Dominik Schwarzenberger ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er forscht auf den Gebieten der Ethnologie, Religionswissenschaft und zu allgemeinen Identitätsfragen, was ihn zu einem ausgewiesenen Analysten zu geopolitischen Aspekten macht. Aufgrund seiner diversifizierten Studienausrichtungen berät er zudem internationale Denkfabriken. Seine Analysen wurden in zahlreichen Magazinen und Zeitschriften, so z.B. Neue Ordnung, Hier & Jetzt und AGORA EUROPA, veröffentlicht. Des Weiteren erschienen mehrere Veröffentlichungen im Jungen Forum. Zu seinen Buchveröffentlichen gehören „Paneuropa und totaler Mensch. Das politische Denken Richard Coudenhove-Kalergis“ (Archiv der Zeit 2008) sowie „Terra Incognita – Das andere Amerika. Identitäre Strömungen und Bestrebungen in Lateinamerika“ (Regin 2009) zusammen mit Wolfgang Bendel.
Nachfolgend veröffentlichen wir ein Gespräch zwischen ihm und Peter Steinborn. Das Gespräch ist in zwei Teilen untergliedert. Hier erfolgt die Veröffentlichung des Teil II. Hier geht es zum Teil I. Die Redaktion
P.S.: Amerika ist nach wie vor die unangefochtene Militär- und Wirtschaftsmacht auf diesem Planeten. Doch der einstige Erbe Roms schwankt. Afghanistan-Rückzug, innere und äußere Widersprüche in Gesellschaft und Politik sowie eine zumindest augenscheinliche Abkehr von der Truman-Doktrin wirken wie ein schwächelndes Reich. Haben wir eine militärische Trendwende? Werden die USA das gleiche Schicksal wie die Sowjetunion erleiden?
D.S.: Ja, genau so – und wie China.
Man sieht den Verfall besonders am Militär: die USA punkten mit Hochtechnologie, Luftwaffe und Hochseemarine, können aber keine besetzten Territorien mehr ohne große Verluste halten. Militär wie Geheimdienste verweigern sich der Realität und ignorieren identitäre Besonderheiten und historische Bewusstseins. Genau wie Rom degeneriert das militärische Personal: es fehlt an qualitativ hochwertigen Nachwuchs. Stattdessen rekrutiert sich das Militär aus zweifelhaften Personen, die sonst nichts finden. Es ist kein Zufall, dass sich das Militär auch rassisch wandelt, da saturierte Weiße keine Verpflichtung und Interesse verspüren und deshalb vor allem auf Schwarze und Latinos zurückgegriffen wird, die überproportional von Perspektivlosigkeit und Apathie betroffen sind – und auf Frauen. In China steht ja die Armee vor ähnlichen Defiziten, weil sich die Leistungsträger viel lieber für Berufe in der kapitalistischen Wirtschaft entscheiden.
P.S.: Die USA sind ein unglaublich großes und vielteiliges Land mit vielen Bundesstaaten. Das kann – ähnlich wie in Russland und China – zu Kontrollproblemen führen. Die Bundesstaaten sind mit nicht zu unterschätzenden Privilegien und Teilsouveränitäten ausgestattet. Insbesondere Corona hat dies deutlich gemacht. Wie stabil sind die Vereinigten Staaten hinsichtlich ihres politisch-republikanischen Bundesstaatensystems?
D.S.: Die USA gehören zu den Kontinentalstaaten mit mehreren Klima- und Zeitzonen. Die vollständige staatliche Erfassung bleibt auch heute unmöglich. Texas ist größer als Deutschland und Polen.
Der US-Föderalismus kann mit dem schweizerischen durchaus verglichen werden. Und genau wie bei diesem expandiert der Zentralismus klammheimlich, was irgendwann mit den Bundesstaaten kollidieren muss. Je nach Bundesstaat existiert ein unterschiedlich starkes Eigenbewusstsein und sogar separatistische Bestrebungen, die sich verstärken können.
P.S.: Blicken wir auf das vergangene Jahrzehnt, wird ersichtlich, dass der Digital-Finanzielle Komplex in den USA gewaltig an Auftrieb gewonnen hat. Es sind viele neue Milliardäre wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg aufgekommen. Diese „neuen Eliten“ schienen die alten Eliten – die politisch von Trump gewissermaßen repräsentiert wurden – zu verdrängen. Nun, mit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, bekommen die Falken wieder Möglichkeiten, sich hervorzutun. Kommen nun die alten Eliten wieder zum Zug? Wie schätzen Sie den Einfluss des Militärisch-Industriellen-Rohstoff-Komplexes dieser Tage ein?
