Geopolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit

by | 14. Jan. 2023 | Philosophie & Theorie

In dem folgenden Text vergleicht unser Gastautor Jürgen Schwab die geopolitischen Ansprüche US-Amerikas mit der Wirklichkeit und kommt zum Schluss, dass eine Aufgabe der nationalen Souveränitäten in Europa nicht den Interessen aller Mitgliedstaaten der EU entspricht. Die Vorstellungen insbesondere westlicher Geostrategen treffen hier auf die knallharte Wirklichkeit. Es gelte die konkrete Faktenlage zu berücksichtigen und sich auch als Deutsche seiner geopolitischen Position bewusst zu werden. Schwab erwähnt hierbei zudem eine quipolare Weltordnung, bestehend aus den Großmächten USA, Europa, Russland, China und Indien, wobei er diese kritisch hinterfragt. Gibt es ein politisch agierendes Europa überhaupt? Wie steht es mit den anderen Mächten? Wo gehen die USA hin? Werden Sie Ihre Weltmachtstellung erhalten können oder sind sie gerade dabei selbige zu verlieren? Die Redaktion

Als Francis Fukuyama 1989 das „Ende der Geschichte“ konstatieren wollte, machte er die vielzitierte Rechnung ohne den Wirt. Der japanischstämmige amerikanische Politologe unterstellte, dass sich der Rest der Welt, vom Westen einmal abgesehen, in sein scheinbar unabwendbares Schicksal fügen werde, und demzufolge an dieser Zeitenwende mit dem Sturz der Sowjetunion und des kommunistischen Ostblocks der globale Sieg des von den USA angeführten Lagers des Liberalismus und Kapitalismus unaufhaltsam sei. Mit dem Niedergang Russlands in der Gorbatschow- und Jelzin-Ära schien der Weg frei zu sein von einer bis 1989 bipolaren zu einer dann unipolaren Weltordnung.

Aber mit der Zeit und mit den vielen erfolglosen militärischen Abenteuern von USA und NATO, nicht zuletzt im Irak und in Afghanistan, wurde aber deutlich, dass die USA ihre imperialen Kräfte überdehnen, dass ihre Bäume nicht in den Himmel wachsen. Man begnügt sich vielmehr mit wirtschaftlicher Einflussnahme, dem Versuch von Farbenrevolutionen und Stellvertreterkriegen, wie derzeit in der Ukraine gegen Russland. Das Wunschgebilde der USA von einer unipolaren Ordnung scheint nun einer multipolaren Ordnung zu weichen. Genau gesagt müsste es sich – lateinisch gesprochen – um eine quipolare Weltordnung handeln – mit den fünf Weltmächten USA, Europa, Russland, China und Indien. Umgeben von (kontinental-) regionalen Großmächten wie Japan, Großbritannien, Saudi Arabien, Iran, Türkei und Pakistan.[i]

Aber auch das von mir entworfene Modell einer „Quipolaren Weltordnung“ erscheint fragwürdig, da es darauf hinauszulaufen scheint, dass wir die nächsten Jahre eine bipolare Weltordnung mit USA und China bekommen werden, die ich als A-Weltmächte bezeichne, während Europa, Russland und Indien B-Weltmächte mit geringerer militärischer und/oder wirtschaftlicher Ausstrahlungskraft sind.

Hierzu nur ein Beispiel. Egal wie der anhaltende Krieg in der Ukraine ausgehen wird, so oder so wird Russland wahrscheinlich seine ursprünglichen maximalen Kriegsziele einer vollständigen Unterwerfung dieses Landes nicht erreichen und am Ende infolge eines Abnützungskrieges völlig erschöpft in die Arme Chinas sinken. Moskau dürfte immer noch über die zweitstärkste militärische Streitkraft hinter den USA verfügen, beim BIP (Bruttoinlandsprodukt) liegt man im flächenmäßig größten Land der Erde allerdings eher auf dem Niveau Italiens.

Das heißt, Putins Machtansprüche sind das eine, die wirklichen geopolitischen Kräfteverhältnisse offenbar etwas anderes. Aber dies lässt sich auch über Europa sagen. Die EU, die ich nicht mit Europa gleichsetze, ist keine zentrale Macht, die sie aber gerne noch werden möchte. Brüssel wird getragen von den nationalen Hauptstädten, vor allem von Berlin, Paris, Rom, Madrid und Warschau. Alexander Dugin, ein wesentlicher Vordenker einer multipolaren Weltordnung, schreibt in seinem sehr empfehlenswerten neuen Buch Eurasische Mission (London, 2022),[ii] dass sich Europa gefälligst zu einem von den USA emanzipierten „Reich Europa“ weiterentwickeln solle. Dagegen seien die europäischen Nationalstaaten, mit eigenen Souveränitäten, aufzugeben. – Die Idee ist nicht abwegig, sie liegt vielmehr auf der Hand, da die vielfältigen europäischen und nationalstaatlichen Souveränitäten einer schlagkräftigen, einheitlichen Formierung eines europäischen Weltmachtanspruchs im Wege stehen würden. Sie behindern sich gegenseitig.

Deutschland auf sich alleine gestellt, so viel muss klar sein, ist als Weltmacht zu klein, um sich aber aus dem Weltgeschehen herauszuhalten, wiederum viel zu groß. Alain de Benoist meinte einmal, dass es sich bei Deutschland nicht um das Großherzogtum Liechtenstein handele. Kurzum, Deutschland ist die erste Großmacht Europas, aber keine eigenständige Weltmacht. Es müsste über einen geopolitischen Raum verfügen bzw. über diesen hegemonial herrschen. An dieser Aufgabenstellung sind Wilhelm II. und Hitler gescheitert.

