{"id":9816,"date":"2023-12-12T09:46:20","date_gmt":"2023-12-12T08:46:20","guid":{"rendered":"https:\/\/gegenstrom.org\/?p=9816"},"modified":"2023-12-12T09:46:20","modified_gmt":"2023-12-12T08:46:20","slug":"die-postmoderne-kriegsfuehrung-sieht-alt-aus","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/gegenstrom.org\/en\/die-postmoderne-kriegsfuehrung-sieht-alt-aus\/","title":{"rendered":"Die Postmoderne Kriegsf\u00fchrung sieht alt aus"},"content":{"rendered":"
Der folgende Text stammt von Marco Malaguti und wurde bereits in der AGORA EUROPA 4<\/strong> ver\u00f6ffentlicht. Hierbei handelt es sich jedoch, anders als in der AGORA, <\/strong>um die \u00dcbersetzung von Franz-Michael Kilter. Zwar liegt der eingangs angesprochene erste Einsatz der SS-N-33 Zirkon – Rakete nun schon etwas in der Vergangenheit, das Thema hat jedoch nichts an Brisanz verloren. Viel mehr soll es an dieser Stelle nochmals aufgegriffen werden, da der Krieg im Osten weiter tobt, w\u00e4hrend der mediale Fokus den Konflikt im Gazastreifen liegt.\u00a0<\/em><\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift erreichten mich die Nachrichten \u00fcber den erfolgreichen Einsatz der neuen russischen SS-N-33 Zirkon- Rakete. Als Kronjuwel der russischen Milit\u00e4rtechnologie bekannt und gerade aus dem Arsenal der F\u00f6deration entlassen, startete sie von der Fregatte Admiral Gorschkow,<\/em> um mehrere Tests im Nordatlantischen Ozean abzuschlie\u00dfen, wobei es ihr gelang, \u00fcber 900 Kilometer entfernte Ziele erfolgreich zu bek\u00e4mpfen. Haupts\u00e4chlich als Seezielflugk\u00f6rper konzipiert und entwickelt, sorgt sie aktuell mit ihrem Flug \u00fcber dem ukrainischen Schlachtfeld f\u00fcr Schlagzeilen und steht damit auch symbolisch f\u00fcr die den aktuellen Bed\u00fcrfnissen angepasste taktische Neuorientierung der Russen \u2013 doch nicht nur das: In einem klassischen Landkriegszenario bei der Operation gegen Bodentruppen der Ukrainischen Streitkr\u00e4fte musste sich der eigentlich zur Brechung der maritimen angloamerikanischen Seevormachtsstellung konstruierte Flugk\u00f6rper zweckentfremdet bew\u00e4hren. Dieser Bruch, eine so fortschrittliche, den vermeintlichen Bed\u00fcrfnissen postmoderner Kriegsf\u00fchrung angepasste Waffe auf dem \u201eeinfachen Schlachtfeld\u201c wiederzufinden, veranschaulicht gut den Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit:\u00a0 Die Zirkon erlebt ihre Feuertaufe in einem Krieg, der weithin Assoziationen mit seinen Vorg\u00e4ngern aus dem zwanzigsten Jahrhundert weckt. Der Kontext ihres Einsatzes besteht aus dem Wirrwarr sich durch die Landschaft schl\u00e4ngelnder Gr\u00e4ben; dem Duell gepanzerter Fahrzeuge und verlustreicher H\u00e4userk\u00e4mpfe \u2013 etwas, was so v\u00f6llig entgegen ihrer eigentlichen Konzeption steht. Der Ukrainekrieg bringt all die Bilder und Empfindungen eines als l\u00e4ngst \u00fcberlebt geglaubten Zeitalters ins Ged\u00e4chtnis zur\u00fcck und dies nach Dekaden asymmetrischer Konflikte, die der Westen gegen die zerlumpten K\u00e4mpfer der Zweiten oder Dritten Welt bestritt. Wer h\u00e4tte sich vor zwei Jahrzehnten noch vorstellen k\u00f6nnen, dass die Zukunft wieder aus Sch\u00fctzengr\u00e4ben und dem Einbestellen von Heeren aus Wehrpflichtigen bestehen w\u00fcrde? Und doch ist dies die Realit\u00e4t, in der wir leben m\u00fcssen. Ist es uns anhand der Grundlage der aktuellen Ereignisse \u00fcberhaupt noch m\u00f6glich, die Kriegsf\u00fchrung der Zukunft zu ersinnen? Es ist, vorausgesetzt wir beziehen die beobachtete extreme Wandlungsf\u00e4higkeit, die selbst vor den gr\u00f6\u00dften \u00dcberraschungen nicht zur\u00fcckzuschrecken scheint, in unsere Rechnung mit ein.