Ein Platz an der Tafel der Könige Teil 2 – Deutschland: Zu groß für eine Nation, zu klein für ein Reich?

by | 22. May. 2023 | Germany and the world, Viewpoints

Der zweite Teil des Leitartikels der dritten Ausgabe der AGORA EUROPA, befasst sich eingehender mit der Rolle Deutschlands im Macht- und Interessenkomplex Europa. In welcher Ausgangslage befindet sich Deutschland, aufgrund seiner geographischen Lage und geschichtlichen Rolle? Und welche strategischen Möglichkeiten und Wege, zurück zu einer Führungsposition ergeben sich daraus?

 

 

„Wer Deutschland hat, der hat Europa, und wer Europa hat, hat die Welt.“

Konrad Adenauer, mit Verweis auf Lenin als indirekten Urheber

 

„Der Weg nach Konstantinopel führt durch das Brandenburger Tor.“

Indirektes Zitat von Jordis von Lohausen

 

Die wohl älteste Frage, die sich Europa stellt, ist die nach dem Zeitpunkt und Ort des nächsten Krieges. Wer dieser Frage nachgeht, wird nicht umhinkommen, dabei die Interessen Deutschlands mit in seine Betrachtungen einzubeziehen. Daher ist die alte Europafrage, wie es schon der berühmte US-amerikanische Geostratege George Friedman sagte, in Wirklichkeit die Deutschlandfrage[1]. Denn immer herrschte in Europa dann Frieden, wenn die Deutschen geteilt, zersplittert und außenpolitisch schwachbrüstig auftraten. Gleichzeitig bedeutete ein erstarkendes, sich einendes Deutschland eine Verschiebung der ersten Reihe innerhalb des Konzertes der Mächte (Metternich)[2]. Innerhalb der pluralistischen Ordnung des Westfälischen Friedens, der das Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges war, wurde ein Wiedererstarken eines Deutschen Reiches zu verhindern versucht. Die Ursachen des Ausbruches 1618 liegen tief im deutschen Lutheranismus und der damit einhergehenden Emanzipierung von der alten römisch-katholischen Universalität begründet. Innerhalb dieser Zeit kristallisierte sich das Konzept der Balance of Power[3] heraus, indem eine Verbindung von mehreren Entitäten zu einer Großmacht, die Europa alleine beherrschen könnte, vehement verhindert werden sollte. Das große Sorgenkind dabei blieb Deutschland. Spannungen zwischen den Häusern Habsburg und Hohenzollern – und somit zwischen dem protestantisch dominierten Norden sowie dem katholisch dominierten Süden des Reiches – gehörten zur Überlebensstrategie der geopolitischen Ordnung. Auch die heutige Weltordnung spielt nach den gleichen Regeln, wie seit Unterzeichnung der Friedensverträge von 1648 in Münster und Osnabrück, wenn sie auch 1806 mit dem Auftreten des mächtigen Korsen Napoleon aufgelöst wurden. Nach dem Sieg über Frankreich 1813/1814 manifestierte der Wiener Kongress diese internationale Ordnung, womit sie endgültig ein Bestandteil der Weltpolitik wurde. So kann und wird die bestehende Weltordnung nur auf zwei Arten infrage gestellt werden:

Eine der bestehenden Mächte ersten Ranges hebt sich zur Hegemonialmacht auf oder eine zweitrangige Macht tritt in den Kreis der Entitäten des ersten Ranges ein, was wiederum zu einer Anpassung aller anderer erstrangigen Mächte führt (namentlich das Ökonomische und Militärische).[4]

Es wundert daher nicht, dass der zweimal amtierende britische Premierminister Benjamin Disraeli die deutsche Einigung von 1871 in Form der „Kleindeutschen Lösung“ als ein weitaus wichtigeres Ereignis als die Französische Revolution betrachtete[5].

Als Deutsche haben wir Interesse daran, uns mit der Rolle unseres Landes in der Weltpolitik zu befassen. Auf der einen Seite steht der sicherlich von jedem vernunftbegabten Menschen angestrebte Frieden. Auf der anderen die geopolitischen und vielleicht zunächst nationalen Interessen des Vaterlandes. Diese Diskrepanz soll Gegenstand dieses zweiten Teils sein.

 

Deutschland, (k)ein souveräner Akteur

Was ist Souveränität?

