Bauern werden zu Europäern

by | 05. Mar. 2021 | Philosophie & Theorie

Der folgende Text wurde von Cristián Barros verfasst und von Alexander Markovics vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Barros lehrt an der University of Development in Chile und der Nagaoka University of Technology in Japan. Er ist Autor von sechs Büchern und Umweltaktivist in Patagonien. Markovics ist Historiker sowie Generalsekretär und Pressesprecher des Suworow-Instituts. Des Weiteren hat er zahlreiche Aufsätze verfasst sowie zwei Bücher veröffentlicht. Sein letztes Buch kam 2020 unter dem Titel „Der Aufstieg der Neuen Rechten“ im Arcadi Verlag raus (submitted erhältlich). Markovics ist regelmäßiger Autor bei Gegenstrom und referierte in der Vergangenheit auf Seminaren von MetaPol Verlag & Medien.

Das Konzept der Nationalität besitzt eine paradoxe Genealogie. Zuerst wurde es durch den Westfälischen Frieden ausgebrütet (und seinen Kohorten von Gebildeten mit antiquierten Verbeugungen vor den Galliern, Etruskern oder Teutonen), dann durch die Zentralisierung der Jakobiner kooptiert und zuletzt durch Napoleon als Speerspitze gegen das traditionelle Europa ins Feld geführt. Daher besitzt die Nationalität einen ausgesprochen bürgerlichen Stammbaum, der aus den Geburtswehen der Revolution und des Krieges emporgewachsen ist. Zugegebenermaßen war die adelige Reaktion darauf ursprünglich sowohl kosmopolitisch als auch pragmatisch: Sie beschwor dabei sowohl Loyalitäten zu Dynastien als auch zu Kurtisanen und leistete einen opportunistischen Treueschwur zum Christentum als paternalistische Alternative gegenüber der erbitterten Moderne. Sie zermarterte sich still den Kopf und brachte schließlich einige Erben als Ernte hervor. Inzwischen rief der napoleonische Sturm durch Deutschland einen romantischen Widerstand hervor und zwang die Deutschen dazu, die Gefühle des nationalistischen Élans jenseits des Rheins nachzuahmen.

Diese Spiegelung erwies sich als so erfolgreich, dass das von Preußen geführte Deutschland, vom in voller Blüte stehenden Zollverein ermutigt, seine sorgengeplagten Nachbarn 1871 abermals mit dem Nationalismus infizierte. Diese ungewollte Ansteckung gebar einen neuen Nationalismus im besiegten Frankreich: Ein seltener Verschnitt aus royalistischer Nostalgie und Sozialdarwinismus, der durch plebejische, autoritäre und irredentistische Eigenschaften gekennzeichnet war. Natürlich wurde dieser politische Nativismus von den urbanen Intellektuellen und Pamphleteschreibern betrieben, Barrès zählte zu ihren einflussreichsten und am meisten berüchtigten Vertretern. Der durch die Niederlage bei Sedan provozierte Geist der Revanche trug zum Pariser Vorstoß zur Umerziehung der Bauern bei. In der Tat wurden sehr bald obskure, primitive Bauern aus Navarra und der Bretagne indoktriniert und überredet, durch die Schule und die Armee, die Sitten der Metropole zu übernehmen.