D.S.: Die alte Elite war ja nie abseits, vielleicht nur perplex ob der Emporkömmlinge. Ich sehe ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit einem Heimvorteil für die Alten, die ich aufgrund ihrer Traditionsbildung für erfahrener, verschlagener und organisierter halte – und auch für realistischer, was man Menschen überhaupt zumuten kann. Den Great Reset sehe ich als propagandistisches Schlagwort, das überschätzt wird. Es taugt für uns als wirkungsmächtiger Feindbegriff.
P.S.: Man braucht kein Verschwörungstheoretiker zu sein, um zu wissen, dass Denkfabriken, elitäre Zirkel und exorbitant reiche Einzelpersonen maßgeblich die US-Politik beeinflussen. Wir sprachen gerade von den alten und den neuen Eliten. Auffällig ist, dass Familien wie die Rockefellers, die Rothschilds, die Waltons (Walmart) oder die Johnsons (Fidelity) sich schon stark von den reichen Newcomern unterscheiden. Wo sehen Sie hier Bruchlinien? Gibt es Gemeinsamkeiten, gemeinsame Ziele und wo gehen sie Ihrer Meinung nach auseinander?
D.S.: Zunächst: Auch die alte Elite ist kein Block, auch da gibt es den typischen Wechsel zwischen Rivalität und Kooperation. Einen psychologischen Unterschied zwischen Alten und Neuen erkenne ich im Selbstverständnis: Die Alten begreifen sich als traditionsreiche bewährte Aristokratie, die in den Neuen Kretins erkennt und umgekehrt sehen die Neuen in den Alten verkrustete, visionsarme und zögernde Relikte. Tatsächlich ist ein infantiler, naiver und verspielter Zug bei den Neuen nicht zu übersehen. Für mich sind die Alten die eigentliche Gefahr, weil erfahrener und verschlagener. Die Neuen übertreiben durch ihre direkte, arrogante und dreiste Art.
Den Globalismus mit dem daraus resultierenden nationalen Souveränitätsverlust und vielleicht einer Weltrepublik sehe ich als Gemeinsamkeit, nicht jedoch den Weg dorthin. Manche Alte scheinen die nationale Fassade erhalten zu wollen und benutzen bei Bedarf auch die nationalistische Karte. Man beachte ihr Bild der UNO: Die Neuen und Teile der Alten nutzen die UNO, andere Teile der Alten denunzieren sie dagegen als reglementierendes anonymes kosmopolitisches Organ. Das war ganz besonders im Kalten Krieg so, da es die UdSSR besser verstand, die UNO mit ihrer großen Mehrheit an Staaten der Dritten Welt zu instrumentalisieren. Ein gewichtiger Unterschied besteht im wirtschaftlichen Hintergrund und der Instrumentalisierung von Ökologie und Klima, was die Neuen virtuos beherrschen.
P.S.: Mit dem Krieg in der Ukraine ist der Bruch zwischen Ost und West auf unabsehbare Zeit sicher. Erwarten Sie einen Kalten Krieg 2.0? Wie wird sich dieser von dem ersten Kalten Krieg unterscheiden?
D.S.: So sicher ist der Bruch nicht. Was, wenn Putin stürzt und ein neuer Jelzin auftaucht, genauso installiert – wie vorher Putin –, als versöhnliche Geste gegenüber dem Westen. Es sind schnelllebige Zeiten.
Ein zweiter Kalter Krieg ist durchaus möglich und da steht es noch schlechter um Europa: Wir würden heute noch schneller geopfert werden als beim Original. Die geopolitischen Schwerpunkte haben sich verändert. Neu ist auch, dass es heute nur noch eine Supermacht gibt – und zwar die ebenfalls angeschlagene USA, dafür neue, selbstbewusstere Regionalmächte. Außerdem unterscheidet sich eine Neuauflage in der klaren Frontstellung: Russland hat nur wenige Verbündete, diese sind unbedeutend und schwanken, wie zuletzt Serbien. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Zumindest moralisch ist Moskau Bankrott, es kann sich einfach nicht verkaufen. Da der Westen aber auch im Niedergang begriffen ist, kann sich alles sehr schnell wandeln und meine Glaskugel ist momentan in Nebel gehüllt.