Das „Etymologische Wörterbuch des Deutschen“ versteht unter Souveränität die „unumschränkte Herrschaft, höchste staatliche Herrschaftsgewalt“ oder gar „staatliche Überlegenheit“. Das Wort souverän stammt von dem lateinischen superanus, was „oben“ oder „darüber stehend“ bedeutet. Allgemein kann der Begriff mit „Selbstbestimmung“ übersetzt werden. Souverän ist also nur, wer selbstbestimmt ist.

Die Souveränitätsfrage der Deutschen ist zu einer der wesentlichsten überhaupt geworden – sowohl außen- wie auch innenpolitisch. Die Souveränitätsbewegungen, die sowohl linke wie auch rechte Elemente integrieren, zeugen davon. Dabei wird oft versucht, diese offensichtlich fehlende und bereits im ersten Teil dieses Essays erwähnte Souveränität juristisch zu begründen. Doch wenn man versucht, diese Frage de jure zu beantworten, wird man sich im Kreis bewegen. Ein wesentliches Grundgesetz in der Politik besagt, dass Recht nicht Macht, sondern umgekehrt die Macht das Recht setzt. Es ist tatsächlich unerheblich, welche Regeln de jure feststehen, denn diejenigen, die die hoheitliche Gewalt ausüben, können de facto sowieso machen, was sie wollen. Es nützt niemandem und am wenigsten den Ukrainern, auf die völkerrechtliche Situation zum Einmarsch der Russen in ukrainisches Gebiet hinzuweisen. Der Kreml schafft Fakten und braucht dazu keine Rechtspamphlete. Die USA beherrschen diese Art von Politik par excellence. Weder den Afghanen, den Serben, den Irakern, noch den Libyern hat diese rechtliche Argumentation geholfen.[6]

Souveränität ist demnach die Grundvoraussetzung für die Durchsetzung geopolitischer Interessen. Möchte Deutschland also seine Aufgaben auf der eurasischen Halbinsel wahrnehmen, muss es seine Souveränität zurückerlangen. Dies wird weniger durch juristische Spitzfindigkeit, als vielmehr durch das Schaffen von Fakten bewirkt. – Es sei an dieser Stelle betont, dass die juristische Situation keineswegs ignoriert werden soll, aber hervorgehoben werden muss, dass die de-facto-Situation entscheidend ist. Die juristischen Knebelungen z. B. durch das Besatzungsrecht seit 1945 sind in der Analyse durchaus zu betrachten und auch entscheidend. Allerdings gibt die Jurisprudenz keine hinreichende Lösung dafür, wie dieser Umstand negiert werden kann. Das können einzig und allein die souveränen, also geistig selbstbestimmten Köpfe eines Volkes.

 

Immer noch Akteur

Zwar hat Deutschland den Großteil seiner Souveränität eingebüßt, doch ist es wirtschaftlich betrachtet ein sehr mächtiger Spieler auf der Weltbühne. Im Jahr 2021 war es immerhin auf Platz vier der größten Volkswirtschaften auf diesem Planeten, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Die Deutschen haben es allein im 19. Jahrhundert zweimal geschafft, wie der Phoenix aus der Asche zu einer Großmacht mit Potenzial zur Weltmacht aufzusteigen. Dieser Umstand liegt tief in den Erinnerungen seiner Nachbarn vergraben, weshalb es auch von allen Entitäten in und außerhalb Europas argwöhnisch beäugt wird. Man traut dieser jungen Nation nicht so recht, die es immerhin in den letzten 150 Jahren mehrfach fertigbrachte, dass der gesamte Kontinent tobte. Es sei an die Einigungskriege von 1864 bis 1871 erinnert. Beide Weltkriege hatten ihren Ursprung in diesem europäischen Zentrum. Die Sieger des zweiten Dreißigjährigen Krieges[7] tun – aus ihrer Sicht betrachtet – gut daran, den Deutschen die alleinige Kriegsschuld einzutrichtern. Doch diese Schuldgefühle haben nicht verhindert, dass sich auch nach der Katastrophe von 1945/1946 Deutschland wieder aufraffte und heute die größte europäische Wirtschaftsmacht ist.

 

Wie bereits zuvor betrachtet, ist die Europäische Union ein Kind der beiden größten europäischen Mächte, Deutschland und Frankreich[8]. Letztere wollten den Euro forcieren, um die wirtschaftliche Stärke der Deutschen, die auch eng verbunden mit ihrer Währung, der D-Mark, verknüpft war, einzudämmen[9]. Trotz der Tatsache, dass die Einführung des Euro eine Beschneidung deutscher währungspolitischer Macht bedeutete, beflügelte dies die Exporte deutscher Produktionen und Dienstleistungen[10]. Heute stehen sich beide Nationen wieder gegensätzlich gegenüber. Während Deutschland das wirtschaftlich gut und fiskalpolitisch ordentlich aufgestellte Nordeuropa repräsentiert, erhebt Frankreich als Vertreterin des hochverschuldeten Südeuropas die Forderung einer gesamthaften Schuldenunion. Diese Divergenzen können sich zu einem Brennpunkt entwickeln.