<\/p>\n Wie bereits eingangs beschrieben, f\u00fchrt der Ukrainekrieg alle Behauptungen ad absurdum, Kriege der Zukunft k\u00f6nnten so gut wie vollst\u00e4ndig an Roboter bzw. unbemannte Fahrzeuge und den IT-Sektor ausgelagert werden. Daraus resultiert, dass k\u00fcnftige Begegnungen auf dem Schlachtfeld nicht allein von kybernetischen Organismen, sprich in Vertretung der Menschen, nun von Maschinen ausgefochten werden, sondern zu einer komplexen Gemengelage werden. Man kann dies indes auch als Weiterentwicklung des Konzeptes des \u201etotalen Krieges\u201c bezeichnen, welches ohne seinen Ursprung zu verlassen, weiterhin an Land, in der Luft und auf der See seine Anwendung findet. Dies geschieht in \u00e4hnlicher Weise, wie der \u201etotale Krieg\u201c im 20. Jahrhundert alle Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens eines Landes beanspruchte, aber in radikal anderer Form: Das eigentliche Bombardement wird online flankiert von aggressiven Cyberattacken (z.B. auf die Infrastruktur)\u00a0 und Methoden zur Meinungsbeeinflussung und Stimmungsmache (Propaganda, Gegenpropaganda, Faktenchecker, etc.) , in welche auch neutrale Staaten miteinbezogen und zu einem Schauplatz des sparten\u00fcbergreifenden Konfliktes werden. Das Hineinplatzen des kybernetischen Sektors in die klassische Kriegsf\u00fchrung, im Einzelnen vielleicht als st\u00f6rend und herausfordernd empfunden, verl\u00e4sst jedoch nicht deren Regularien, sondern findet in ihnen vielmehr seine Integration. Die Logistik der Armeen von morgen wird sich nicht l\u00e4nger auf die Koordinierung und Versorgung der Bodentruppen beschr\u00e4nken, sondern muss diese auch in Einklang mit den intensiven Aktivit\u00e4ten der Cyberkriegsf\u00fchrung bringen, die in zuk\u00fcnftigen Konflikten ihre Forderung stellen.<\/p>\n Waffen, wie die bereits erw\u00e4hnte Zirkon (und ihre westlichen \u00c4quivalente),\u00a0 r\u00fctteln zunehmend an dem im Zweiten Weltkrieg etablierten Grundsatz, dass jener Partei der Sieg zufalle, die sich im Besitz der Lufthoheit befinde und dies nicht nur, weil es V\u00f6lker (wie in Afghanistan und Vietnam) gibt, die bereit sind, den sich aus diesem Nachteil ergebenen Preis zu zahlen, sondern durch den Fortschritt auf dem Gebiet der Raketentechnologie. Paradoxerweise f\u00fchrt eben dieser genannte Umstand, der in der Lage ist, jedes hochmoderne Kampfflugzeug zu gef\u00e4hrden, dazu, dass gro\u00dfe Man\u00f6ver von Bodentruppen und gepanzerten Fahrzeugen wieder an Bedeutung gewinnen. Die enge Zusammenarbeit zwischen Raketen (Kalibr, Zirkon und Kinschal im Falle Russlands – HIMARS f\u00fcr die Ukraine) und Truppen am Boden hat die Rolle der Luftfahrt auf eine fast zweitrangige Ebene verwiesen. Etwas Undenkbares in der zweiten H\u00e4lfte des 20. Jahrhunderts, aber paradoxerweise die Rolle typischer Paradigmen der ersten wiederbelebt: die Bedeutung der Anzahl der besch\u00e4ftigten M\u00e4nner, die Qualit\u00e4t der gepanzerten Fahrzeuge, die gute Organisation der Logistikketten und vieles mehr. Das Wiederauftauchen dieser Paradigmen, von denen wir glaubten, dass sie in alten Milit\u00e4rgeschichtsb\u00fccher ihre Verbannung fanden, trifft sowohl westliche als auch russische als auch neutrale Experten unvorbereitet und das mit Implikationen, die selbst in den Zivilgesellschaften, in denen der Mythos einer sich zunehmend entmilitarisierenden Gesellschaft und den Bellizismus verdr\u00e4ngenden Geisteshaltungen bisher fortlebte, mit schwersten Auswirkungen.