Es wird dieser Tage wieder viel zu geopolitischen Themen geschrieben. Insbesondere der Ukraine-Krieg kann dafür als Initialzündung gesehen werden. Die Meldungen zu diesem Thema sind dabei oft gespickt von Polemik und emotionalen Äußerungen – sowohl in der offiziellen Mainstream-Presse als auch in den sogenannten Alternativen Medien. In der folgenden Arbeit soll es darum gehen die Ereignisse rund um die wesentlichsten Bruchstellen auf dem Eurasischen Schachbrett nüchtern zu beleuchten, ohne dabei für eine Seite Partei zu ergreifen. Es wird ganz bewusst die Vogelperspektive eingenommen. Es geht darum die jüngsten Ereignisse zu verstehen, einzuordnen und ggf. die Möglichkeiten zu erfassen, die sich daraus ergeben.
Im Folgenden wird die Moral, wie es der Titel bereits andeutet, eine eher untergeordnete Rolle spielen. Nicht, weil sich die Betreiber dieses Blogs keine eigenen Moralvorstellungen leisten wollen, sondern, weil in der Geopolitik – und darum soll es hier gehen – Moral und Ethik eine, wenn dann nur strategische Rolle im Sinne von Propaganda spielt. Nur, wenn die Ereignisse wertfrei analysiert werden, kann der Beobachter einen möglichst großen Nutzen aus dieser Analyse ziehen.
Grundsätze der Geopolitik
Was Geopolitik ist, hat bereits Dominik Schwarzenberger einleitend in dem ebenfalls auf diesem Blog erschienenen Artikel „Krisenherd Ukraine – Porträt eines zerrissenen Landes“ beschrieben. Im Folgenden gehen wir auf einige aus unserer Sicht wichtige Aspekte noch einmal gesondert ein, da sie zum Verständnis der Arbeit essentiell sind.
Politische Geographie
Geopolitik ist mehr als nur politische Geographie. Dennoch leitet sich die Geopolitik aus der politischen Geographie ab. Sie ist eine Teildisziplin. Geographie ist Schicksal. Sie bestimmt das Potenzial und die Rolle eines Landes, einer Entität und sie bestimmt auch über die Möglichkeiten von Machtstrukturen. Aufgabe der politischen Geographie ist es die Zusammenhänge zwischen dem Raum und der Macht zu analysieren. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen dem „naturgegebenen“ Raum und den Möglichkeiten politischen Handelns.
Wesentliche raumpolitische (topografische) Eigenschaften sind:
Lage an Gewässern, Zugang zum Meer, Transitland zu anderen Entitäten, Nachbarländer, Gebirge, Rohstoffe, Bodenbeschaffenheit, Klima und damit verbundene Fauna et al.
In der Wissenschaft gibt es dazu mittlerweile auch erweiterte, differenzierte Ansätze, die auch die Gesellschaft an sich einbeziehen und das Wissen, welches in diesen vorhanden ist, um den Raum sich dienstbar zu machen, weswegen hier von Potenzialen die Rede ist. Der Raum bestimmt Handlungsmöglichkeiten, die genutzt werden können, aber nicht zwangsläufig genutzt werden müssen.
Allerdings bleibt es dabei, dass Ländergrenzen sich verschieben, Nationen kommen und vergehen, der Raum jedoch beständig ist. Gebirgsketten, Meere, Flüsse zeichnen über Jahrhunderte die Landschaft und weisen damit den Weg.
Letztlich ist Macht gleich Kraft mal Lage. Erst die Ausnutzung der Lage multipliziert die dem Akteur innewohnenden Kräfte.
Denken in Kontinenten
Geopolitik ist daher auch das Denken in Kontinenten. Der geopolitische Akteur ist sich der Macht des Raumes bewusst. Er betrachtet ihn als Waffe. Jordis von Lohausen beschreibt Geopolitik in seinem Buch „Mut zur Macht – Denken in Kontinenten“ (S. 9) auch als „die Kunst den Gegner nicht zu erschlagen, sondern zu ersticken, ihn durch immer engeres Einkreisen seiner Handlungsfreiheit zu berauben, ihm das Wasser Schritt für Schritt abzugraben, den Boden zu nehmen, der ihn nährt, die Luft, die er atmet“. Genauso wie beim Schachspiel.