 

Deutschland, Knecht seiner geographischen Lage

Deutschland ist geographisch betrachtet der Schnittbereich aller durch Europa führenden Interkontinentalachsen. Die Abbildung 4 zeigt diese in Form von Linien nach Jordis von Lohausen. Dabei wird deutlich, dass Deutschland Dreh- und Angelpunkt des Weltgeschehens sein muss. Von Lohausen bezeichnete Deutschland daher auch als Europas „Zwischengelaß mit nach sieben Seiten offenen Türen[11].

Es handelt sich dabei um das Koordinatenkreuz zwischen allen Eurasien betreffenden Größen (siehe die Ausführungen in Teil I):

Die nordische Welt (Skandinavien und die nördlichen Meere)

Die mediterrane Welt im Süden (Südeuropa und Afrika)

Die ozeanische im Westen (Atlantik)

Die festländische und kontinentale (Eurasien) im Osten

 

 

 

 

 

 

Abbildung 4: Weltschnittpunkt Deutschland[12]

Zusammen mit Frankreich macht es die Rumpflandschaft Europas aus[13]. Von Lohausen bezeichnete Skandinavien, England, Spanien, Italien und den Balkan als die fünf Finger der Halbinsel. Deutschland sei dabei die Hand, die zu diesen fünf Fingern gehört.

 

Ein Blick auf die Karte verdeutlicht, dass Deutschland keine natürlichen Außengrenzen, jedoch unzählige Innengrenzen besitzt. Dadurch war es stets von potenziellen Konkurrenten umgeben, was die Furcht vor einer Einkreisung lebendig hielt. Otto von Bismarck führte daher in seinem berühmten Kissinger Diktat aus, dass der „Albtraum von Koalitionen“ in Europa verhindert werden müsste. Denn strategisch ist es in der schier ungünstigsten Position, was die Defensive anbelangt. Gleichzeitig ist es jedoch in der strategisch günstigsten Position, was die Offensive angeht.

Deutschland hat demnach nur zwei Möglichkeiten, seine Stellung in Europa zu wahren: Entweder es erreicht eine derartige militärische Macht, dass auch Koalitionen zwischen einzelnen Entitäten ihm nichts anhaben können oder es betreibt eine ausgeklügelte Diplomatie, die eine solche Koalition von vornherein verhindert.

Da 1. insbesondere heute ziemlich unrealistisch ist, muss auf 2. gesetzt werden.

 

Deutschland ist die politische Brücke zwischen der Alten und der Neuen Welt, was auch der momentane Krieg in der Ukraine wieder verdeutlicht. Alle Augen, ob russisch, ukrainisch, amerikanisch oder europäisch, sind auf Deutschland gerichtet. Deutschland kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen, es kann nicht so ohne Weiteres von der politischen Weltbühne verschwinden. Dies hätte massivere Auswirkungen als der Abgang Spaniens oder Großbritanniens. Ein kurzer Blick in die jüngere Geschichte des Kalten Krieges unterstreicht diesen Umstand noch einmal. Deutschland war Dreh- und Angelpunkt zwischen den beiden Weltmächten.

 

Die Deutschen, ein Reichsvolk

Die Deutschen sind aber nicht nur im Zentrum des politischen Weltgeschehens, sondern leben in der Sphäre, in der der europäische überregionale Reichsgedanke seinen Ursprung hat. Mit Karl dem Großen und der Kaiserwürde von 800 n. Chr. entstand ein weit umspannendes Reich auf der europäischen Halbinsel. Die Deutschen sind, genauso wie die Russen und die Chinesen, ein Reichsvolk. Deutschland war immer mehr Reich als Nationalstaat. Dieser ist eine sehr junge Idee, die bei den Deutschen recht verspätet eintrat. Eine nationale Identität haben die Deutschen allerdings schon lange. Nur sich als einheitliche Entität zu betrachten, hat lange gedauert und ist auch bis heute nicht sicher. Immer wieder kommen Animositäten zwischen den Bundesländern auf. Es sei an die Separationsbewegungen in Bayern und Sachsen erinnert.