Der jiddische Linguist Max Weinrich merkte einst humorvoll an: „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine.“ Dieser Scherz bietet uns Einsicht in eine komplexe Thematik. Gewissermaßen sind Nationen kleine Städte mit größerer Infrastruktur und Territorium, welche das Gewaltmonopol mit ihren Gesetzen durchsetzen. Es entbehrt einer gewissen Ironie, dass gerade die Europäische Union, die gegenwärtig auseinanderbricht und einen politischen Zickzackkurs fährt, dem Pfad vorhergehender „nation-building“ Programme folgte. Die Europäer müssen sich den selben Zerreißproben stellen und dieselben Mythen wie die „Nation Builder“ der Vergangenheit verwenden. Sie müssen ihre eigene, weit zurückreichende Legitimation erfinden – die vermeintlich bis zur Aufklärung und Kants Immerwährenden Frieden zurückgeht – und ebenso eine Erwartung säkularer Erlösung durch die bürgerliche Partnerschaft formulieren. Daher bemüht jeder Europäismus seine eigenen „erfundenen Traditionen“ und „ausgedachten Gemeinschaften“ (Benedikt Anderson) – diese werden allesamt in nicht-existenten Brücken und monumentalen Toren ausgedrückt, die die Eurobanknoten zieren. Diese imaginäre Architektur mag wie eine unheimliche Hommage an Calvinos‘ unsichtbare Städte erscheinen, obwohl ihre echte Inspiration der profanere Robert Mundell ist, der eigentliche Architekt des europäischen Währungsregimes und eingefleischter Prophet der Reaganonomics.

Dem Allgemeinwissen widersprechend ist der Euro nicht gescheitert – zumindest nicht nach dem ursprünglichen Plan von Mundell. Eigentlich zielte Mundells‘ Schöpfung darauf ab, den Lohn der Arbeiter unten zu halten und eine Seigniorage für die Hochfinanz abzuwerfen. Eine harte Währung von apolitischen Banken bewahrt verhindert keynesianisches „Helikoptergeld“, also wird die Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnreduktion zum einzigen Anpassungshebel. Davon abgesehen ist die Hartwährung typischerweise die Theologie der Kreditgeber und Rentiers, den letzten Unterstützern des Euroregimes. Nichts davon ist wirklich eine Offenbarung. Auf ihm eigentümliche Weise hat das Finanzkapital die Europäische Union intensiv vorbereitet und ließ bei ihrer Entstehung einen verkümmerten Wohlfahrtsstaat und die Vorstellung von einer wiedergewonnenen Engstirnigkeit zurück.

Interessanterweise nehmen unsere Europäisten ihre schamlose Rolle als neue Mandarine und Ideologen an, und bekennen dabei ein mystifizierendes Vertrauen in den Euro. Ihnen zufolge übersteigt der Euro seine bloße Funktion als „Zahlungsmittel mit geringen Transaktionskosten“ – eine durchsichtige Rechtfertigung aus dem Lehrbuch. In der Realität ist es so wie Habermas und andere behaupten, nämlich, dass der Euro im Grunde eine Art „raffinierte“ Form irgendeiner hegelianischen Vernunft in der Wirtschaft ist, die sich hin zu einer liberalen Gleichschaltung Europas bewegt. Der Euro ist daher keineswegs ein legales Angebot für ein suboptimales Währungsgebiet bereitgestellt, um den Wohlstand zwischen seinen Mitgliedern gleicher Nationalstaaten zu gewährleisten. Vielmehr ist er die gütige Entelechie die den Weg frei macht für eine neue politische Totalität, eine Art Meta-Europa, welche idealer Weise ihre eigenen Grenzen überschreitet und wenn überhaupt irgendetwas, dann eine Weltbürgerschaft miteinschließt.

Für jene die sich dem Echo der Geschichte zuwenden hört sich das nach gepriesenen These des Doux-Handels während des XVIII. Jahrhunderts an. Erinnern wir uns daran, dass diese liberale Fürsprache im britisch-französischen Freihandelsabkommen von 1786 endete, wohl einer Voraussetzung für den folgenden revolutionären Aufstand – der in weiterer Folge die erste Ausgabe von (katastrophal inflationärem) Fiatgeld zur Folge hatte, den berüchtigten Assignaten… Daraufhin brachte die Revolution jedem den sofortigen Tod der die frisch gedruckten Banknoten verweigerte. Folglich besteht eine enge historische Verbindung zwischen den modernen Nationen und dem Papiergeld. Beide sind entschieden vom Vertrauen der Menschen und ihrer Verlässlichkeit abhängig. Andererseits schreit die Öffentliche Meinung nach einem passenden Propaganda-Apparat – daher rührt die Notwendigkeit professioneller Schwindler und Experten, von Delors bis Derrida, die das Vulgäre verbreiten und die Widerwilligen züchtigen. Dann wiederum beginnen die Europäisten wieder zu schimpfen und rekapitulieren auf komische Art den jakobinischen Protest gegen die aufmüpfigen Provinzler. Schauen wir uns zum Beispiel den Bürger Barère an, Vorzeigekandidat nationalistischer Tugenden während des Großen Terrors, der voller Inbrunst die Dialekte und Idiosynkrasien des peripheren Frankreichs anklagte, um sie zum Wohle aller zu verbieten, diese Initiative schritt nach dem Bauernaufstand in der Vendée noch stärker voran.