Denken in Jahrhunderten
Wer in Kontinenten denkt, der denkt auch in Jahrhunderten. Wer Weltpolitik machen will, muss die Weltgeschichte kennen. Nichts kann heute ohne die Vergangenheit sein. Ohne die Mongolenstürme gäbe es kein Moskau, ohne den 2. Weltkrieg keine NATO, ohne die europäische Aufklärung kein Amerika, ohne einen Otto I. den Großen hätte es einen Bismarck nicht gegeben. Genauso wäre Preußen nicht wieder so stark ohne die Kriege Napoleons geworden, obgleich es zu Beginn ebendieser genau zum Gegenteil führte. Geschichtliche Kenntnisse sind wesentliche Grundlage geopolitischen Verständnisses. Ereignisse bestimmen den Verlauf der Geschichte, daher ist es notwendig in Jahrhunderte, wenn nicht gar in Jahrtausende zu denken.
Das Ebenen-Modell nach Schwarzenberger
Länderanalysen sind vielschichtig, komplex und unterkomplex. Die betrachtete Konfliktebene ist entscheidend. Dominik Schwarzenberger führt dazu die folgenden wichtigsten Konfliktebenen an:
- Volkstum/Nation
- Werte/Ideologie
- Geopolitik
Es lassen sich weitere Ebenen und Subebenen ausfindig machen. Die Ebenen bedingen einander. Geopolitik kann nicht verstanden werden, ohne auch die Volkstumsebene und die Wertebene mit einzubeziehen. Der Fehler, der von den meisten Beobachtern gemacht wird, ist, dass sie sich nur auf einer Ebene bewegen oder die Ebenen miteinander vermischen.
*Zum Beispiel bewerten viele deutsche Rechte die Argumentation des Kremls – man wolle die Ukraine entnazifizieren – rein auf der Wertebene. Der Begriff der Entnazifizierung spielt in der deutschen Geschichte eine andere Rolle, als in der Volksgeschichte Russlands. Während aus russischer Sicht (Volkstums- und Wertebene) der Faschismus/Nationalsozialismus als etwas Artfremdes und Unvereinbares, ja gar als Feind Russlands betrachtet wird, wird er insbesondere unter den Rechten als Gummibegriff zur Stigmatisierung rechter Ideen verstanden. Der „antifaschistische Kampf“ Russlands ist ein vaterländischer Kampf („Der Vaterländische Krieg“, Verteidigung von „Mütterchen Russland“[1], Russland als Befreier und weltpolitischer Akteur) und bekommt damit sogar eine geopolitische Komponente. Hier bedingen sich alle drei Ebenen. Um für eine geopolitische Handlung (Einmarsch in die Ukraine) das Volk (Volkstumsebene, „es geht um vaterländische Interessen“) hinter der Fahne zu versammeln, braucht es eine ideologische bzw. ethische (Wertebene) Rechtfertigung. Das wird aus deutscher Sicht natürlich anders gesehen, bringt den Beobachter jedoch keineswegs näher an ein Verständnis des Konfliktes an sich.
*Genauso rechtfertigen die NATO-Staaten die latente Einmischung in den Krieg mit der Ideologie der demokratischen Selbstbestimmung des Volkes, obgleich es um geopolitische Interessen (Ukraine von Russland entfremden) geht. Die meisten Staaten dieses Bündnisses legen offenbar in ihren eigenen Ländern nicht so viel Wert auf diese Selbstbestimmung (siehe die letzten zwei Corona-Jahre). Die Rot-Grüne Regierung unter Olaf Scholz hofiert das Nationalgefühl der Ukrainer, während sie jegliche nationalen Bestrebungen im eigenen Land bekämpfen.
Betrachtet man nur eine Konfliktebene, kommt man jeweils zu einem vollkommen unterschiedlichen Ergebnis der Analyse. In der Geopolitik geht es allerdings darum die Ebenen zu erkennen und miteinander zu verknüpfen.