 

Das deutsche Volk ist viel zu groß, um eine Nation im nationalstaatlichen Sinne zu bleiben. Seine Geschichte ist zu stark mit den Historien anderer europäischer Kulturen verwurzelt, um nicht Einfluss auf diese auszuüben. Auch aus rein geopolitischen und letztlich damit auch strategischen Überlegungen heraus ist es als Nation für Deutschland viel zu gefährlich, darauf zu warten, dass sich der Alptraum der Koalitionen wiederholt. Nur als Reich oder als Bestandteil einer bundesstaatlichen, konföderalen oder föderalistischen Konstitution kann es sich auf dem eurasischen Schachbrett behaupten und den Frieden auf der Halbinsel erhalten. Wichtig ist dabei, dass sich Deutschland seiner Verantwortung bewusst wird. Denn die Geschichte zeigt, dass in ihm auch der Wahn schlummert, der immer wieder zu massiven Ausschweifungen führte. Die Deutschen machen keine halben Sachen. Erfolg und Katastrophe standen hier verdächtig oft in enger Verbindung miteinander. George Friedman schreibt daher treffend: „Es gibt kein Land in Europa, das nicht schlechte Erinnerungen an Deutschland hat. Selbst die Deutschen haben schlechte Erinnerungen an sich selbst.[14]

 

Deutschland und Österreich

Es fällt auf, dass in der Diskussion über die Deutsche Frage Österreich in der Regel ausgespart wird. Mittlerweile hat sich unter den Österreichern eine eigene Identität als Nation etabliert. Dennoch betrachten viele Deutsche die Österreicher ebenfalls als deutsch (Ostmärker). Auch machen die aus der BRD stammenden Deutschen die größte Gruppe Eingewanderter in der BRÖ aus. Die Geschichte des Österreichischen Kaiserreiches ist eng verwoben mit der von Deutschland. Immer wieder war es in der Vergangenheit ein wesentliches Streitthema – zuletzt 1938 mit Anschluss an das Deutsche Reich unter einem österreichisch stämmigen Reichskanzler. Der Deutsche Bund, der sich aus dem geopolitischen Ordnungskonzept des Wiener Kongresses ergab, ist eine der wenigen Beispiele deutsch-österreichischer Bundesstaatlichkeit mit weitestgehend befriedender Wirkung auf Europa. Insbesondere deutsche Nationalisten betrachten diese Zeit eher mit Argwohn, da der Staatenbund sich vor allem durch seine Klein- und Kleinststaaterei auszeichnete. Ziel dieses Bundes war es schließlich, das im Zuge der Französischen Revolution und während der Napoleonischen Kriege aufkeimende Nationalbewusstsein der Deutschen einzudämmen und damit zu verhindern, dass eine einzelne Großmacht mit Potenzial zur Vorherrschaft auf der eurasischen Halbinsel entsteht. Dennoch hielt diese Ordnung ein halbes Jahrhundert an und befriedete Europa, weshalb es zumindest als geboten erscheint, sich näher damit zu befassen[15].

 

Der Deutsche Bund sollte seine Mitgliedstaaten an den Außengrenzen schützen. Durch die Zersplitterung in die vielen Fürstentümer und den beiden Antipoden Preußen und Österreich, gab es keine Macht, die groß genug gewesen wäre, seine Nachbarn einzuverleiben. Gleichzeitig war der Bund in seiner Gesamtheit stark genug sich vor Angriffen von außen zu verteidigen. Ein herausragendes Beispiel für ein Gleichgewicht der Mächte (Balance of Power).

 

Dennoch zerbrach dieses bundesstaatsähnliche Gebilde letztlich unter der Reibung zwischen den Antipoden und der viel zu unterschiedlichen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft. Während Österreich – insbesondere zu Zeiten eines Fürst von Metternich – einen eher europäischen und universellen Charakter hatte, war Preußen ein nationalstaatlich und auf seine eigenen nationalen Interessen ausgerichtetes Königreich. Dieser Unterschied zwischen Nord und Süd wird bis heute deutlich, weshalb der Deutsche Bund eher als Lehrbeispiel für eine anzustrebende Großraumordnung dient.