Die Vereinheitlichung der Schul- und Arbeitsbedingungen, ebenso wie der Maße und Gewichte, folgte auf dem Fuß. Von daher kam der Aufstieg des rationalen Inlandmarktes. Wie immer fehlt es der Elfenbeinturmintelligenz an ausreichender Geduld, wenn es um die Disziplinierung des Tölpels geht, dem Kanonenfutter jeder Modernisierung. Das Kapital gleicht, der Revolution nicht unähnlich, dem Gott Saturn der seine eigenen Kinder frisst: Die Basken und Bretonen von damals ähneln den Ungarn und Polen, die grießgrämig in den letzten toten Wassern des Nationalstaates planschen, den vergessbaren Errungenschaften des alten Liberalismus von 1848. Im XXI. Jahrhundert gibt der Neoliberalismus vor einen frischen, makellosen Leviathan zu konstruieren. Dabei handelt es sich um einen jungfräulichen, europäischen Nationalstaat, der nur vom Licht des Kapitals angeleitet wird. So ein Unterfangen verlangt, so nimmt man an, nach einem selektiven Vergessen übrig gebliebener Souveränität.

Die Vorgeschichte ergibt Sinn. Frühere Pläne um den Kontinent in eine einzige Kulturnation zu verwandeln, drückten oft überdeutlich die Absicht aus Europas imperiale Unternehmungen über seine Grenzen hinaus auszudehnen, um so interne Kriege und Erschöpfung zu vermeiden. Offensichtlich weckte das „Schützengrabentrauma“ die Angst davor, dass sich ein erneutes sich gegenseitiges Abschlachten zwischen zivilisierten christlichen Staaten abspielen könnte. (Dieser Einfluss überschnitt sich auch mit dem Zusammenbruch des Goldstandards, der Autarkievorhaben und protektionistische Blöcke ins Leben rief, vom Britischen Commonwealth bis hin zu Stalins „Sozialismus in einem Land“.) Zu niemandes Überraschung verschwand das Suchen nach kolonialer Rendite niemals von der Agenda der Europäisten: Schauen wir uns nur den Humanisten im Jazz-Zeitalter, Coudenhove-Kalergi an, einen frühen Missionar der paneuropäischen Idee, der unablässig dafür eintrat Afrika auszubeuten um seinen aufgeklärten Herren besser zu dienen.

Wie es öfters vorkommt hatte auch der Marxismus eine bestimmte Art von Chauvinismus kultiviert, der von den theoretischen Fauxpas betreffend die sogenannten nicht-historischen Nationen verkörpert wurde. „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.“ – aber warum sollte es das? Der Beweis macht sicher, dass sich Währungsunionen vielleicht, vielleicht aber auch nicht als ein zuverlässiger Klebstoff für diese widerspenstigen, ungleichmäßigen Provinzen erweisen können. Oftmals ist das Ergebnis eher irrelevant – oder sogar kontraproduktiv. Nehmen wir zum Beispiel die Lateinische Währungsunion, ein festgelegtes Wechselsystem welches italienische und spanische Münzen an den Franc von Napoleon III. band.