Die wissenschaftliche Seite
In der Geopolitik gibt es keine Moral. Jede Analyse muss scheitern, die auf Emotionen beruht. Es ist immer leicht die eine oder andere Seite zu verurteilen, wenn man deren Schicksal nicht teilt. Jede Partei hat ihre eigenen Beweggründe und wer Verständnis für die geopolitischen Entwicklungen gewinnen will, der muss sich davon trennen.
Die wissenschaftliche Seite befasst sich daher mit Fakten über Geographie und deren Unterdisziplinen, Ethnizität sowie Identitätsforschung, Geschichte, Ökonomie usw.
Die ideologische Seite
Auch Ideologie spielt eine Rolle. So waren die Kriege der letzten Jahrhunderte oft von Expansionsbestrebungen von Nationen getrieben, die nicht selten auf Ideologien basierten. Die Zeit des Kalten Kriegen legte dafür bestes Zeugnis ab.
Beispiele dafür sind:
*Die Manifest Destiny der USA sowie amerikanischer Exzeptionalismus (u.a. Truman-Doctrin)
*Sozialistische Weltrevolution aus Moskau
*Der Kalte Krieg (Kapitalismus Vs. Sozialismus) und seine Stellvertreterkriege (Korea 1950-53, Vietnam 1964-73, Afghanistan 1979-89)
*Kampf gegen den Terrorismus, Kampf gegen den Islam
*Religionskriege
*Bestrebung zur Erschaffung eines 1000jährigen Deutschen Reiches unter Hitler auf Grundlage von Blut und Boden sowie Ostexpansion mit dem Credo „Volk ohne Raum“. Wobei es die Nationalsozialisten tunlichst vermieden ihre Ideologie in andere Länder zu exportieren. Das Dritte Reich stellt damit ein Beispiel dar für ein zwar nach innen stark ideologisiertes System, welches jedoch unterließ dieselbe in die eroberten Länder zu transportieren.[2]
Ideologien und Religionen spielen grundsätzlich eine gewichtige Rolle für sozialpolitische Ereignisse wie Revolutionen, Bürgerkriege, Sezessions- sowie Expansionsbewegungen.
Auch die ideologische Seite bedarf einer nüchternen und sachlichen Analyse. Hier sind wichtige Felder die Identitätsforschung, Ethnologie, Geschichte, Ideengeschichte.
Akteure und Angelpunkte
Geopolitische Akteure sind, laut dem wohl bekanntesten US-amerikanischen Geostrategen Zbigniew Brzezinski, jene Staaten, die sowohl die Kapazität als auch den nationalen Willen besitzen, Macht auch über ihre nationalen Grenzen hinaus auszuüben und Einfluss geltend zu machen. Sie sind es, die den Status Quo verändern können. Der acteur (franz.) ist der „Handelnde“. Der geopolitische Akteur ist demnach eine Entität, die die Interessen anderer Handelnder, demnach machtbewusster Akteure tangieren.
Geopolitische Dreh- und Angelpunkte hingegen sind Staaten, deren Macht auf den geographischen Gegebenheiten basiert. Demnach entscheiden nicht die Macht und der Wille zu gestalten, sondern ihre geographisch bedingte Sonderrolle. Solche Entitäten können ihre Lage benutzen, um Akteuren Ressourcen oder Zugänge zu verweigern oder zu billigen, womit ihnen de facto eine Macht durch das Schicksal gegeben ist. Es gibt auch geopolitische Dreh- und Angelpunkte, die aufgrund ihrer Lage als ein idealer Schutzschild oder als Puffer für die Handelnden auf dem Schachbrett fungieren.
Akteure können sich ändern. Sie sind diejenigen, die im „Konzert der Mächte“ (Metternich) den Ton angeben. Innerhalb dieses Konzertes verdrängen sich Handelnde auch gelegentlich gegenseitig. Das Konzert wird stets von Dynamik begleiten, auch wenn die geopolitische Ordnung im Gesamtergebnis scheinbar Jahrzehnte statisch bleibt. Dreh- und Angelpunkte bleiben in ihrer Rolle aufgrund des geographischen Schicksals, wenn sie auch nicht selten Spielbälle der dynamischen Entitäten sind. Demnach ist die Analyse der wichtigsten Dreh- und Angelpunkte auf dem Schachbrett die wesentlichste Aufgabe.