 

Raumdenken vor Nationalegoismus

Als historisches Reichsvolk mit einer Geschichte von sich stetig abwechselnden, gen Himmel ragenden Höhen und abgründigen Tiefen sowie wegen seiner geographischen Zwangslage ist das Deutsche Volk gleich dem Russischen dafür prädestiniert, in Räumen zu denken. Auch letztlich aus reinem nationalen Interesse heraus, muss es den Deutschen ein Anliegen sein, in Europa wieder eine befriedende Ordnung zu schaffen. Das Konzept des Europa der Räume, wie es Dominik Schwarzenberger in dieser Ausgabe skizziert, in Verbindung mit dem durch Alexander Dugin populär gewordenen geopolitischen Konzept einer multipolaren Weltordnung dient hierbei als Anlaufpunkt. Wie genau diese Räume konzipiert sein sollen, welche Verfasstheit selbige aufweisen und welche Entitäten mit wem zusammenarbeiten, steht auf einem anderen Blatt und sollte weiterhin untersucht werden. Dabei muss klar sein, dass diese Ordnung steten Dynamiken ausgesetzt ist und daher nicht auf dem Reißbrett Gestalt finden kann.

 

Mit mehreren Großräumen auf der eurasischen Halbinsel, mit jeweiligen Ordnungsmächten an der Spitze, würde ein ähnliches Gleichgewicht zu schaffen sein, wie es zu Zeiten des Deutschen Bundes vor 1864/1866 der Fall war. Hier können vor allem Frankreich und Deutschland für ihre Nachbarn und ggf. spätere Großräume Verantwortung übernehmen. Osteuropa und der Balkan werden eine eigene Lösung finden müssen, die unabhängig von den westeuropäischen Bestrebungen ist. Nur so werden sich die europäischen Entitäten  einer zu übergriffigen Behandlung durch Russland oder US-Amerika erwehren können. Ohne europäische Großräume kein Drittes Europa.

Eines muss daher bereits jetzt klar sein: Der Nationalegoismus – so natürlich er auch sein möge – muss eben aus der Liebe zur eigenen Nation dem Raumdenken zurückstehen. Wer, wenn nicht die Deutschen muss das verstehen können?

 

Die Deutschen haben Verantwortung

Es dürfte mehr als deutlich geworden sein, dass den Deutschen eine unglaublich wichtige Verantwortung in die Wiege gelegt wurde. Es ist das Schicksal dieser noch jungen Nation mit einer Jahrhunderte alten Reichsgeschichte. Den Deutschen fehlt allerdings die Vision, die sie der Welt schulden. Gleichzeitig ist der historisch belegte Hang zum Wahn mit Vorsicht zu betrachten. Die Deutschen sind jeweils von null auf hundert hochgefahren und deshalb immer wieder dem Größenwahn verfallen. Es ist hier wie mit allen Dingen in dieser Welt, die zu schnell wachsen. Wer eine Pflanze nur zu gießen braucht, muss nicht noch extra an den Blättern ziehen. Allenfalls verhindert er die reiche Blüte, die in der Zukunft auf ihn wartet. Die Blätter dieses Pflänzchens sind noch klein und schwach, doch mit stetigem, wenn auch langatmigem Bewässern werden sie groß und mächtig zum Vorschein kommen. Die Blütenkrone wird vielleicht noch sehr lange auf sich warten lassen, doch, wenn der Gärtner Geduld und Ausdauer aufbringt, ist sie am Ende dieses Zyklus sicher.

 

Sendungsbewusstsein

Wer also Deutschland liebt, muss auch lernen, Europa zu lieben. Wer Europa liebt, muss darüber wachen, dass die Liebe für Deutschland ihn nicht ertränkt. Dieses Sendungsbewusstsein mit dem klaren und durchaus attraktiven Anliegen, Europa den Frieden zu bringen und ihm damit seinen Platz in der Multipolaren Weltordnung zu sichern, ist Voraussetzung dafür.

 

Ordnungsmacht, keine Hegemonialmacht

Das bedeutet auch, dass Deutschland sich als Diener der Ordnung sieht. Es darf und soll sich nicht als Hegemonialmacht begreifen. Im Gegenteil, die Ordnung ist nur aufrechtzuerhalten, wenn das Hegemonialbestreben und somit auch das nationalegoistische Denken dem Raumdenken weicht. Es ist den Mitgliedern eine gewisse Souveränität zuzusprechen. Deutschland sollte sich daher eher als Suzerän verstehen, der seine teilsouveränen Bundesgenossen schützt.