Gemäß Dugins „Vierter Politischer Theorie“ (nach den drei Theorien des Liberalismus, des Kommunismus/Sozialismus und des Nationalismus/Faschismus), einer eklektizistischen Zusammenfassung positiver Elemente von Kommunismus, Nationalismus und Traditionalismus, ist der Nationalstaat der Moderne entsprungen und er ist überlebt. Aus russischer imperialer Sicht lässt sich das leicht sagen, zumal die geistesgeschichtlichen Entstehungsursachen des Nationalstaates dabei unberücksichtigt bleiben.

Der moderne Nationalstaat, der keinesfalls an eine bürgerlich-kapitalistische Ordnung gebunden ist, auch wenn er so entstanden sein mag, ist ja gerade – trotz modernen Ursprungs – eine wesentliche Tradition Europas. Europa an sich gibt es politisch nicht, es ist aus den europäischen Nationen hervorgegangen. Natürlich wäre es denkbar, im Sinne Dugins den europäischen Nationen die staatliche Souveränität wegzunehmen, diese alleine auf Brüssel zu übertragen, den europäischen Nationen nur noch nationalkulturelle Autonomie zu überlassen. Das heißt, man kümmert sich wie heute die Südtiroler um die eigenen sprachlichen, kulturellen und sonstigen regionalen Belange, während die nationalstaatliche Souveränität in diesem Falle in Rom liegt.

Ich selbst sehe mich als deutscher Nationalist und als Europa-Skeptiker, würde einen europäischen Staatenbund befürworten, der eng wirtschaftlich, technologisch und militärisch zusammenarbeitet. Dass in diesen Tagen die BRD-Regierung Jagdflugzeuge aus den USA bestellt und nicht wie im Falle von Airbus mit Frankreich und Spanien zusammen nach einer von den USA unabhängigen europäischen Lösung sucht, macht mich wütend vor Ohnmacht.

Die europäischen Nationalstaaten lassen sich nicht aus dem Handgelenk ungeschehen machen bzw. einfach mal so verbieten. Die Deutschen wären wohl am ehesten bereit, ihre „Deutsche Daseinsverfehlung“ (Ernst Niekisch) aufzugeben, das heißt, Hitler und Holocaust hinter sich zu lassen und sich in Richtung Europa vom als negativ empfundenen deutschen Nationalstaat zu verabschieden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es junge Westdeutsche, die symbolisch Grenzpfähle zu unseren westlichen Nachbarn ausrissen. Oder man denke nur an Helmut Kohl (CDU), der alles tat, um ein guter Europäer zu sein, der vom deutschen Nationalstaat nichts mehr wissen wollte. Dass ausgerechnet er dann 1989/90 mit dem Projekt Deutsche Einheit seine eigene Karriere rettete, zeigt, wie widersprüchlich Geschichte sein kann.

Das heißt aber nicht, dass die anderen Europäer um uns herum dies genauso sehen würden. Franzosen und Italiener wollen ihre nationalstaatliche Souveränität nicht restlos schleifen lassen. In Paris eher noch Macron, aber nicht mehrheitlich das französische Volk. In Italien nach dem rechten Regierungsantritt weder das Volk noch die Administration. Dass unsere östlichen Nachbarn wie Polen und Ungarn zuerst Nationalisten und dann Europäer sind, ist sowieso klar. In Russland ist dies ein völlig anderes Thema. Dugin, vor Jahren noch selbst Nationalist gewesen, weiß, dass der Nationalismus, also der Nationalstaatsgedanke, der Sargnagel für das russische Imperium wäre. Würden die Russen nach einem russischen Nationalstaat streben, würden ihnen die Bürger Tschetscheniens, Dagestans, Tatarstans und in den Weiten Sibiriens wohl folgen, das heißt auch nach eigenen Nationalstaaten streben. Dies ist der feuchte Traum von US-Administration und Westlern.

Es ist also ein großer Unterschied, ob man – aus durchaus nachvollziehbaren geopolitischen Gründen – beabsichtigt, die Souveränitäten europäischer Nationalstaaten zu beseitigen und diese in Brüssel zentral zusammenzufassen, oder ob man von Moskau aus sagt, dass innerhalb des russischen Reichs nur die Russen über nationalstaatliche Souveränität verfügen dürfen, während sich Tschetschenen usw. mit nationaler Autonomie begnügen sollen. Bei dem einen eurasischen Projekt, dem europäischen, geht es um die A b s c h a f f u n g vielfältiger nationalstaatlicher Souveränität, in Russland um die V e r h i n d e r u n g vielfältiger nationalstaatlicher Souveränität. So oder so, auch dies schreibt Dugin, kann nur jeder kulturelle Raum dies für sich selbst entscheiden.

[i] Bei Japan, Großbritannien, aber auch bei Europa stellt sich die Frage nach eigenständiger imperialer Macht, weil man geopolitisch eher als Anhängsel der USA und nicht als eigenständige Großmacht erscheint.

[ii] Alexander Dugin: Eurasische Mission. Eine Einführung in den Neo-Eurasianismus. Arktos, London 2022. arktos.com; 19,50 Euro, 280 Seiten, kartoniert, ISBN 978-1-914208-89-8.