Nicht alle dynamischen Entitäten sind gleichbedeutend wichtig. Es gibt Hierarchien, die stetigen Kämpfen und Wechselbeziehungen unterliegen. So können wir in Mächte ersten und zweiten Ranges unterscheiden. Zeitweise können erstrangierte Entitäten zur Hegemonialmacht aufsteigen.
Solche Hegemonialmächte, die den Hobbeschen Leviathan auszeichnen, sind u.a. gewesen:
*Achämenidenreich zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr.
*Reich Alexanders des Großen im 4. Jahrhundert v. Chr.
*Römisches Reich in der Zeit zwischen 200 v. Chr. und 480 n. Chr.
*Mongolen Reich unter Dschingis Khan Anfang des 12. Jahrhunderts n. Chr.
*Spanisches Kolonialreich zwischen 15. und 20. Jahrhundert[3]
Der Aufstieg einer Macht ersten Ranges zur Hegemonialmacht oder einer Macht zweiten Ranges in den ersten, führt grundsätzlich zu massiven Verwerfungen und zu Kriegen. Die o.g. Hegemonialmächte haben auf dem Weg zur globalen Macht einen blutigen Weg zurücklegen müssen. Ein gutes Beispiel für den Aufstieg einer Macht zweiten Ranges in die Reihe des ersten Ranges ist Preußen nach dem Wiener Kongress und die Gründung des Deutschen Reichen von 1871. Mit dem Aufstieg des einen Akteurs geht grundsätzlich der Abstieg anderer Akteure einher.[4]
Die obige unvollständige Liste legt dafür Zeugnis ab.
Souveränität ist kein Naturrecht!
Die Idee des souveränen Nationalstaates ist recht jung. Seine Ursprünge finden sich am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die Ausformung zu Nationalstaaten wie wir sie heute kennen, ist jedoch viel später entstanden. Souveränität ist dabei nicht gottgegeben und auch nicht notwendig. Nicht jede Nation oder jedes Volk kann und will souverän sein. Es gibt neben dem Souverän auch den Souzerän. Souzerän ist, wer eine Oberherrschaft, Lehnsherrschaft auf andere Entitäten ausübt. Die dem Souzerän unterstellten Gebiete oder Staaten geben einen Teil ihrer Selbstbestimmung auf. Sie sind nur noch halb- oder teilsouverän.
Beispiele dafür finden sich in jedem Reich. So u.a.:
- Osmanisches Reich mit seinen vielen Provinzen aus Afrika, Europa und Asien
- Das Reich der Quing-Dynastie (Mandschu-Reich) und seine noch heute in China sich befindlichen Regionen
- Römisches Reich als Weltreich
- Die poströmischen europäischen Reiche
Auch heute, wo der Reichsgedanke zumindest in der äußeren Darstellung der Politiken eine untergeordnete Rolle spielt, finden sich solche Beispiele von halb- oder teilsouveränen Staaten unter einem übergeordneten Souzerän:
- Alle EU Staaten mit Deutschland und Frankreich als Zugpferde[5]
- NATO-Bündnis mit dem Oberherren USA[6]
- Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) mit Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Russland[7]
- OVKS mit dem Oberherren Russland[8]
Diese freiwillige Abgabe der Souveränität an eine andere übergeordnete Entität (Reich, Oberherrschaft, Lehnsherrschaft) kann z.B. aus dem Schutzbedürfnis heraus erwachsen. So schlossen sich viele osteuropäische Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sukzessive dem von US-Amerika beherrschten NATO-Bündnis aus Angst vor dem übermächtigen „alten“ Lehnsherren Russland an. Alleine können sich diese Staaten nicht gegenüber dem Russischen Bären behaupten, weshalb sie ein Schutzherr suchen, einen Souzerän und freiwillig ein Stück ihrer Selbstbestimmtheit aufgeben.
Oft geraten geopolitische Dreh- und Angelpunkte in solche Verhältnisse der Souzeränität.
