Dominik Schwarzenberger – Rückschau auf die Präsidentschaftswahlen in Frankreich

by | 02. May. 2022 | Germany and the world

„Die Bestimmung Frankreichs ist, der Welt lästig zu fallen.“ (Jean Giraudoux)

„Die politische Weisheit der Franzosen besteht darin, genau zu wissen, wann sie aufhören müssen zu denken.“ (Armin Mohler)

 

Das Ergebnis der Stichwahl zum höchsten Amt Frankreichs stellt ein Fanal, ein Wetterleuchten dar: Ein geächteter nonkonformistischer Kandidat bringt es auf 41,5% und kann ganze Regionen und Départements für sich entscheiden. Das Präsidentenamt ist die entscheidende Machtposition Frankreichs, da es sich um ein Semipräsidentielles System handelt, also um eine Mischung aus präsidentiellem (wie USA) und parlamentarischem (wie Großbritannien) System mit Schwerpunkt zum Präsidenten. Aus diesem Grund kann LePens Ergebnis auch nicht einfach auf das übliche Protestverhalten reduziert werden: die Persönlichkeit steht im Mittelpunkt – und zwar mit deren ideologischem Hintergrund. Macron wurde gewählt, um LePen zu verhindern, sein einziges Kapital – er stand in der Defensive.

Die bundesdeutsche Berichterstattung schwankte bei LePens Charakteristik zwischen rechtspopulistisch, rechtsradikal bis rechtsextrem. In Frankreich dagegen gibt es immer noch einen vergleichsweise fairen pluralistischen Diskurs und LePen konnte sich immerhin in den offiziellen Medien frei präsentieren.

Das Ergebnis ist auch deshalb so spektakulär, weil es sich bei Frankreich um die zweitstärkste Volkswirtschaft der EU handelt und um einen immer noch einflussreichen globalen Akteur, der sich um eine souveräne Außenpolitik bemüht.

Überraschungen vergangener Wahlen

Bei vergangenen Präsidentenwahlen der Fünften Republik gab es immer schon im ersten Wahlgang Überraschungen, die nonkonforme alternative Kandidaten betrafen:

*1965 der Vichy-Anhänger Jean-Louis Tixier-Vignancour mit 5,2%

*1969 der Sowjetkommunist Jacques Duclos mit 21,27%

*1981 der Sowjetkommunist Georges Marchais mit 15,35%

*1988 der Rechtsnationalist Jean-Marie LePen mit 14,39% sowie 1995 mit 15%

*2002 schaffte es LePen Senior in die Stichwahl und errang 17,79%

*2002 erzielten die trotzkistischen Rivalen Arlette Yvonne Laguiller 5,72% und Olivier Christophe Besancenot 4,25% und der Linkssozialist Jean-Luc Mélenchon 11,1%

*2012 holte Marine LePen 17,9%

*2017 erreichte Marine LePen erstmals die Stichwahl, die sie mit 33,9% eindrucksvoll meisterte; im ersten Wahlgang Mélenchon 19,58% und der neue Kandidat einer diffusen Mitte (Macron) auf Anhieb 24,01%. Kandidaten der üblichen Mitteparteien traten gar nicht erst an und die Neogaullisten brachten es damals noch auf 20,01%

Der erste Wahlgang 2022

Das Wahlergebnis der ersten Runde ist nicht weniger spektakulär, es kann in seiner symbolischen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Spektakuläre stellen zwei Besonderheiten dar: das starke Abschneiden der Radikalen von Links und Rechts sowie das desaströse Abschneiden der einst dominierenden Lager der linken wie rechten Mitte. Es sei daran erinnert, dass ja auch die Retortenpartei Emmanuel Macrons als populistische Protestkraft der liberalen Mitte antrat, um das verkrustete Politestablishment aufzumischen. Macrons Partei stellt also ebenfalls eine neue Kraft im politischen System dar und reüssierte mit 27,85%.