P.S.: Mit dem Rückgang des amerikanischen Weltreiches steht insbesondere Westeuropa alleine da, das sich bisher immer auf seinen größten NATO-Partner verlassen konnte. Was bedeutet dies für Europa? Was bedeutet dies für das eurasische Herzland?
D.S.: Europa ist genötigt, eigene militärische und geopolitische Akzente zu setzen, es ist auf sich zurückgeworfen – und restlos überfordert, weil a) die Erfahrung fehlt und b) das fähige Personal. Innerhalb Europas sehe ich große Unterschiede, damit umzugehen: Frankreich und Italien scheinen das wachsende Vakuum am ehesten zu nutzen, die BRD machen, wie zu erwarten war, die schlechteste (weil hilfloseste) Figur. Das hysterische Verhalten Polens, Estlands und Lettlands kann ich nachvollziehen, die hatten besonders schlimme Erfahrungen mit den Russen. Eine Alternative zur USA als Protektoratsmacht fehlt bis auf weiteres.
P.S.: Die Ukraine spielt schon seit jeher sowohl in der Russischen wie auch in der US-amerikanischen Geostrategie eine gewichtige Rolle als Transitland, Zugang zur See und Pufferstaat. Zbigniew Brzezinski beschrieb in seinem weltberühmten Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, dass Russland einer der wesentlichen Konkurrenten auf dem eurasischen Kontinent ist und es ohne die Ukraine kein eurasischer Akteur mehr sei. Tatsächlich ist der Konflikt insbesondere durch die von den USA massiv forcierte NATO-Osterweiterung provoziert worden. Russland dürfte sich wie ein Mann fühlen, dem man ein Messer an die Kehle hält. Sind die USA verantwortlich für diese Situation?
D.S.: Ja, allerdings wollten auch nicht alle US-amerikanischen Falken eine so schnelle NATO-Osterweiterung, weil man sich nur Probleme einhandelt. Die unerwartet rasche Osterweiterung kam auf baltischen und polnischen Druck zustande. Denken wir an Estland und Lettland mit ihren großen russischen Minderheiten und dem Umstand, dass beide kleinen Völker nach 1945 teilweise deportiert wurden. Das prägt.
Der Metapher mit dem Messer am Hals stimme ich zu. Russland fühlte sich zurecht bedroht, seine dünnbesiedelten Weiten und Ressourcen luden schon immer Invasoren ein – meist aus dem Westen.
Was mir bei Putin-Sympathisanten auffällt, ist, dass den Russen ein Hinterhof (Osteuropa, Zentralasien, Kaukasien) zugestanden wird, den sie den USA absprechen – und natürlich auch bei US-Begeisterten umgekehrt. Sind die Russen das geringere Übel? Für Polen und Balten sind es klar die USA, denn die sind ja sonst weit weg.
Völlig anders geartete Fälle stellen Belarus und Ukraine dar: Die sind russisches Urland, die Zentralukraine gar die Wiege. Beide ostslawischen Staaten sind also nicht nur geostrategisch relevant, sondern auch emotional. Wir betreten den Bereich historischer Mythen. Ein unlösbarer Konflikt. Ich rate uns Deutschen: Hände weg!
In Zentralasien und Kaukasien ist die Situation momentan entspannter, aber genauso unberechenbar und unlösbar: Die ehemaligen Sowjetrepubliken schwanken zwischen Moskau, Washington und manchmal auch Peking. Die USA mussten dort schon Rückschläge hinnehmen.
P.S.: Welche Vorteile hätte dieses ohnehin schwächelnde Amerika von einem Russland, dass zunehmend in die Arme von China getrieben wird? Brezezinski und andere amerikanische Geostrategen warnten stets vor dem Alptraum einer Achse Berlin-Moskau. Müssen sie nicht jetzt eine weitaus gefährlichere Achse Peking-Moskau-Teheran fürchten, wo die größte Atommacht, unzählige Bodenschätze und technologisches Know-how zusammenkommen?