Machiavellismus
Der berühmte Begründer der modernen Staatsphilosophie Niccolo Machiavelli (eine tiefere Erläuterung seiner Lehren finden sich submitted) beschrieb in seiner weltbekannten Abhandlung Il Principe (zu dt. „Der Fürst“), welchen Regeln sich ein Herrscher zu unterwerfen hat, will er erfolgreich sein und bleiben. Dabei beschrieb der Vordenker des Top-Managements zwei unterschiedliche Typen von Fürsten. Die einen seien „Füchse“, die anderen „Löwen“. Die Füchse sind schlau und hinterlistig. Sie wenden Listen an, um ihre Macht auszuweiten und sich an ihr zu halten. Löwen hingegen sind jene, die sich an der Hauptkampflinie mitten in der Schlacht beteiligen und mit bestem Beispiel vorangehen. Erstere sind in der Regel erfolgreich. Es sei an dieser Stelle gesagt, dass Machiavelli einen ungerechtfertigten Ruf als kaltblütiger Machtmensch hat. In Wirklichkeit war er sogar recht idealistisch und vertrat die Ansicht, dass die freie Republik (Demokratie) die schönste und anstrebenswerteste Staats- und Regierungsform sei. Dennoch war er Realist genug, um im Fürsten niederzuschreiben, was ist. Denn, wie bereits oben verdeutlicht, spielen Moral und Ethik in der Politik eine eher untergeordnete Rolle. Es geht immer um Interessen und Möglichkeiten diese zu wahren und zu vertreten. So schön die Vorstellung von einer selbstlosen Politik auch sein mag, widerspricht sie einfach dem ehernen Gesetz des Willens zur Macht. Es gibt immer jene, die mächtig sind und jene, die bemächtigt werden wollen. Im besten Fall besitzen die Interessen der Herrschenden eine bedeutende Schnittmenge mit den Interessen des Volkes bzw. eines Großteils des Volkes.
Auf Charles de Gaulles soll der Ausspruch zurückgehen: „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“ Und Otto von Bismarck bringt es mit den für ihn typisch kantigen Worten auf den Punkt: „Die einzige gesunde Grundlage eines großen Staates […] ist der staatliche Egoismus und nicht die Romantik.“ Wer sich mit Geopolitik beschäftigen möchte, muss diesen Grundsatz als apriorisch betrachten.
Staaten sind nicht die einzigen Akteure
Auch wenn hier großenteils von Staaten die Rede ist, so sind diese nicht die einzigen möglichen Akteure. Es können Institutionen, Vereine, Stiftungen, Geheimgesellschaften, Geheimdienste und religiöse Einrichtungen beeindruckende Entitäten darstellen. Oftmals spielen die Staaten und deren Repräsentanten eher eine untergeordnete Rolle und werden von den „sonstigen“ Akteuren beeinflusst. Der politische Komplex ist grundsätzlich der schwächste Komplex. Die Komplexe der „sonstigen Akteure“ bestimmen die Richtung und die Dynamiken unter diesen geben die Trends vor.
Aber selbst Einzelpersonen können, auch wenn sie nicht reich und mächtig sind, geopolitisch viel bewirken.
Beispiele dafür gibt es unendlich in der Geschichte:
*Der Einfluss der Katholischen Kirche im Mittelalter bis zur Renaissance ist allgemein bekannt. Bis heute ist der Vatikan der größte nichtstaatliche Grundbesitzer der Welt und der Papst ist, wenn auch geringer im Vergleich zum Mittelalter, bis heute eine gesellschaftliche Autorität für Millionen von Menschen – weltweit.
*Die kleine Minderheit der Bolschewiki, die über Jahrzehnte in sektiererischen Zirkeln operierte und 1917 eines der größten Weltreiche begründete, die die Neuzeit gesehen hat.
*Ein aktuelleres Beispiel stellt Alexander Dugin in Russland dar. Scheinbar ist er heute politisch isoliert. Dennoch übernahm man viele seiner Ideen im Militär sowie im politischen Kreml, der ebenfalls ein sehr gutes Beispiel dafür ist, wie stark der politische Komplex unter dem Einfluss anderer unscheinbarer Komplexe steht.