*Die Radikale Rechte kommt zusammen auf 32,28%. Zusammengefasst wurden die Ergebnisse Marine LePens, Eric Zemmours and Nicolas Dupont-Aignan. Allerdings unterscheidet sich der Hintergrund dieser Kandidaten erheblich. LePen steht für die geächtete ursprünglich außerparlamentarische extremistische Rechte, die sich sukzessiv unter Jean-Marie LePen sammelte und elektoral an Boden gewann. LePen Senior vereinte erstmals alle gegensätzlichen Fraktionen nationalistischer Strömungen: Monarchisten, Katholische Traditionalisten, Jakobiner, Säkulare, enttäuschte Gaullisten, Vichy-Sympathisanten, Antisemiten, jüdische Patrioten uvm. Inzwischen büßt die Formation seit Marine LePens Kurswechsel an Radikalität und ideologischer Vielfalt ein. Zemmours Partei, momentan eher eine schnell gewachsene Wahlkampfmaschine, entstammt enttäuschten Rechten aus dem Politestablishment, die sich aufgrund sozioökonomischer Krisenerscheinungen radikalisierten. Seine Zukunft ist ungewiss. Nicolas Dupont-Aignan wiederum steht für einen rechtskonservativen gaullistischen Traditionalismus, der DeGaulles Erbe bei den verkrusteten Neogaullisten verraten sieht. Hier liegt weiteres Potenzial.

*Die Radikale Linke schafft es auf 25,55%. Dazu zählen die Ergebnisse Jean-Luc Mélenchons, Fabien Roussels (alte eurokommunistische KP), Philippe Poutous (neue eurokommunistische Partei) und Nathalie Arthauds (Trotzkisten). Die ideologische Bandbreite zwischen diesen vier Kandidaten ist noch breiter. Wie zu erwarten stand, unterstützten überproportional viele Einwanderer linksradikale bis linksextremistische Kandidaten.

*Die beiden Kandidaten der konventionellen Parteien, Sozialisten und Neogaullisten, brachten es gerade einmal auf 6,49%.

*Auf die Kandidatur liberaler und christdemokratischer Vertreter wurde verzichtet.

Wahlgeographie

Die Wahlgeographie zeugt von einem geteilten Frankreich mit bemerkenswerten Eigenheiten: LePen triumphiert in ehemals säkularen und linken Regionen der Mittelmeerküste und den verwaisten Industrierevieren des Nordens, ehemaligen Hochburgen der Kommunisten. Damit bestätigt sich der Trend, wonach die Radikale Rechte in traditionelle Arbeitermilieus einbricht. Selbst in säkular-liberalen Regionen mit offener Freimaurertradition – dem Südwesten, konnte LePen zweistellige Ergebnisse einfahren. Das war der konventionellen Rechten bis in die 1980er wie politischen Katholiken und Gaullisten nicht gelungen. Zur letzten Stichwahl 2017 behauptete sich LePen nur in zwei Départements, keiner Region und keinem Überseegebiet.

Demgegenüber konnte sich Macron in traditionell katholisch-konservativen Regionen durchsetzen (Bretagne, Normandie, Vendée). Der katholisch-konservative Osten mit dem Elsaß hielt die Waage. Alarmierend für das französische Establishment sollte gerade dieser Umstand sein: Die traditionellen rechten Regionen, in denen die französischen faschistischen und radikalen monarchistischen Bewegungen gediehen, sind von den gegenwärtigen Rechtsnationalisten noch gar nicht erobert, weil die traditionellen politischen Milieus im Gegensatz zur BRD noch relativ stabil sind. Diese Regionen werden aufgrund ihres Wohlstands noch von den Gemäßigten bedient. In Italien und Großbritannien finden wir einen ähnlichen Trend, wo Lega und UKIP gleichfalls in rote Bezirke einbrechen konnten.

Bei den Überseegebieten der Amerikas, Afrikas und Ozeaniens setzt sich dieses Phänomen fort. LePen kann rote Überseegebiete, die sich im ersten Wahlgang noch für den linkssozialistischen Mélenchon entschieden, für sich gewinnen. Man beachte den Umstand, dass die karibischen und afrikanischen Überseegebiete aus mehrheitlich nichtweißen Bewohner bestehen. Die traditionellen rechten gaullistischen Hochburgen Ozeaniens votierten dagegen weiter für Macron.

Bewertung

Das Politestablishment mit seiner verkrusteten Parteienriege zeigt sich zutiefst erschüttert, das Land unversöhnlich gespalten und radikalisiert. Allerdings können weder LePen noch Zemmour als Authentische Rechte angesehen werden, sondern als hybride Nationalpopulisten bonapartistischer Tradition, eine französische Spezialität. Es zeigt sich ebenfalls, dass in neuartigen populistischen Kandidaten der liberalen Mitte mit US-amerikanischer Rückendeckung die größte Konkurrenz erwächst – ebenfalls ein Trend, der zuerst in Osteuropa und Balkan auftauchte, um nun auch den Westen zu erschließen. Das gesamte elektorale Potenzial der Radikalen Rechten ist längst nicht erreicht. Allerdings hätte eine Präsidentschaft Marine LePens kaum Konsequenzen, da sie das Establishment gegen sich hat und sie zu opportunistisch ohne klare Alternative agiert.