 

Ohne Deutschland dürfte es in der Welt sehr dunkel werden. Zumindest sollte das deutsche Volk von diesem Willen beseelt sein und sich somit auch seiner Aufgabe gewahr werden. Mögen diese Zeilen sehr missionarisch klingen. Die Deutschen haben keine andere Wahl: Entweder sie übernehmen Verantwortung oder überlassen anderen das Schachbrett, mit dem hohen Preis, dass selbige Deutschland als Spielball gebrauchen werden. Will Deutschland sich selbst erhalten, muss es lernen, in Räumen zu denken.

 

 

[1]                  Vgl. dazu Friedman, George (2015, S. 213). Flashpoints. Pulverfass Europa. Krisenherde, die den Kontinent bedrohen. Deutsche Ausgabe. Plassen Verlag, Kulmbach

[2]                  Henry Kissinger schreibt dazu in seinem Buch „Weltordnung“ auf S. 78-79: „Wenn Deutschland zu schwach war, provozierte es ausländische (zumeist französische) Interventionen, während es als geeinte Nation so stark wurde, dass es alleine seine Nachbarn besiegen könnte, die dadurch in Versuchung gerieten, sich gegen diese Gefahr zu verbünden. So gesehen war Deutschland lange Zeit für einen Frieden in Europa entweder zu schwach oder zu stark.“

[3]                  Diese Politik wurde massiv von den Franzosen, allen voran Kardinal Richelieu, fokussiert. Hier liegt auch die Geburt des bis heute schwelenden Konfliktes zwischen Deutschland und Frankreich. Die Teilung Mitteleuropas ist bis heute wesentlicher Bestandteil französischer Außenpolitik. Die Furcht vor einem Zusammenschluss Deutschland, Österreich und Norditalien lag und liegt bis heute Tief in der DNS französischer Politiken.

[4]                  Ich verweise hierzu auf meine bereits im Dezember 2019 veröffentlichten Ausführungen über die Geschichte der europäischen und globalen geopolitischen Ordnung. Steinborn, P. (2019). Europa als Gemeinschaft – Großraum und Nationalstaat. Verfügbar unter: https://gegenstrom.org/europa-als-gemeinschaft-grossraum-und-nationalstaat/ (14.08.2022)

[5]                  Vgl. dazu Kissinger, H. (2014, S. 92). Weltordnung (3. Auflage). Bertelsmann Verlag, München

[6]                  Es sei auf den von mir auf www.gegenstrom.org erschienenen Artikel „Neuerungen auf dem Eurasischen Schachbrett – Teil 1: Warum uns die Moral nicht weiterbringt“ verwiesen. Verfügbar unter: https://gegenstrom.org/neuerungen-auf-dem-eurasischen-schachbrett-teil-1-warum-uns-die-moral-nicht-weiterbringt/ (14.08.2022).

Auch Jürgen Schwab veröffentlichte auf derselben Plattform erst im Juli 2022 seine Ausführungen zum Schmitt’schen Interventionsverbot raumfremder Mächte und stellt dabei das bestehende Völkerrecht in Frage. Verfügbar unter: https://gegenstrom.org/zum-weltbild-der-neuen-rechten/ (14.08.2022)

[7]                  Damit ist die Zeit von 1914 bis 1945 gemeint.

[8]                  Der französische Außenminister Robert Schumann sprach bei seiner Erklärung zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1950 davon, dass die Zusammenfassung der europäischen Nationen voraussetze, „daß der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird“. Daher müssen Deutschland und Frankreich als wichtigste Nationen dabei sein. Siehe dazu die Schuman-Erklärung vom 09.05.1950

[9]                  So bezeichnete der damalige außenpolitische Berater des französischen Ministerpräsidenten Mitterand, Jacques Attali, die deutsche Währung als Atombombe.

 

[10]                Dieser Umstand ist zum einen durch die für das Ausland (Nicht-EU-Land) günstigeren Preise zu erklären – die D-Mark verursachte höhere Kosten bei den Importeuren – und zum anderen durch die Entstehung der europäischen Freihandelszone, die insbesondere innerhalb des Euroraums günstigere Bedingungen für EU-Nachbarn lieferte.

[11]                Lohausen, Jordis (1981, S. 123). Mut zur Macht. Denken in Kontinenten. Vowinckel-Verlag, Berg am See

[12]                Bildquelle: ebd., S. 124

[13]                Geschichtlich sind beide Länder die Ost- und Westhälfte des alten nach Karl dem Großen geteilten Frankenreiches.

[14]                Friedman, G. (2015, S. 219).

[15]                Auch hier scheiterte die Friedensordnung am Interesse am Balkan durch Österreich, Großbritannien, Frankreich, Russland und das Osmanische Reich.