*Oder das Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum, WEF) mit seinem Gründer und Chef Klaus Schwab inkl. der daran angeschlossenen und befreundeten Stiftungen und Vereine[9]. Sowohl Wladimir Putin, Xi Jinping als auch Donald Trump oder Joe Biden sind gern gesehene Gäste. Sämtliche Uno-Staaten und die Unternehmen, die ihren Hauptsitz darin haben, tauschen sich jährlich in Davos mit Journalisten, Kulturschaffenden und Vertretern der Glaubensgemeinschaften aus.
Völkerrecht: Eine konstruierte Chimäre
Völkerrecht wird wie die Moral als Schild vorangetragen, um eine Legitimation für eine Handlung zu konstruieren. Das Narrativ des bei Rechten sehr beliebten Carl Schmitt hat so viel mit der Realität zu tun, wie das E-Auto mit umweltfreundlicher Nachhaltigkeit. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Recht um einen Ordnungsrahmen, der nur so lange aufrecht gehalten wird, wie es den Interessen der Herrschenden zuträglich oder wenigstens nicht widerstrebend ist. Denn: Macht setzt Recht und nicht umgekehrt. Die romantische Vorstellung von völkerrechtlichen Sanktionen bei angeblich rechtswidriger Intervention, ist ein Versatzstück naiver zum Scheitern verurteilter Politiken.[10]
So ist die Argumentation, dass der Einmarsch der russischen Armee in die Ostukraine völkerwidrig war, zwar in der Theorie richtig, hilft aber niemanden weiter. Russland ist die unangefochten größte Atommacht der Welt. Ein durchaus schlagfertiges Mittel zur Durchsetzung der eigenen Machtinteressen außerhalb des Völkerrechts. Bisher ist noch kein Krieg durch die Jurisprudenz beendet worden, sondern immer durch die Unterwerfung einer Partei durch eine andere.[11]
Was macht eine Großmacht aus?
Großmächte sind jene Akteure, die die Weltpolitik maßgeblich beeinflussen. Sie besitzen solch einen Einfluss, dass niemand mehr ohne sie rechnen kann. Man kommt nicht an ihnen vorbei. Sie müssen auf dem Schachbrett berücksichtigt werden, weil sie ansonsten gefährlich für anderen große Entitäten sein könnten. Der Begriff an sich ist nicht eindeutig abgrenzbar. Ab wann sprechen wir nicht mehr von einer Regionalmacht? Wann wird eine Großmacht zur Weltmacht?
Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten zu einer Großmacht im obigen Sinne zu werden. Entweder der Akteur ist militärisch so stark, dass er es auch mit mehreren Entitäten gleichzeitig aufnehmen kann oder er gelangt zu großem Einfluss über seine wirtschaftliche Leistung sowie Verflechtungen. Diejenigen Akteure, die sogar beide Voraussetzungen erfüllen, haben das Zeug zur Weltmacht.
Die USA sind deshalb eine Weltmacht, weil sie nicht nur militärisch unangefochten die Stärkste Macht auf diesem Planeten – die atomaren Sprengköpfe ausgenommen –, sondern, weil sie zudem über ihr Geld- und Wirtschaftssystem essentiell für die Weltwirtschaft sind. Der US-Dollar ist die Weltreservewährung, womit die USA diesen Planeten währungs- und geldpolitisch dominieren. Die Tatsache, dass die wichtigsten energetischen Ressourcen wie Öl und Gas in Dollar gehandelt werden, macht die USA damit zu einer absoluten Geldmacht, die sie dank ihrer militärischen Überlegenheit durchsetzen können – siehe z.B. der Irak-Krieg 2003.
Weitere Eigenschaften, die den Status einer Großmacht begründen können:
- Positive Demographie
- Ideologischer Expansionismus
- Kultureller bzw. ideologischer Entrismus inkl. Sprache
Anmerkungen
[1] Im Russischen heißt es auch Матушка Россия. Im Sowjetrussland hieß es auch „Mutter Heimat“.
[2] Dies erwies sich nicht zuletzt als Schwäche, wie die Geschichte eindrucksvoll Zeugnis davon ablegen kann.
