überideologisch eingeschätzt werden, d.h.: die junge Partei war eher Sachfragen und ungelösten Problemen zugetan und wurzelte gerade nicht im traditionellen rechten weltanschaulichen Milieu des Nordens. „Chega“ mauserte sich zu einer populistischen Protestpartei und absorbiert bis dato zunehmend genuin rechte Ideologeme, bleibt aber wie ihre europäischen Verwandten den ursprünglichen Sachfragen und auch libertären Positionen treu. Der Entwicklungsprozess ist nicht abgeschlossen. Es ist die Partei der Deklassierten und Entwurzelten, die vorher extrem links wählten. Dieses von Gewerkschaften nicht mehr erfasste Potenzial sieht sich offenbar von der Linken nicht mehr vertreten, die sich wie in anderen Staaten auch weniger um die traditionelle „Soziale Frage“ kümmert als um kulturelle. Das traditionelle rechte Milieu des Nordens und der Inseln bleibt noch seinen traditionellen Parteien treu. Das hat drei Gründe. Erstens: es gibt noch keine sozialen Abstiegsängste, zweitens: die kirchlichen Bindungen mit ihrem breiten Vereinswesen wirken identitätsstiftend und integrierend, und drittens: die konventionellen Rechtsparteien erscheinen noch grundsatztreu konservativ.
Die „Liberale Initiative“ darf guten Gewissens als weitere populistische gemäßigte Protestpartei bewertet werden. Diese, den sogar in der portugiesischen Verfassung festgeschriebenen Staatssozialismus herausfordernde libertäre Kraft, wildert im säkularen bürgerlichen Milieu des Nordens und Lissabons.
Andere Staaten Europas
Das portugiesische Phänomen findet sich auch in Frankreich[9], Spanien[10], Italien[11], Griechenland[12], Schweiz[13] und Österreich[14] – und Deutschland. Die deutsche AfD mit ihrem technokratisch-pragmatischen Beginn als CDU-Renegat entspricht der Chega. Auch die AfD hat sich kontinuierlich ideologisch nach rechts ausgedehnt, ohne das libertäre und sachliche Startprogramm entsorgt zu haben. Es handelt sich um klassische Sammlungsparteien. Auch in Deutschland bleiben die Unionsparteien in ihren Stammregionen trotz hoher AfD-Ergebnisse auf hohem Niveau, während linke Parteien massiv einbüßen. Die Ursachen entsprechen den drei bereits aufgeführten Gründen.
Ausblick
Ein solcher Parteientyp taugt zum Opponieren und Protestieren, jedoch kaum zum Regieren oder dem Erarbeiten von nachhaltigen Alternativen. Die heterogene Ideologie und Mitgliederstruktur machen das unmöglich. Spaltungen sind vorprogrammiert genauso wie rivalisierende Neugründungen, wenn eine Parteiströmung marginalisiert wird. Mit reformistischer und populistischer Ausrichtung lässt sich das Steuer nicht herumreißen, aber immerhin wird der eingeschliffene Politbetrieb gestört und das tabuisierte Meinungsklima erweitert. Für das Establishment wird die parlamentarische Mehrheitsfindung zunehmend erschwert. Hinzu kommt die symbolische Wirkung solcher spektakulärer Wahlerfolge. Es bleibt zu hoffen, dass vorzeitige Regierungsbeteiligungen – selbst auf regionaler Ebene –, wie in Osteuropa, Griechenland, Österreich, Italien oder Niederlande unterbleiben. Solche Beteiligungen wirken verlockend, nützen aber nur den herkömmlichen Pseudokonservativen: Bei nachfolgenden Wahlen bleiben diese relativ ungeschoren, während es die ungeduldigen Rechtspopulisten als übervorteilte Juniorpartner trifft.
[1] Vgl. https://gegenstrom.org/dominik-schwarzenberger-rueckschau-auf-die-praesidentschaftswahlen-in-frankreich/
[2] Weit linksstehende Militärs initiierten den Sturz des verkrusteten rechtsautoritären „Estado Novo“, der kaum noch über verlässliche Säulen verfügte. Die verlustreichen und teuren Kolonialkriege in Afrika beschleunigten den Niedergang. Authentische Faschisten wie Monarchisten gehörten ebenso wie die starken und vielfältigen Kommunisten aller Couleur zur Opposition.
[3] Es handelt sich dabei um zwei linksextreme Wahlbündnisse: eines aus traditionellen Kommunisten und linksextremen Grünen sowie ein breiteres aus Neomarxisten, Trotzkisten und Maoisten.
[4] Der Süden ist – wie in Italien auch -, das Armenhaus mit schwacher Infrastruktur und sozialen Verwerfungen.
[5] Die Bewohner des Nordens sind stärker von Indoeuropäern (Germanen, Kelten, Lusitaniern) geformt, der Süden eher von Hamiten.
[6] Der Süden weist Wasser- und Niederschlagsmangel auf, der Steppenlandschaften mit Hartlaubgewächsen begünstigt. Es herrscht Viehzucht vor.
[7] Der Monarchismus war nach der republikanischen Revolution von 1910 im Norden immer noch eine starke Kraft. Nur durch in der Frage nach der Staatsform neutralen rechtsautoritären Militärregime konnte ein Bürgerkrieg verhindert werden.
[8] Hier entstand ein frühes portugiesisches Selbstverständnis, das sich auch von den katholischen (den späteren spanischen) Nachbarn abgrenzte. Sukzessiv dehnte sich das rudimentäre Frühportugal nach Süden aus und befreite sich ohne auswärtige Hilfe von muslimischen Hamiten. Die portugiesisch-spanische Grenze ist die älteste Europas. „Portugal“ kann einer Theorie nach auf „Gallischer Hafen“ zurückgeführt werden. Diese Lokalbedeutung dehnte sich auf das heutige Territorium aus.
[9] „Front National“ /“Rassemblement National“ unter beiden LePens. Der FN der 1970er gehörte noch zum traditionellen rechten Milieu katholischer Traditionalisten und Pétain-Nostalgiker.
[10] „Partido Vox“
[11] „Lega (Nord)“ unter Salvini, nicht jedoch die „Fratelli“ Melonis. Letztere stammen aus dem neofaschistischen und konservativen Milieu.
[12] Partei „Unabhängige Griechen“ Die „Neue Demokratie“ konnte sich nach den Krisenjahren wieder erholen und bewegte sich stark nach rechts.
[13] „Schweizerische Volkspartei“, die in den konservativen katholischen Kantonen teilweise nicht existent ist.
[14] Die „Freiheitliche Partei Österreichs“, die aus dem liberalen antiklerikalen und früher auch großdeutschen Milieu stammt.