<\/p>\n In diesem Sinne verdr\u00e4ngt das Wiederaufleben der Bedeutung des einzelnen Soldaten die Technologie nicht ins v\u00f6llige Abseits; vielmehr ruft es nach einer Koordination und Waffenbruderschaft, die sowohl die Technik als auch das Individuum integriert. Damit er\u00f6ffnen sich auch M\u00f6glichkeiten, die man vorher nur dem Bereich der Science-Fiction zurechnete. Exoskelette und hochgradig computerisierte Anz\u00fcge sind bereits Realit\u00e4t (zum Vergleich: das russische Panzerungssystem Ratnik-3), aber die milit\u00e4rische Forschung ist selbst dar\u00fcber schon weit hinausgegangen. In allen drei gro\u00dfen Milit\u00e4rm\u00e4chten des Globus befassen sich die milit\u00e4rischen Forschungseinrichtungen mit der Verbindung der k\u00fcnstlichen Intelligenz und des menschlichen K\u00f6rpers. So effizient die derzeit von den Streitkr\u00e4ften der Welt eingesetzten KIs im Kontext klar definierter Operationen auch sind, im Kontext der Reaktionsflexibilit\u00e4t angesichts unvorhergesehener Situationen ist ihre Leistung weiterhin mangelhaft und nicht ansatzweise dazu geeignet, den Menschen auf diesem Feld zu ersetzen.<\/p>\n Um diese L\u00fccke zu schlie\u00dfen, arbeiten viele Labore, von denen, wie wir im Falle der franz\u00f6sischen Streitkr\u00e4fte auch wissen, einige in Europa angesiedelt sind, an Projekten wie bionischen Implantaten oder Augmented Reality<\/em> als Ausr\u00fcstung f\u00fcr den Soldaten.<\/p>\n Nat\u00fcrlich sind wir selbstredend noch weit entfernt von den kybernetischen Organismen (Cyborgs) und der Science-Fiction, dies sollte jedoch nicht dar\u00fcber hinwegt\u00e4uschen, dass die Ziele gesetzt und die Forschung viel weiter reicht als gemeinhin in der \u00d6ffentlichkeit eingestanden wird.<\/p>\n Angesichts der Vielzahl an Innovationen, derer wir uns konfrontiert sehen, ist es legitim zu fragen, ob die Kriegsf\u00fchrung in den 1940er Jahren wirklich total war oder ob wir erst jetzt die \u00c4ra der totalen Konflikte, die nicht mehr nur Nationen sondern selbst das Individuum und seinen K\u00f6rper inkludieren, betreten. Doch wenn der Krieg damit beginnt, in die Sph\u00e4re des Mikrokosmos des menschlichen K\u00f6rpers einzutreten, so wird er sicher auch keinen Halt vor dem Makrokosmos, dem Weltall, ja dem Universum machen. Sowohl die Geschichte des Films als auch die Geschichte im Allgemeinen hat uns mit mehreren Entw\u00fcrfen zur Evolution der Kriegstechnologie bis hin zum Interstellaren, von denen wohl die \u201eSternenkriegstheorie\u201c \u2013 obwohl niemals praktiziert – des ehemaligen amerikanischen Pr\u00e4sidenten Ronald Reagon am bekanntesten ist. Und auch hier setzte man trotz des Falles des Eisernen Vorhanges und eines\u00a0 vermeintlichen \u201eEnde(s) der Geschichte\u201c die Forschung fort. Wie bekannt wurde, haben die Vereinigten Staaten 2019 daf\u00fcr extra eine spontane Eingreiftruppe USSF (United States Space Forces)\u00a0 mit Hauptquartier auf der Peterson Space Force Base in Colorado Springs aufgestellt.