Der Handel innerhalb der LMU-Zone gedieh immer mittelmäßig. Als Anekdote bleibt zu erwähnen, dass die Schatzkammer des Vatikans letztlich den Silberanteil der gemeinsamen Münze herabsetzen musste. Das selbe galt für die Monetäre Union Skandinaviens, welche den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht überlebte. Und weder die Lateiner noch die Nordmänner machten es sich kuscheliger oder wurden durch diese vergeblichen Übungen brüderlicher zueinander. Jedoch handelt es sich um eine sehr sterile, langweilige Aufgabe eine Zentralbank in ein Volksheim zu verwandeln. Jetzt begegnen wir dem Populismus, dem neuen Gespenst das Europa heimsucht. Interessanterweise erfuhr der Populismus seine soziologische Taufe während der Bimetall-Kontroverse im Amerika der 1890er Jahre, als das Landvolk unter dem Würgegriff der Ostküstenbanker litt. Letztere verteidigten das deflationäre Gold gegen das inflationäre Silber, welches die Erntepreise begünstigte und Schulden bereinigte, die für die Bauern zu einer erdrückenden Last geworden waren.

Der kitschige, aber gute Zauberer von Oz bezeugt den Geist des ländlichen Amerikas vor über 100 Jahren. Die kleine Heldin der Fabel, die von Wirbelstürmen hingerissene und silberne Schuhe tragende Dorothy, versammelte um sich herum eine Vogelscheuche (die Bauern), einen Blechmann (Industriearbeiter) und einen scheuen Löwen (demokratische Führer) um die böse Hexe (die Monopole) zu bekämpfen. Im Gegensatz dazu trat die konventionelle Soziologie (Hofstadter, Gellner, Shils, Lipset Lippmann) immer für eine hochnäsige Feindseligkeit gegenüber diesen agrarischen Aufwieglern und Unzufriedenen ein, damit ihr akademisches Bildnis eher düster und wenig schmeichelhaft aussah. Der „Strohmann“ des Populismus ist immer feindselig, archaisch, gesellig, melodramatisch, paranoid, xenophob, antisemitisch und zu einem Völkermord aufgelegt. Dennoch betrügt diese Sicht die eigene Furcht der Intellektuellen vor der Politik als etwas Unmittelbarem – Demokratie als Entscheidungsfindung der Mehrheit.

Seit langer Zeit versteckt sich der Populismus im soziologischen Diskurs als Malapropismus. Um sich bei der Sprache Freuds zu bedienen, ist der Populismus das spukende Es des politischen Lebens: eine zombiehafte Figur die sich nur als das Symptom einer sozialen Dysfunktion zeigt. In der Praxis personifiziert er die eigentliche Rückkehr der Unterdrückten. Es ist kaum noch erwähnenswert, dass die hayeksche Austerität und die Einwanderung als Eugenik die gegenwärtige populistische Gegenreaktion in der Eurozone provoziert haben. Einige wenige Autoren – wie Furedi, Streeck und Krastev haben über dieses Problem des Tages mit genug Empathie und Luzidität gebrütet. Verstehen es die gewöhnlichen Leute immer falsch? Oder haben sie einen vernünftigen Einspruch zu erheben? Im Gegensatz zu weiseren Stimmen hören wir aus dem Chor der Europäisten nur das immerwährende Mantra von der reductio ad Hitlerum. Sie klagt das Gesindel dafür an sich des obsoleten Nationalismus der Kleinen zu bemächtigen, anstatt den aufsteigenden Nationalismus der Großen, namentlich des technokratischen Europas willkommen zu heißen.

Der umerzogene Bauer bringt den Bürger des Nationalstaates hervor, der wiederum umerzogen werden muss, um den entnationalisierten Bürger zu gebären, den der zukünftige Kapitalismus fordert. Diese halluzinatorische Schleife hatte vor kurzem einen Kurzschluss und am politischen Horizont tauchte bislang keine problemlose Abmachung zur Lösung dieses Problems auf.