D.S.: Nein, müssen sie nicht. Die Achse Peking-Moskau ist nur ein fragiles Zweckbündnis auf Zeit, die Antagonismen sind zu groß, oder Moskau gibt sich einfach auf. Russland ist doch schon jetzt der Juniorpartner und Lieferant, beide „Partner“ rivalisieren um Sibirien, Mongolei und Zentralasien. Es existiert immer noch eine russische Urangst vor den Asiaten, das Trauma vom Mongolen- und Tatarenjoch ist längst nicht überwunden. Der blinde Fleck Alexander Dugins und früher Eurasier der 1920er. Es kann sich auch einmal De Gaulles Mahnung ganz schnell realisieren, wonach dereinst auch die Russen begreifen werden, dass sie Weiße sind (weil sie die Kolonialvölker unterstützten). Schon während des Kalten Krieges war ein echter Krieg zwischen China und Sowjetunion wahrscheinlicher. Vielleicht gibt es sogar ein Zweckbündnis Washington-Peking gegen Russland oder Washington-Moskau gegen China. In unseren Tagen ist alles möglich, denn alle stehen mit dem Rücken zur Wand. Keiner hat etwas zu verschenken.
Berlin-Moskau als deutsche Vision ist durch nichts zu ersetzen, beide trotz Versagen erfahrene Reichsvölker, die noch nicht angekommen sind.
Der Iran ist wie die Türkei eine aufstrebende Regionalmacht, aber eben auch nur ein polarisierter, verkrusteter Staat, der sich wie alle aktuellen Staaten neu aufstellen muss.
P.S.: Saudi-Arabien erwägt nun offenkundig künftig Öl gegen Yuan zu verkaufen (siehe z. B. hier diesen Bericht). Das würde das Ende des Dollar-Finanzsystems und damit die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten einläuten. Damit wäre Amerikas wichtigste geopolitische Waffe in Gefahr. Was bedeutet das für die Weltordnung?
D.S.: Kann ich nicht beurteilen.
P.S.: Wie stark ist Amerikas Einfluss heute noch in Europa? Insbesondere in Bezug auf die osteuropäischen Länder. Allen voran Polen?
D.S.: Washington ist wegen seiner Kriegsverbrechen und Folterungen moralisch angeschlagen, seine heuchlerische Geopolitik (z. B. Umgang mit Saudi-Arabien) offenkundig. Die Begeisterung ist gedämpft. In den Staaten des Warschauer Paktes gab es nach 1990 eine Amerika-Begeisterung, das hat sich vollständig erledigt. Bei Tschechen, Rumänen, Kroaten, Slowaken und Bulgaren kann man die Ernüchterung besonders spüren. Die USA stehen für Verdorbenheit. Eine Hinwendung nach Moskau ging damit nicht einher. Polen, Esten und Letten (nicht Litauer) fürchten Amerikas Einflussverlust aus oben genannten Gründen. Aber: Den „American Way of Life“ wollen auch die nicht.
In Deutschland bleibt die US-Besessenheit, wir bleiben ein besetztes Land und sind auch erleichtert, sonst müssten wir selbst denken. Spannend finde ich die Zäsur Trump, das einzig Gute an ihm: Bisher war Washington das Vorbild, der Große Bruder. Das Geschwafel von der „unverbrüchlichen Freundschaft“ mit der Sowjetunion und vom „Siegenlernen“ konnte man auch auf das Verhältnis zur USA übertragen – dem unkritischen Westen war das nur nie bewusst. Mit Trump gelangte eine Art Gorbatschow auf die Bühne, einer, der das gewohnte Narrativ aus den Angeln hob – und genau wie beim sowjetischen Präzedenzfall waren es die treudoofen Deutschen, die sich marxistischer bzw. heute demokratischer gebärden als ihre Meister. Alles weitere Verfallserscheinungen.
Welchen Einfluss Washington immer noch hat, sieht man an der Schweiz, die erstmals ihre Neutralität und ihr Geschäftsmodell im Umgang mit Putin aushebelte. Auch dieses Menetekel bleibt ungewürdigt. Andererseits zeugt Israel von Amerikas Bedeutungsverlust, da sich dieser fragile Staat, der ausschließlich von Washington abhängig ist, als neutraler Vermittler aufdrängt. Israel nimmt natürlich Rücksicht auf seine riesige russischsprachige Minderheit und sucht nach alternativen Verbündeten.
P.S.: Brzezinski oder Barnett (The Pentagon’s New Map: War and Peace in the Twenty-Fist Century) bezeichneten Russland und China als Bestandteil des US-amerikanischen Einflussgebietes. Barnett bezeichnete sie zum „functioning Core“ zugehörig[1]. Haben sich die Herren gehörig geirrt?