<\/p>\n Die USSF, die \u00fcbrigens eine wichtige Rolle bei der \u00dcbermittlung sensibler Daten wie zum Beispiel russischer Truppenbewegungen an die Streitkr\u00e4fte der Ukraine spielt, betreibt, soweit bekannt ist, rund einhundert Satelliten, die wie sich herausstellte, gut mit dem privaten Satellitennetzwerk \u201eStarlink\u201c eines Elon Musk kooperieren. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass andere L\u00e4nder an Gegenma\u00dfnahmen arbeiten, so wie beispielsweise Russland, welches mit dem \u201eS-500 Prometheus\u201c \u2013 Raketenabwehrsystems nun die M\u00f6glichkeit besitzt, neben Objekten der Luftfahrt auch Ziele in der niederen Erdumlaufbahn (wie eben Milit\u00e4rsatelliten) zu treffen. Auch hier sind wir noch weit entfernt von den Raumschiffduellen, die sich ein George Lucas ersann, aber der Weg ist bereitet und der Schl\u00fcssel wieder einmal das Zusammenspiel k\u00fcnstlicher Intelligenz und Digitaltechnologie, wie es sich in dem 2006 f\u00fcr die USA in den Dienst gestellten unbemannten Raumgleiters Boing X-37, der im \u00dcbrigen anf\u00e4llig f\u00fcr den Beschuss der \u201ePrometheus\u201c ist , manifestiert.<\/p>\n Eine derartige Bandbreite an Ver\u00e4nderungen, die, \u00fcber den normalen Fortschritt im milit\u00e4rischen Sektor von gepanzerten Fahrzeugen bis hin zu gro\u00dfen Flugzeugtr\u00e4gern hinausgeht, betrifft, wie bereits erw\u00e4hnt, alle Facetten der menschlichen Existenz und geht sogar so weit, seine Natur ver\u00e4ndern zu k\u00f6nnen. In diesem Szenario wird der Krieg nicht nur durch die schiere Anzahl an durch ihn ber\u00fchrten Bereichen dom\u00e4nen\u00fcberwindend, er wird auch zu einem permanenten ontologischen Zustand. Die Grenze zwischen Krieg und Frieden verengt sich daher am Ende zu einem Konfliktzustand, der st\u00e4ndig zwischen hei\u00dfen Phasen (Krieg, wie wir ihn kennen, wie der in der heutigen Ukraine) und kalten Phasen (mit auf die IT-Sph\u00e4re beschr\u00e4nkten Angriffen und Psy-Ops) schwankt, aber nichtsdestotrotz niemals aufh\u00f6rt, zu bestehen. Nat\u00fcrlich sind die dadurch entstandenen gesellschaftlichen Implikationen enorm und f\u00fchren das Thema immer neuer explodierender Konfliktherde mit dem des immer weiter angewandten Paradigmas des permanenten Ausnahmezustands, mit seinem Apparat an Sonder- und Notstandsgesetzen, zusammen. Letztendlich wird der Krieg im Zeitalter des sich verfl\u00fcssigenden Kapitalismus und sich verfl\u00fcssigender Gesellschaften einen neuen Wurzelstock bilden und mit den gegenw\u00e4rtigen Machtstrukturen verschmelzen, um in einer Art Karikatur fr\u00fcherer primitiver Gesellschaftsformen sein Dasein zu finden. Wie viel Raum in solch einer Modellrechnung noch f\u00fcr den Menschen ist, bleibt das R\u00e4tsel, das sich all jene stellen m\u00fcssen, die in das Studium dieser Problematik eintauchen.<\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>\n <\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":" Der folgende Text stammt von Marco Malaguti und wurde bereits in der AGORA EUROPA 4 ver\u00f6ffentlicht. Hierbei handelt es sich jedoch, anders als in der AGORA, um die \u00dcbersetzung von Franz-Michael Kilter. 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(Sparten)Dom\u00e4nen\u00fcbergreifende Konflikte<\/h3>\n
Krise der alten Paradigmen<\/h3>\n
Transhumanismus auf dem Schlachtfeld<\/h3>\n
Vom Mikrokosmos in den Makrokosmos<\/h3>\n
Der Totale Krieg als Schicksal<\/h3>\n