[3] Karl V. herrschte über ein Spanisches Weltreich, in dem niemals die Sonne unterging. Sein Reich führte bis nach Südamerika. Des Weiteren gehörten Nordafrikanische Ländereien sowie ein Großteil des heutigen Europas (Burgund, große Teile des Heiligen Römischen Reiches sowie Österreich und Aragonien) zu seinem Einflussgebiet.
[4] Benjamin Disraeli, der im 19. Jahrhundert zweimal das Amt des britischen Premierministers bekleidete, bezeichnete die deutsche Einigung am 18. Januar 1871 als ein noch bedeutenderes Ereignis als die Französische Revolution, da sie das Kräftegleichgewicht vollkommend zerrüttet hätte und dadurch die Grundlage der alten Ordnung des Westfälischen Friedens sowie die vom Wiener Kongress entzogen sei.
[5] Die EU stellt ein supranationales Gebilde dar und fungiert dabei wirtschaftlich und finanzpolitisch als ein Souzerän gegenüber den EU-Mitgliedsstaaten. Die meisten der EU-Staaten hängen regelrecht am Tropf.
[6] Im Grunde genommen gilt dies für alle westeuropäischen Länder. Die BRD spielt dabei jedoch neben Frankreich eine Sonderrolle auf der eurasischen Halbinsel. Während Frankreich stolz seine eigene Souveränität anführt, scheinen sich bundesdeutsche Politiker längst mit dem Status eines Vasallenstaates abgefunden zu haben. Namentlich der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble sagte auf dem European Banking Congress 2011: „Und wir in Deutschland sind seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr voll souverän gewesen.“ Durch das NATO-Bündnis üben die USA eine souzeräne Stellung auf militärischer Ebene als Schutzmacht ggü. den Bündnispartnern bzw. Mitgliedern aus.
[7] Die EAWU ist der Gegenpol zur EU. Das seit 2015 gegründete, jedoch zuvor schon viele Jahre zuvor forcierte Bündnis mag momentan noch relativ unattraktiv für viele Staaten in der Eurasischen Region sein, kann sich aber angesichts der dynamischen Entwicklungen durch den Ukraine-Krieg auch ändern. Mögliche Kandidaten sind Usbekistan, Mongolei, Aserbaidschan, und die Ostukraine in der Donbass-Region.
[8] Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit. Zum Bündnis gehören die EAWU-Mitglieder und Tadschikistan. Das Bündnis scheint seit einiger Zeit zu schwächeln. Obgleich die Beziehungen zwischen Moskau und Nur-Sultan sehr eng in der Vergangenheit waren, ging zumindest letztere auf Distanz zum Kreml wegen des Einmarsches in die Ukraine im Februar 2022.
[9] In der ersten Ausgabe der AGORA Europa beleuchten die Autoren unter anderen den Einfluss des WEF auf die Weltpolitik: https://gegenstrom.org/shop/agora-europa/agora-europa-the-great-reset/
[10] Das Schmitt’sche Konzept von der „Völkerrechtlichen Großraumordnung mit Interventionsverbot raumfremder Mächte“ scheitert bereits an einer sachlichen Definition. Was ist eine raumfremde Macht? Was wäre eine Intervention einer „nicht-raumfremden“ Macht z.B. in der Arktis, Antarktis, auf den Ozeanen oder im Weltraum, wo die künftigen Kriege ausgefochten werden dürften. Warum sollten sich „raumfremde“ Großmächte daranhalten? Vielmehr widerspricht das den Großmächten innewohnenden Expansionsstreben diesem Konzept und ist damit hinfällig.
[11] Trotz Genfer Konvention von 1949 kam es seitdem zu wiederholenden Brüchen des sog. Kriegsrechts. Zuletzt erinnert der Einmarsch in Afghanistan oder in den Irak an diese langgehütete Tradition großer Mächte. Auch die Bundeswehr hat sich dabei gem. diesem Rechtskreis im Rahmen des im September 2009 durchgeführten Luftangriff bei Kundus nicht mit Ruhm bekleckert. Der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung musste deshalb zurücktreten. Auf ihn folgte Karl-Theodor zu Guttenberg.