D.S.: Nein, nicht geirrt, Russland wie China gehören zum „functioning Core“ und zum globalen System und sind deshalb anfällig für die liberalistische Ideologie. Beides sind ebenso polarisierte Staaten in Fragen Nation, Religion und Werte wie alle anderen auch. Das wird nur durch die autoritäre Regierung verdeckt. Der Liberalismus könnte in beiden Staaten seine Wirkungsmacht entfalten – genauso wie dessen Gegenkräfte.
P.S.: Erwarten Sie den Dritten Weltkrieg? Wenn ja, wie und wo würde dieser geführt werden?
D.S.: Den Weltkrieg sehe ich nicht, da schon die NATO nicht geschlossen gegen Moskau auftritt. Ich sehe auch keine Verbündeten auf russischer Seite, die Chinesen betreiben momentan eine Schaukelpolitik gegenüber Putin und sind nur an einem schwachen Juniorpartner Russland interessiert. Ansonsten verfügt Russland über schwache, geächtete Verbündete, die nur der Antiamerikanismus eint. Das erscheint mir zu wenig. Ich kann mir auch kein solches Szenario vorstellen, Russland kann nicht erobert werden, allenfalls kann Russland Teile Europas besetzen, aber nicht lange halten. An einen Atomschlag glaube ich auch nicht. Ein russisch internes Regimechange ist wahrscheinlicher.
Stattdessen kann es Stellvertreterkriege in Zentralasien, Kaukasien und Baltikum mit seinen großen russischen Minderheiten geben.
P.S.: Der US-amerikanische Geostratege George Friedman sieht Mexiko als aufstrebende Macht auf dem Doppelkontinent. In seinem Buch „The Next 100 Years: A Forecast for the 21st Century“ prognostiziert dieser, dass Mexiko sogar die USA als Vormacht in Amerika ablösen könnte. Er begründet dies u. a. auch mit der ethnischen Zusammensetzung und der Demografie in den USA, wonach eine „Hispanisierung“ auch in der Politik einhergehen wird. Wie schätzen Sie die Lage ein? Werden ausgerechnet Mexiko und Polen – die wohlgemerkt nicht einmal geopolitische Akteure, sondern mehr Dreh- und Angelpunkte sind – die „einzige Weltmacht“ ablösen?
D.S.: Mexiko ist wirtschaftlich und demographisch aufstrebend, aber voller innerer Widersprüche und Spannungen. Mexiko wie Brasilien, Türkei, Vietnam, Indonesien u. a. erstarken vorübergehend, weil die USA und Europa schwächeln, nicht aus eigener Kraft. Eine Scheinblüte. Mexiko kann allenfalls zum Protektor des chaotischen Mittelamerikas werden, haben aber mit sich zu tun. Die Drogenkriege sind nur ein Symptom eigener Spannungen. Die Latinos sind wie oben schon gesagt ein gewichtiger Faktor, aber dennoch überschätzt, weil zu gespalten. Als „fünfte Kolonne“ taugen nur die wenigsten.
Polen steht demographisch ebenso ungünstig da wie ganz Europa: niedrige Geburtenraten, Überalterung und hohe Auswanderung. Das Land ist in Europa weitgehend isoliert, wird von seinen slawischen Brüdern wegen des katholischen Auserwähltheitsgedanken und der Westorientierung als abtrünnig wahrgenommen. Polen spielt in der Visegrád-Gruppe mit Ungarn, der Slowakei und Tschechien die dominierende Rolle, aber diese Allianz hat nur einen symbolischen Charakter, die geopolitischen Antagonismen untereinander sind zu groß und werden gerade im Ukraine-Krieg deutlich: Ungarn und die Slowakei neigen eher zu Moskau, Tschechien neutral und Polen klar pro NATO. Polen findet heute nur in Großbritannien einen Partner.
P.S.: Abschließende Frage. Viele Rechte in Europa betrachten Amerika als liberalkapitalistische Vormacht, die für die alles zerstörende Globalisierung verantwortlich ist. Teilweise werden die USA als das absolute Böse gesehen. Interessanterweise hat sich dies zumindest in Teilen nun auch auf Russland projiziert. Die US-Vormacht scheint nun nicht mehr ganz so unattraktiv zu sein, angesichts der Vorstellung, bald schon zum Einflussgebiet der Post-SU gehören zu können – so zumindest die vage Vorstellung und Furcht einiger Beobachter. Wie kann es gelingen, mit Amerika ein positives Verhältnis aufzubauen, ohne dass es gleich als Hegemonie in Europa fungiert? Ist dies überhaupt möglich? Oder müssen wir uns als Europäer und Deutsche für einen Hegemon entscheiden?
D.S.: Ja, die USA waren für die verheerende Globalisierung verantwortlich. Der selige geschätzte Scholl-Latour bezeichnete die Globalisierung als „Globale Amerikanisierung“. Mit Kennedy setzte sich der emanzipatorische, antitraditionale, multikulturelle Linksliberalismus durch.
Aber auch Russland hat großen Schaden angerichtet, ob als Zarenreich, missionarisches „Arbeiter- und Bauernparadies“ oder heute.
Die rechten Reaktionen sind unverständlich und erbärmlich: Moskau wie Washington werden überschätzt, man übersieht das bloße Reagieren und Verwalten beider, nicht deren prekäre Lage. Am schlimmsten ist für mich, dass sie Europa abgeschrieben haben, anstatt das werdende Machtvakuum zu nutzen. Europa bedarf keines Hegemon, es muss sich selbst bestimmen. Naiv auch der westlichen Propaganda zu glauben, jeder Staat habe das Recht auf Selbstbestimmung: Seit wann gestehen das USA und EU anderen zu, wo doch Nationen sonst etwas Archaisches sind? Es erinnert an die Zerschlagung Jugoslawiens, die Staatentrümmer sammelt man dann gemütlich ein.
Die USA werden ihre heutige Gestalt nicht überleben. Das heißt aber nicht, dass wir es mit 50 neuen Staaten zu tun haben. Bewusstsein und Struktur der Staaten sind einfach zu unterschiedlich stark ausgeprägt. Am wahrscheinlichsten halte ich das Entstehen eines extrem föderalistischen Staates wie Indien mit gemeinsamer Außen-, Verteidigungs-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik. Diese neuen Vereinigten Staaten bestehen aus einem riesigen multirassischen Gebilde und einigen Bundesstaaten auf rassischer wie territorialer Grundlage oder üben ein Souveränitätsverhältnis zu diesen aus. Solche kleineren Staaten können ein schwarzrassischer Staat im Süden sein, in dem nur ein Bruchteil aller Schwarzer lebt. Ein entsprechender hispanischer und einige weiße im Mittleren Westen und Nordwesten, außerdem sind Texas, Kalifornien, Florida, Hawaii und Alaska denkbar. Den riesigen Rest kann man in seiner Struktur mit dem heutigen Russland vergleichen. Da ich nicht an Kanada als Staatsidee glaube – neben Neuseeland die ersten anationalen Staaten –, erwarte ich die Vereinigung Kanadas mit den neuen Vereinigten Staaten Nordamerikas.
Ein auf sich beschränktes Nordamerika stellt keine Gefahr für Europa dar, eher eine Ergänzung. Allerdings müssten sich Staatsethos und Gründungsmythos ändern, was durch die Geburtswehen des Neuen gegeben wäre.
P.S.: Ich bedanke mich für das Gespräch.
[1] Barnett entwickelte die neue militärische sowie geopolitische Strategie der USA, in der es darum geht die Globalisierung ins Gleichgewicht zu bringen. Der einflussreiche Geostratege plädiert dafür die Globalisierung zu forcieren und die USA als Leviathan an die Spitze des Weltgeschehens zu setzen. Neben diesem soll es Systemadministratoren geben, die als verlängerter Brückenkopf des Leviathans dienen. In der New Map des Pentagons gäbe es demnach einen Core, der die im Westen integrierten Entitäten umfasst (Nord-Amerika, Europa, Japan und Australien als alter Kern und China, Indien, Russland, Südafrika sowie Brasilien, Argentinien und Chile als neuer Kern) und eine „unfunctioned gap“, eine Lücke von Regionen (Mittlerer Osten, Süd- und Südostasien außer Indien, Restafrika und der Nordwesten Süd-Amerikas), die aufgrund der Tatsache, dass die USA einen unzureichenden Zugriff auf sie hat, von Terror, Gewalt und Brandherden gezeichnet sind. Ziel müsse die Integration aller Gap-Countries in den Core sein. (Anm. d. Red.)